Stationen
Geboren am 5. März 1937 in Berlin-Lichtenberg. 1955 Abitur in Berlin. Studium an der Fakultät für Journalistik in Leipzig. 1956 Kandidat der SED. 1959 Diplom und wissenschaftlicher Assistent. 1961 FDJ-Chef an der Universität Leipzig (hauptamtlich). 1964 Rückkehr an die Fakultät. 1969 Promotion. 1969 Oberassistent, 1970 Dozent, 1973 bis 1978 und 1982 bis 1990 Wissenschaftsbereichsleiter (Theorie des Journalismus und Pressegeschichte bzw. Theorie und Geschichte des Journalismus). 1982 Promotion B, 1983 ordentlicher Professor (bis 1990). 1991 Direktor des Studienprogramms Publizistik. Mitglied der Gründungskommission des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft. 1992 Vorruhestand. 2007 Kreistag Anhalt-Bitterfeld und Stadtrat Bitterfeld-Wolfen.
Publikationen
- Zum Gebrauch des Begriffs der gesellschaftlichen Information in der Journalistikwissenschaft. Karl-Marx-Universität Leipzig: Fakultät für Journalistik 1969 (Dissertation).
- Zur allgemeinen Charakteristik des sozialistischen Journalismus als Instrument politischer Leitung durch die marxistisch-leninistische Partei. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1982 (Promotion B).
- Theoretische Grundfragen des sozialistischen Journalismus. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1983 (Leiter des Autorenkollektivs).
- Der erste Grundriss unserer Wissenschaft. Theoretische Arbeit im Vorfeld der Gründung der Fakultät für Journalistik. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1984.
- Der Gegenstand des sozialistischen Journalismus. Lehrheft. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1984.
- Sozialistischer Journalismus. Ein Abriss seiner theoretischen Grundlagen. Manuskript, mehrere Teile. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1988/89.
Könnten Sie zu Beginn etwas über Ihr Elternhaus erzählen, Ihre Kindheit, Ihre Jugend?
Wir haben im Osten Berlins gewohnt. Stube und Küche in der Nähe vom Schlesischen Bahnhof. Ich komme also im wörtlichen Sinne aus einfachsten Verhältnissen. Mein Vater war Hausdiener bei Hertie, bis 1938. Dann Hilfsdrucker in der Reichsdruckerei. Meine Mutter war Näherin. Sie hat uns nach dem Krieg mit Heimarbeit durchgebracht. Dann war sie Erdarbeiterin und zum Schluss Gütekontrolleurin bei Siemens-Plania, später Elektrokohle Lichtenberg. Das war finanziell die beste Zeit ihres Lebens und auch sonst.
Und Ihr Vater?
Er ist aus dem Krieg nicht wiedergekommen. Er hat es noch bis in die jugoslawische Gefangenschaft geschafft. Ich habe eine Schwester. Sechseinhalb Jahre jünger. Meine Mutter hat einen anderen Mann kennengelernt. Ich bin als Laubenpieper groß geworden.
Was heißt das?
Die Wohnung in der Stadt war kaputt. Wir hatten eine Laube in Friedrichsfelde. Dort habe ich bis zum Beginn des Studiums gewohnt. Spielkameraden gab es dort nicht, und meine Schulfreunde wohnten weit weg. Ich bin 1947 nach der vierten Klasse auf die Oberschule gekommen. Das ging damals noch. Wir waren der letzte Jahrgang. Meine Eltern haben in Schichten gearbeitet. Ich habe sie die ganze Woche nicht gesehen. Ich kann also nicht von einem reichen Familienleben erzählen.
Immerhin wurden Sie auf Ihrem Bildungsweg unterstützt.
Ja. Ich bekam aber in der Oberschule eine Wirtschaftsbeihilfe. Im Grunde ein Stipendium. Und während des Studiums habe ich meine Eltern nichts mehr gekostet. Mit dem Stipendium und später dann dem Leistungsstipendium kam man ganz gut hin.
Können Sie sich noch erinnern, warum Sie von Berlin nach Leipzig gegangen sind, um Journalistik zu studieren?
Das war relativ zufällig. Eigentlich hat mich die Musik gereizt.
Die Musik?
