Der Abriss des Roten Klosters

Der Titel dieses Features ist geborgt: von einer Podiumsdiskussion zum Ende der Leipziger Sektion Journalistik, die hier neben Zeitzeugenaussagen, einem Ost-West-Seminar von 1990, einer Bilanz von Karl-Heinz Röhr und einer Chronologie der Wendezeit dokumentiert wird.


Dieses Feature schließt an zwei Materialsammlungen an, die sich mit der Journalistenausbildung in der DDR der 1950er Jahre (Meyen 2017) sowie mit den Biografien von Professoren beschäftigen, die in Leipzig später Journalistik gelehrt haben (Meyen 2015). Wie in diesen ersten beiden Features zur Entwicklung des Fachs in Ostdeutschland zwischen 1945 und 1990 heißt das vornehmste Ziel auch diesmal Dokumentation. Kein Zweifel: Auf BLexKom wird schon durch Themensetzung, Personenauswahl und Perspektiven auch Fachgeschichte geschrieben. Zumindest aus Sicht der Herausgeber ist es aber wichtiger, die Voraussetzungen für historische Forschung zur Entwicklung der Kommunikationswissenschaft zu verbessern. Dazu gehört, Stimmen und Papiere öffentlich zugänglich zu machen, die sonst schwer auffindbar sind und möglicherweise eines Tages ganz verschwinden.

Leipziger Journalistikstudenten in den 1950er Jahren (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Den Anlass für dieses Feature hat das Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaft geliefert. Passend zur Logik der öffentlichen Erinnerungskultur, die auf runde Jubiläen fixiert ist, war die dritte Jahrestagung des Netzwerks im November 2019 in Leipzig dem Thema „Transformation der Medien – Medien der Transformation“ gewidmet. Zum Programm gehörte eine öffentliche Podiumsdiskussion im Zeitgeschichtlichen Forum, bei der es am Abend des 21. November um die Transformation des institutionellen Rahmens ging, in dem sich die akademische Medien- und Journalismusforschung an der Leipziger Universität bewegt – von der Sektion Journalistik in der DDR zum Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft, gegründet 1993. Auf dem Podium saßen Hans Poerschke, Michael Haller, Horst Pöttker und Heike Schüler, die 1989 als Studentin aus Potsdam nach Leipzig kam und heute als TV-Journalistin arbeitet. Im Netz gibt es ein Video von der Veranstaltung. Wer nicht so viel Zeit hat oder eine Suchfunktion nutzen möchte, findet in diesem Feature ein redigiertes Transkript.

Hermann Duncker (2. von links) im Herbst 1952 zu Gast im Roten Kloster. Links: Klaus Raddatz (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Das Podium selbst und die Reaktionen (sowohl im Vorfeld als auch danach) haben mich ermutigt, dieses Dokument durch eine Reihe von Texten zu ergänzen, die das vertiefen und differenzieren, was im Zeitgeschichtlichen Forum gesagt wurde. Der Abend in Leipzig war für mich mit zwei Erkenntnissen verbunden. Erstens ist sehr früh deutlich geworden, dass die Vergangenheit nach wie vor umkämpft ist. Dazu gehören die teilweise hitzigen Wortmeldungen aus dem Saal, die für einen Moment an die Stimmung erinnerten, die 1989/90 in der Stadt herrschte, und die Debatten um Titel und Untertitel der Veranstaltung („Der Abriss des Roten Klosters. Wie die Journalistenausbildung in Leipzig verwestlicht wurde“) sowie um die Besetzung des Podiums. Sowohl im Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaft als auch beim Gastgeber des Abends gab es zumindest Nachfragen zu den beiden Begriffen „Abriss“ und „Verwestlichung“. Karl Friedrich Reimers, der im April 1991 als Gründungsdekan nach Leipzig kam, hat wenige Tage vor der Veranstaltung ein Interview mit sich führen lassen und so breit wie möglich gestreut, in dem er „Verwestlichung“ als Vorwurf interpretiert, von einem „Amoklauf durch semantische Un-Tiefen“ spricht und den Veranstaltern indirekt vorwirft, geschichtsblind und lesefaul zu sein. Das wird (ein feiner rhetorischer Trick) möglich, weil ihn Alina Reichenbach, die Interviewerin, fragen darf, ob er persönlich damals „Östliches durch Westliches ablösen, überwinden“ wollte (1). Dass es darum überhaupt nicht geht, dürfte aus Mitschnitt und Protokoll genauso überdeutlich werden wie die Notwendigkeit, Geschichte endlich nicht mehr nur von denen erzählen zu lassen, die sie einst mit politischem Rückenwind gestalten durften.