Ich bin musikalisch. An der Oberschule hatten wir einen guten Musiklehrer. Ich war im Chor und habe Alt gesungen. Ich habe auch viel Radio gehört, konnte aber kein Instrument spielen. Dass es eine Arbeiter- und Bauern-Fakultät zur Vorbereitung auf das Musikstudium gab, wusste ich nicht. Ein Lehrer hat dann gesagt, ich könne mich doch ganz gut ausdrücken und auch lebendig schreiben. So bin ich nach Leipzig gekommen.
Welche Idee haben Sie damals mit dem Journalistenberuf verbunden?
Eigentlich keine. Ich bin da ganz naiv hingegangen und habe das auch nicht übertrieben ernst genommen.
Haben Sie in der Schule nie für eine Zeitung geschrieben?
Nein. Ich hatte keinerlei Beziehung dazu. Auch später hat es mich nicht in den Journalismus gezogen. Eher zur Theoriearbeit.
Finden Sie Ihre Studienzeit im Buch Das rote Kloster von Brigitte Klump (1978, 1991) wieder?
Sehr, sehr bedingt. Ich habe das nicht als angstgetriebenen, stasidurchsetzten Betrieb erlebt. Ganz abgesehen von dem Unsinn, dass jeder Absolvent Stasianwärter gewesen wäre. Ich wusste 24 Stunden vor meinem Arbeitsbeginn noch nicht, wo ich arbeiten werde.
Welche Optionen gab es?
Die Zeitung der NVA oder die Fakultät. Das hat sich buchstäblich am letzten Tag entschieden.
Warum ist es nicht die Armee geworden?
Keine Ahnung. Man wurde ja eingesetzt. Für mich war es selbstverständlich, dass das so läuft.
Wann haben Sie gewusst, dass Sie Wissenschaftler werden wollen?
Ich kam mit der Diplomarbeit gut zurande.
Was war das Thema?
Analyse in journalistischen Beiträgen. Betreuer war Dietrich Schmidt. Ich habe gemerkt, dass es so was gibt und wie man das macht. Soweit man das an der Fakultät lernen konnte. Eine wissenschaftsmethodische Ausbildung gab es ja eigentlich nicht. Ich fürchte, ich habe mich einigermaßen unbeholfen angestellt. Man musste selbst dahinterkommen. Kann ich noch etwas zum „roten Kloster“ sagen?
Bitte.
Jeder würde heute denken, das ist ein Schimpfwort, angeklebt von den bedrängten Nachbarn der Fakultät. In Wirklichkeit war es eine selbstironische Bezeichnung. Wir haben ja in der Tieckstraße im Internat gewohnt. Ich habe dazu ja etwas geschrieben (vgl. Poerschke 1993).
Hätte Hans Poerschke auch im Apparat Karriere machen können, in der FDJ, in der SED?
In der FDJ habe ich das ja probiert.
Wie sind Sie dazu gekommen?
Wieder ganz naiv. Anfang 1961 wurden die Parteidokumente umgetauscht. Ich stand in der Schlange hinter Klaus Höpcke. Beim Militärdienst 1958 hatten wir vier Wochen Bett an Bett gelegen. Er drehte sich um und fragte, ob ich nicht 1. Kreissekretär der FDJ werden wolle. Er war auf Kadersuche. Ich dachte, ich könne schlecht Nein sagen, war dann aber hoffnungslos überfordert.
Was hat Sie überfordert?
Die Notwendigkeit zu leiten. Für Disziplin zu sorgen, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Ich wollte das lieber alles allein machen. Ich hatte auch keine große Lust, unter die Leute zu gehen und als Agitator aufzutreten. Ich habe meine Wahlperiode von zwei Jahren zu Ende gebracht und kam dann in den Zentralrat, in die Kulturabteilung.
Nach Berlin?
Ja. Ich war dort auch mal Konzertunternehmer mit der Reihe Junge Musik für junge Leute. Ich bin zu Hans Pischner gegangen, zum Intendanten der Staatsoper, und habe um den Apollosaal gebeten. Ich bin über die Dörfer gefahren und habe mir Absolventen der Musikhochschulen für öffentliche Auftritte empfehlen lassen. In meinem ersten Konzert hat Friedrich Schenker gespielt, eine Sonate für Posaune und Klavier.
Das klingt nach Erfolgsgeschichte.