Studieren in den 1950ern (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Meine zweite Erkenntnis des Abends hängt direkt mit diesem Kampf um Deutungshoheit zusammen. Im Saal saßen vor allem junge Leute, von denen viele noch nie die Gelegenheit hatten, einem Hochschullehrer zuzuhören, der in der DDR um eine Öffentlichkeitstheorie aus marxistischer Perspektive gerungen hat und heute zwar bereit ist, „alles zu verurteilen, was zu verurteilen ist“ (und das auch deutlich tut), aber zugleich dafür plädiert, „das Leben in seinen wirklichen Widersprüchen“ zu betrachten (Hans Poerschke). Etwas allgemeiner gesprochen: Die Stimme der einstigen DDR-Eliten (zu denen ein Journalistik-Professor sicher gerade noch gehört) fehlt im öffentlichen Diskurs genauso wie das Wissen um das, was im Titel der Leipziger Veranstaltung „Abriss“ genannt wurde und in der Journalistik mit dem Ende von zahlreichen Wissenschaftskarrieren verbunden war, die längst noch nicht ihren Zenit erreicht hatten.

Fasching am Roten Kloster mit Studenten aus dem Rheinland (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Dass aus diesen beiden Erkenntnissen ein BLexKom-Feature werden konnte, das drei solcher Stimmen in biografischen Interviews (Sigrid Hoyer und Bernd Okun) sowie in einer persönlichen Arbeitsbilanz (Karl-Heinz Röhr) zu Wort kommen lässt und so das Podium des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft nicht nur dokumentiert, sondern weiterschreibt, ist auch glücklichen Umständen geschuldet. Hans Poerschke hat mir an jenem Abend einen Stapel Kassetten mitgebracht, den er auf seinem Dachboden in Holzweißig gefunden hatte. Acht Stunden Mitschnitt von einem Workshop Ende Mai 1990, der Medienforscher aus Ost und West zusammengebracht hat. Poerschke (1990) hat damals selbst einen Bericht geschrieben. Überschrift: „Nützliches Kennenlernen und hoffnungsvoller Auftakt. Erstes Leipziger Seminar zur akademischen Journalistenausbildung“. Dass es bei diesem Auftakt bleiben sollte, konnte er seinerzeit nicht wissen, obwohl, das ist zumindest mein Hör-Eindruck mit 30 Jahren Abstand, die Skepsis der Kolleginnen und Kollegen aus der Bundesrepublik und aus Österreich deutlich spürbar gewesen sein müsste.

Jenseits solcher atmosphärischen Details dokumentiert der Kassettenstapel das Aufeinandertreffen von zwei Fachkulturen, wie man sie sich unterschiedlicher kaum denken kann. Hier (in Leipzig) eine Journalistikwissenschaft, die alles (auch die Forschung) dem Ziel unterordnet, handwerklich brillante Absolventen in die Praxis zu schicken, und dort (im Westen) eine Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, der diese Praxis weitgehend egal ist und die sich stattdessen auf das Vermessen von Medieninhalten und den Nachweis von Medienwirkungen konzentriert – zwei Themen, die wiederum in Leipzig nicht interessiert haben, weil die führende Partei die Inhalte aus ihren gerade aktuellen Interessen ableitete (vgl. Fiedler 2014) und die Frage nach der Wirkung vorab mit einem großen Ja beantwortet hatte.