Es gab keine Nachfrage. Mich hat etwas der Mut verlassen. Außerdem hat es mir im Apparat nicht gefallen. Gar nicht aus politischen Gründen. Die Arbeit, die Verhältnisse. Immer beobachten, was gerade die Linie ist. Ich bin auf eigenen Wunsch ausgeschieden.
Wie lange waren Sie in Berlin?
Ein Jahr. Meine damalige Frau war schwanger und es drohte eine zweite Fehlgeburt. Dagegen konnte niemand etwas sagen, ich konnte ungeschoren gehen. In Leipzig bin ich wieder auf die 640 Mark Assistentengehalt zurückgefallen. Beim Zentralrat hatte ich 900.
Gibt es jemanden, den Sie als Ihren akademischen Lehrer bezeichnen würden?
Eigentlich nicht. Ich bin dankbar, Hermann Budzislawski noch gehört zu haben (vgl. Budzislawski 1966). Bei ihm hatte ich meine Prüfung in Pressegeschichte. Ich bin auch Dietrich Schmidt dankbar, für die Betreuung der Diplomarbeit. Aber sonst? Uns wurde ja sehr schnell Verantwortung übertragen. Nach meiner Rückkehr habe ich mit Edmund Schulz eine eigene Abteilung gehabt, Wesen und Funktion des Journalismus.
Im Grunde Theorie.
Ja. Wer sollte einem auch etwas beibringen? Die Älteren waren ja in der gleichen Situation, noch geprägt von der Ursprungsbesatzung der Fakultät. Wilhelm Eildermann, Hans Teubner, Hedwig Voegt (vgl. Siemens 2013, Schemmert/Siemens 2013).
Wie sind Sie zu Ihrem Promotionsthema gekommen?
Das ist eine eigenartige Geschichte. Irgendein Thema war für mich vorgesehen. Ich habe alleine vor mich hin gearbeitet und bin davon abgekommen.
Also ein Thema aus heiterem Himmel.
Nein. Damals gab es einen Paradigmenwechsel. Die Schule Budzislawski-Schmidt hat Journalismus als Widerspiegelung des geschichtlichen Prozesses gesehen, als Bewusstseinsform (vgl. Poerschke 2010a). Dann kam die Kybernetik und mit ihr der Informationsbegriff. Ich habe das dann auf die Journalistikwissenschaft übertragen. Das ist sicher die kürzeste Dissertation, die je verteidigt wurde.
Wie kurz?
100 Seiten.
Bei Karl Bücher war das zum Teil noch weniger (vgl. Meyen 2002).
Das war aber schon einige Jahre her. Dusiska wusste von dem Thema gar nichts. Er ist dann ganz schnell auf diesen Zug aufgesprungen. Für ihn war das eine Chance, die Schule Budzislawski abzulösen. Er hat erkannt, dass der Informationsbegriff ein theoretischer Weg war, den Journalismus als Sprachrohr der Partei zu optimieren. Alles, was dort nicht einfach als Widerspiegelung definiert werden kann, sondern mit Blick auf den Adressaten bearbeitet wurde. Diesen politischen Hintergrund habe ich damals gar nicht durchschaut.
Wie war Ihr Verhältnis zu Emil Dusiska?
Menschlich ganz gut. Wir waren ja beide Berliner. Bei der IAMCR-Tagung 1974 musste ich die sowjetische Delegation betreuen und bekam dafür seinen Dienstwagen. Eine unvorstellbare Auszeichnung.
Und sonst?
Seine parteierzieherische Art war mir immer suspekt. Ich weiß gar nicht, wie ich das bezeichnen soll. Er hat sich als Bevollmächtigter der ZK betrachtet. Im Bundesarchiv liegt ja sein Bericht über den Zustand der Fakultät, kurz nachdem er angefangen hatte. Da kann man sich ein Bild von ihm machen. Er war ein scharfsinniger Mann (vgl. Meyen 2014). Auf ihn geht letztlich das Übungssystem zurück und die Idee, die journalistische Tätigkeit als einen logisch aufgebauten Prozess zu verstehen. Karl-Heinz Röhr lobt das sicher heute noch.
Macht er, ja.
Unser Verhältnis zur Vergangenheit der Fakultät ist sehr verschieden. Ich nehme sehr ernst, dass wir einem Modell gedient haben, das in den Untergang geführt hat. Ich sehe mich als Akteur dieses Untergangs und nicht als Opfer von allem, was hinterher passiert ist. Auch wenn das nicht fair war und schön schon gar nicht.