Dieser Graben zwischen den Fachkulturen Ost und West erklärt, warum die konzeptionellen Aufschläge der Gastgeber weitgehend verpufft sind. BLexKom dokumentiert in diesem Feature die Vorträge von Hans Poerschke („Der Journalist in der modernen Kommunikationsgesellschaft“), Klaus Preisigke („Berufsausbildung an der Universität“) und Frank Stader („Warum wir Journalismusgeschichte brauchen und wie wir dabei vorgehen wollen“). Diese drei Beiträge (transkribiert von Sylvia Krampe) liefern zum einen eine kritische und selbstkritische Bilanz der Arbeit an der Sektion Journalistik und entwerfen zum anderen Konturen für eine Neuausrichtung, die zwar mit dem Abwicklungsbeschluss der sächsischen Regierung vom 11. Dezember 1990 gestoppt wurde, aber schon deshalb nicht aus dem kollektiven Fachgedächtnis gelöscht werden sollte, weil es hier erstaunlich viele Anknüpfungspunkte zu den Krisen der Gegenwart gibt und damit für ein Paradigma jenseits einer psychologisch fundierten Medienwirkungsforschung, die sich vor allem für Untersuchungsdesigns und elaborierte Verfahren der Datenanalyse interessiert.

Zweitauflage des Methodik-Lehrbuchs von 1988 (Leipzig: VEB Bibliographisches Institut)

Dies gilt auch für den Vortrag von Karl-Heinz Röhr zum Fach „Journalistische Methodik“, der 1996 zum 80. Geburtstag der akademischen Medienausbildung in Leipzig gehalten wurde und das eigene Wirken deshalb im Gegensatz zu Poerschke, Preisigke und Stader schon aus der Distanz und mit dem Wissen um das Ende einordnen kann. Neben seiner Bilanz hat Karl-Heinz Röhr zu diesem Feature ein 400-Seiten-Manuskript mit dem Titel „Redakteur und Reporter“ beigesteuert, das 1990 das Lehrbuch „Einführung in die journalistische Methodik“ (Autorenkollektiv 1985) ersetzen sollte und dann mehr als zwei Jahrzehnte bei ihm in der Schublade lag. Gabriel Wonn hat das Lehrbuch von 1985 mit dem ungedruckten Manuskript verglichen, um den Einflüssen von Glasnost und Perestroika nachzuspüren. Dieser Beitrag kann eine systematische Untersuchung von Lehrkonzept und Lehrmaterialien nicht ersetzen, weil er sich nur auf ein einziges Fach konzentriert (Journalistische Methodik) und selbst hier nur auf einen engen Ausschnitt – auf das Bild von Journalismus und Gesellschaft und so zum Beispiel nicht auf all das, was zum journalistischen Handwerk vermittelt werden sollte und den Kern von Lehre und Forschung an der Sektion Journalistik ausmachte.

Selbststudium auf der Leipziger Terrasse (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Auch das Interview mit Sigrid Hoyer, das in diesem Feature veröffentlicht wird, ist direkt mit der Podiumsdiskussion vom 21. November 2019 verknüpft. Das Gespräch war zwar bereits geführt worden, aber erst dieser Abend, so hat mir Frau Hoyer Ende März 2020 geschrieben, habe sie dazu motiviert, das erste Manuskript so weit zu überarbeiten und zu ergänzen, dass eine Fassung für die Öffentlichkeit entstehen konnte. Sigrid Hoyer war für mich als Zeitzeugin aus drei Gründen interessant. Sie hat erstens alle Karrierestationen an der Leipziger Universität durchlaufen (1961 Beginn des Studiums, 1965 Diplom, 1973 Promotion A und 1989 Fertigstellung der Habilitationsschrift, die dann nicht mehr verteidigt wurde) und dann auch am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Journalistik gelehrt. Zweitens steht Sigrid Hoyer wie kaum eine andere Wissenschaftlerin für den Versuch, die Kreativität und den Schaffensprozess im Journalismus theoretisch und empirisch zugänglich zu machen (vgl. exemplarisch Hoyer 1977a, 1977b). Und drittens wurde sie 1991 Mitglied der Gründungskommission, gewählt auf einer Vollversammlung des akademischen Mittelbaus.