Haben Sie sich evaluieren lassen?
Mein Evaluator war Kurt Koszyk. Zitate aus sowjetischer Literatur waren für ihn ein böhmisches Dorf. Andere Dortmunder haben sich dagegen zu uns bekannt und uns geholfen. Ich hatte dort zweimal einen Lehrauftrag. Günther Rager ist es zu verdanken, dass es heute in Leipzig das Institut gibt. Er war zufällig in der Stadt, als die Abwicklung verkündet wurde. Auch Horst Pöttker hat an den Leipziger Dingen Anteil genommen.
Wir waren bei Emil Dusiska.
Innerlich hatte ich zu ihm immer eine Distanz, er war aber nun einmal der Chef. Er hatte Wolfgang Wittenbecher, seinen Wissenschaftsbürokraten, der von Wissenschaft rein gar nichts verstand. Gisela Wittenbecher hat die Kader gemanagt. Damit war die Sektion in sicheren Händen.
Mit etwas zeitlichem Abstand sieht Ihre Laufbahn fast mustergültig aus: Promotion mit Anfang 30, Habilitation mit Mitte 40, dann gleich Professor. Haben Sie das seinerzeit auch so wahrgenommen?
Meine Selbstzweifel sind erst richtig ausgebrochen, als ich die Professur hatte. Mir war klar, dass der Hut eine Nummer zu groß ist.
Waren die anderen Professoren so viel besser?
Den Vergleich brauchte ich wohl nicht zu scheuen, aber was ist das für ein Vergleich? Ich weiß, dass ich sehr viel Glück hatte. Ich kam ja von ganz unten und hatte viel weniger Bildung als andere. Ich war aber der Einzige, der mit der sowjetischen Literatur vertraut war, über die Journalistik hinaus. Produktiv umgesetzt habe ich das aber viel zu wenig.
Wie erklären Sie sich das heute?
Mit der Gefangenschaft im Korsett der Parteipresse neuen Typs. Ich bin zeitig auf Lenin gestoßen. Das war eine Offenbarung.
Wie das?
Ich dachte immer, bei uns ist Lenin nicht richtig verstanden worden. Dass das der Grund sei für die immer als unzulänglich empfundene journalistische Praxis. Heute weiß ich, dass er für mich eine Zitatenwiese war. Ich sitze immer noch an Lenin.
Heute?
Alle um mich herum schütteln den Kopf. Ende der 1990er-Jahre wurde ich gebeten, einen Lexikonartikel zu schreiben über Parteipresse. Mir ist erst Schritt für Schritt klar geworden, was ich mir da aufgeladen hatte. Was ich alles nicht wusste.
Haben Sie den Artikel geschrieben?
Nein. Ich habe mir dann vorgenommen, etwas zu Lenins Aufsatz Parteiorganisation und Parteiliteratur zu machen (Lenin 1905). Für 2005, zum hundertsten Jahrestag. Dazu gibt es 120 Seiten. Man kann das aber nicht machen, ohne die Parteigeschichte zu kennen. Ich lese Lenin jetzt, wie ich ihn nie zuvor gelesen habe. Ich will mir selbst beweisen, warum ich heute anderer Meinung sein muss. Zum Glück gibt es ja auch russische Quellen im Internet. Wissen Sie, was mein Problem ist?
Nein.
Etliche ältere Leute in meiner Umgebung sehen ein, dass im Sozialismus wohl Schlimmes passiert ist. Schuld sei aber der Widerstand des Klassengegners. Lenin hat nicht nur auf den Gegner reagiert. Ich will zeigen, dass er von vornherein die Ausschaltung der bürgerlichen Presse gewollt hat und den Bürgerkrieg, der schließlich zehn Millionen Tote gefordert hat. Ich denke, niemand darf einen solchen Preis in Kauf nehmen. Diese letzte Zuflucht vor der konsequenten Abrechnung will ich nehmen. Das mache ich für mich. Bis zum Revolutionsjubiläum 2017 ist noch etwas Zeit. Bei der sowjetischen Zensur bin ich noch gar nicht. Beim Verhältnis zu den eigenen Medien.
Ihr Kollege Wolfgang Tiedke (2011: 79) hat gesagt, er habe sich schon als Student Anfang der 1970er-Jahre abgeschminkt, dass die Journalistik in der DDR eine Wissenschaft sei. Hat er Recht?
Es gab in Leipzig Wissenschaft. Zum Beispiel das Gerüst der journalistischen Methodik (vgl. Autorenkollektiv 1970-1974). Das halte ich für eine wissenschaftliche Leistung. Man muss aber immer sagen, was das Ziel war. Wenn andere heute damit weiterarbeiten können, rechtfertigt das noch nicht das Ganze.
Haben Sie sich an der Sektion eher als Wissenschaftler gefühlt oder als Lehrer und Erzieher, vielleicht sogar wie Tiedke als Politiker?
Als Politiker nicht. Eher als Beobachter. Als Lehrer und Erzieher auch nur bedingt. Theorie des Journalismus war kaum das Lieblingsfach der Studenten. Dazu sind Journalisten viel zu praktisch orientiert. Diplomanden habe ich aber sehr gern betreut. Ich habe mich schon als Wissenschaftler verstanden. Als jemand, der konzeptionell arbeitet. Kennen Sie diese Monografie (Poerschke 1982, 1983)?
Ja, das habe ich gelesen.
Ich war Leiter des Unternehmens. Am Ende war das meine B-Promotion. Meine Frage war: Wozu braucht die Gesellschaft Journalismus? Die Partei hat immer nur gesagt, wozu sie selbst ihn braucht. Und was für die Gesellschaft gut sein soll. In der sowjetischen Literatur bin ich dann auf die Marxsche Kategorie der geistigen Produktion gestoßen. Damit ließ sich Journalismus aus der Lebensweise der Menschen erklären. Schon in der Verteidigung der B habe ich mich von meiner eigenen Arbeit distanziert und auf die neue Idee hingewiesen (vgl. Poerschke 1988/89).
Wenn man die Lehrkonzepte anschaut, die an Fakultät und Sektion entwickelt wurden, scheint es einen ständigen Kampf um Praxis- und Ideologieanteile gegeben zu haben. Wie haben Sie das als Theoretiker erlebt?
Ich habe vieles als zu handwerklich empfunden. Es gab nie einen Brückenschlag zwischen den theoretischen Grundlagen und dem Handwerk. Die Studenten hat das sicher am wenigsten gestört. Die Bildung zur Selbstreflexion hing außerdem zu stark davon ab, wie die Lehrkraft gerade gestrickt war. Das ist aber bis heute ein Problem.
Hat Sie je gestört, dass Sie keine Erfahrungen in der Praxis hatten?
Überhaupt nicht. Ich war mit anderen Dingen beschäftigt. Interessante philosophische und soziologische Literatur zu finden zum Beispiel. Das Problem der sozialen Kommunikation durchdenken. Gegen Ende der 1980er-Jahre gab es in Leipzig einen interdisziplinären Arbeitskreis. Wolfgang Luutz war dabei, ein Philosoph. Wir haben über Öffentlichkeit diskutiert und über das Projekt Moderner Sozialismus, von Michael Brie und Dieter Segert an der Humboldt-Universität (vgl. Poerschke 2010b). An der Sektion war ich damit ein weißer Rabe.
Haben Sie sich einsam gefühlt?
Nein. Ich wusste ja, dass das an der Sektion kein Thema war.
Hat die Abteilung Agitation in Ihrer Arbeit eine Rolle gespielt?
Nein, für mich persönlich nicht. Man musste solche Bücher wie die Monografie natürlich verteidigen, vor dem gesellschaftlichen Rat der Sektion. Da war Georg Förster von der Abteilung Agitation dabei, der Journalistenverband, die Komitees für Rundfunk und Fernsehen.
In Leipzig?
In Berlin, im Haus der Presse. Wir sind damals durchgekommen. Da steckt zwar Kritik am Journalismus drin, man muss sie aber finden wollen.
Wollten Sie mit Ihrer Arbeit die Medienpraxis in der DDR beeinflussen?
Naiver Weise schon. Ich habe zum Beispiel gezeigt, was der Leser wissen müsste, um die Politik zu verstehen. Wahrgenommen wurde das nicht.
Sie haben alle Dekane bzw. Direktoren erlebt. Wenn Sie die fünf vergleichen müssten: Wie würden Sie das machen?