Schreibtisch von Ilse Trusheim, die 1951 aus Remscheid zum Studium nach Leipzig kam (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Über die Gründungskommission wollte ich eigentlich auch mit Bernd Okun sprechen, ein Philosoph, dessen Lehrveranstaltungen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre bei den Leipziger Journalistikstudenten Kultstatus hatten und der im Herbst 1989 in der Stadt zu einer öffentlichen Figur geworden war. Die Hängepartie an der Universität beschreibt Okun heute nicht nur wegen der Halbjahresverträge als „demütigend“ und „desillusionierend“. Im Interview erklärt er die Resonanz, die er mit seinen Vorlesungen hatte, und spricht sowohl über die genetischen Defekte der DDR als auch über die Schwierigkeiten, die mit einem Neustart außerhalb der Universität verbunden waren. Man kann dieses Interview als Kommentar zu dem Stück interpretieren, das im Beitrag „Abwicklung und Neustart“ chronologisch abgearbeitet wird, und genauso wie diesen Beitrag auch als Hintergrund für das lesen, was im Zeitgeschichtlichen Forum im November 2019 so emotional besprochen wurde.

Noch eine Schlussbemerkung: Der Eigenname Rotes Kloster ist negativ konnotiert. Er steht im Sprachgebrauch der Kommunikationswissenschaft und der historisch interessierten Öffentlichkeit für die Vereinnahmung der akademischen Journalistenausbildung durch die SED. Ich wollte diesen Begriff eigentlich vermeiden, um nicht das Urteil vor die Analyse zu setzen. Für den Titel haben am Ende zwei Gründe gesprochen. Zum einen weiß nun jeder sofort, worum es geht. Und zum anderen möchte ich es hier mit Hans Poerschke (2015) halten: „Jeder würde heute denken, das ist ein Schimpfwort, angeklebt von den bedrängten Nachbarn der Fakultät. In Wirklichkeit war es eine selbstironische Bezeichnung“.

Anmerkung

    • 1 Alina Reichenbach im Gespräch mit Karl Friedrich Reimers, 12. November 2019, Auszug. Zur Veranstaltung am 21. November 2019 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. In: Privatarchiv Michael Meyen

Literaturangaben

        • Autorenkollektiv: Einführung in die journalistische Methodik. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1985.
        • Anke Fiedler: Medienlenkung in der DDR. Köln, Wien: Böhlau 2014.
        • Sigrid Hoyer: Ist Ideenreichtum messbar? In: Theorie und Praxis des sozialistischen Journalismus 5. Jg. (1977a), Nr. 6, S. 13-18.
        • Sigrid Hoyer: Schöpfertum und Journalismus. In: Theorie und Praxis des sozialistischen Journalismus 5. Jg. (1977b), Nr. 1, S. 15-24.
        • Michael Meyen: Journalistik in der DDR. Leipziger Biografien. Feature. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.
        • Michael Meyen: Das Rote Kloster. Leipziger Neuanfang. Feature. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2017.
        • Hans Poerschke: Nützliches Kennenlernen und hoffnungsvoller Auftakt. Erstes Leipziger Seminar zur akademischen Journalistenausbildung. In: Diskurs 1. Jg. (1990), Nr. 3, S. 173-177.
        • Hans Poerschke: Ich habe gesucht. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.

Empfohlene Zitierweise

Michael Meyen: Der Abriss des Roten Klosters. Feature. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2020. http://blexkom.halemverlag.de/abriss/ (Datum des Zugriffs).

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