Am unauffälligsten waren Wolfgang Rödel und Franz Knipping. Sie waren ja auch nur kurz im Amt. Zu Gerhard Fuchs hatte ich ein ziemlich enges Verhältnis. Wir saßen vorher Zimmer an Zimmer. Er kam als Chefredakteur aus Erfurt, hätte sich aber in Leipzig nie etwas erlaubt. Er wollte nicht, dass wir in Berlin auffallen. Um alles andere hat er sich nicht gekümmert.
Hermann Budzislawski?
Ich habe ihn geschätzt als Mann auf dem Podium. Von seiner Rolle als Dekan habe ich wenig mitbekommen. Er hat die Fakultät in der Anfangszeit geprägt. Unter Dusiska kam sie dann auf völlig andere Gleise. Sein Zentralbegriff war die Argumentation. Die Bearbeitung des Rezipienten.
Sie haben 1991 das Studienprogramm Publizistik geleitet und waren auch in der Gründungskommission für ein neues Institut. Wann haben Sie gewusst, dass es für Sie dort keinen Platz geben würde?
Das war mir ziemlich schnell klar. Ich saß ja an der ideologischsten Stelle des Systems. Koszyk hat mich dann als bedingt bildungsfähig eingeschätzt. Karl Friedrich Reimers gab mir daraufhin ein Jahr Zeit. Die Gelassenheit, irgendein Wort von sich zu geben, war in dieser Zeit aber nicht zu haben. Für mich jedenfalls nicht. Ich habe mich dann auch um nichts beworben.
Wie ging es weiter?
Ich hatte großes Glück. Mein letzter Arbeitsvertrag lief bis zum Herbst 1992. In der Bild-Zeitung war ich der rote Studentenschreck.
Damals waren Sie 55.
Ich ging in den Altersübergang, für fünf Jahre. Heute glaubt keiner mehr, dass es so etwas gegeben hat. Eine Form der Arbeitslosigkeit, bei der man ordentliches Geld bekam und nicht vermittelt werden musste. Ich musste mir um meinen Unterhalt keine Sorgen machen und hatte nebenbei zu tun. Ich war sechs Jahre im Rundfunkrat des MDR und für die PDS in der Bundestags-Enquetekommission Neue Medien. In Sachsen habe ich den Journalistenverband mitgegründet. Ich war auch Unternehmer.
Wie das?
Wir haben einen Verein gegründet. Diskurs, auf den Ruinen der Fakultät. Wir haben über ABM in Dresden eine Arbeitslosenzeitung gemacht. Frank Stader war dabei, Peter Hamann und Günter Raue.
Wenn Sie selbst in Leipzig als Gründungsdekan die Möglichkeit für einen Neuaufbau gehabt hätten: Was hätten Sie geändert und was beibehalten?
Diese Frage kann ich nicht beantworten. Als ich letzter Direktor wurde, war ich nicht gerade glücklich. Alle Welt dachte, ich hätte ein Konzept. Ich hatte aber keins.
Und heute? 25 Jahre später?
Auch nicht. So ein Übergang ist unmöglich. Dafür hätte sich auch das westdeutsche Hochschulsystem reformieren müssen. Die Widersprüche konnten gar nicht ausgetragen werden, auch in den eigenen Reihen übrigens nicht. Wir waren nicht satisfaktionsfähig. Solange ich lebe, wird das wohl nicht aufhören. Ich war ja sieben Jahre im Kreistag und im Stadtrat. Immerhin sind wir heute so weit, dass nicht jeder Vorschlag verworfen wird, nur weil er von der Linken kommt.
Gibt es Wissenschaftler, die für Sie eine Vorbildfunktion hatten oder haben?
Meist Leute, die ich nur aus der Literatur kenne. Habermas, Luhmann. Auch Ulrich Beck. Sonst zum Beispiel Prochorow, aus der Moskauer Journalistik. Ein analytischer Kopf, der versucht hat, ein in sich schlüssiges System zu entwickeln. Ich habe ihn Anfang der 1970er-Jahre kennengelernt. Das hat mich damals sehr beeindruckt. Auch Günther Rager, als Mensch mit Solidaritätsgefühl. Und Horst Pöttker.
Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?
Stolz und Ehrgeiz sind mir nicht sehr nah.
Dann andersherum: Gibt es etwas, was Sie heute anders machen würden?
Ich würde gern mein Journalismuskonzept weiterführen. Das ist aber genau der Wunsch, den ich nicht frei habe. Sonst hätte ich den Lenin nicht packen können.
Was soll eines Tages vom Journalistenausbilder und Journalismustheoretiker Hans Poerschke bleiben?
Schön wäre, wenn man überhaupt zur Kenntnis nimmt, was es von mir aus der DDR-Zeit gibt, und dass man versteht, dass ich damals gesucht habe. Vielleicht liest ja auch jemand die Sachen, die ich nach der Wende gemacht habe, und hat ein Aha-Erlebnis.
Literaturangaben
- Autorenkollektiv: Methodik der journalistischen Arbeit. Übungsbuch an der Sektion Journalistik. Sieben Hefte. Karl-Marx Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1970 bis 1974.
- Hermann Budzislawski: Sozialistische Journalistik. Leipzig: Bibliographisches Institut 1966.
- Brigitte Klump: Das rote Kloster. Eine deutsche Erziehung. Hamburg: Hoffmann und Campe 1978.
- Brigitte Klump: Das rote Kloster. Als Zögling in der Kaderschmiede des Stasi. München: Herbig 1991.
- Wladimir Iljitsch Lenin: Parteiorganisation und Parteiliteratur. In: Werke, Band 10, S. 29-34.
- Michael Meyen: Die Leipziger zeitungskundlichen Dissertationen. In: Erik Koenen/Michael Meyen (Hrsg.): Karl Bücher. Leipziger Hochschulschriften 1892 bis 1930. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2002, S. 135-200.
- Michael Meyen: IAMCR on the East-West Battlefield: A Study on the GDR’s Attempts to Use the Association for Diplomatic Purposes. In: International Journal of Communication Vol. 8 (2014), S. 2071–2089.
- Hans Poerschke: Zur allgemeinen Charakteristik des sozialistischen Journalismus als Instrument politischer Leitung durch die marxistisch-leninistische Partei. Karl-Marx-Universität Leipzig: Fakultät für Journalistik 1982.
- Hans Poerschke (Leiter des Autorenkollektivs): Theoretische Grundfragen des sozialistischen Journalismus. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1983.
- Hans Poerschke: Sozialistischer Journalismus. Ein Abriss seiner theoretischen Grundlagen. Manuskript, mehrere Teile. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1988/89.
- Hans Poerschke: Rückblicke in das Journalistikstudium der DDR. In: Heide Riedel (Hrsg.): Mit uns zieht die neue Zeit … 40 Jahre DDR-Medien. Berlin: Vistas 1993, S. 71-77.
- Hans Poerschke: Journalistik als Bewusstseinsform. Zum Werdegang eines theoretischen Ansatzes. In: Kultursoziologie. Aspekte, Analysen, Argumente. Nr. 2/2010a, S. 159 – 185.
- Hans Poerschke: Öffentlichkeit als Gegenstand gesellschaftswissenschaftlicher Diskussion in der DDR. In: Tobias Eberwein/Daniel Müller (Hrsg.): Journalismus und Öffentlichkeit. Eine Profession und ihr gesellschaftlicher Auftrag. Festschrift für Horst Pöttker. Wiesbaden: VS Verlag 2010b. S. 43-56.
- Christian Schemmert/Daniel Siemens: Die Leipziger Journalistenausbildung in der Ära Ulbricht. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61. Jg. (2013), Nr. 2, S. 201-237.
- Daniel Siemens: Elusive Security in the GDR. Remigrants from the West at the Faculty of Journalism in Leipzig, 1945-1961. In: Central Europe Vol. 11 (2013), Nr. 1, S. 24-45.
- Wolfgang Tiedke: Wir haben die richtigen Fragen gestellt. In: Michael Meyen/Anke Fiedler: Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR. Berlin: Panama Verlag 2011, S. 75-86.
Weiterführende Literatur
- Horst Pöttker: Gegenständlich. Kein Opportunist, kein Dogmatiker: Hans Poerschke, in: transparent, Heft 2/1995.
Weblink
Empfohlene Zitierweise
- Hans Poerschke: Ich habe gesucht. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015. http://blexkom.halemverlag.de/hans-poerschke/ (Datum des Zugriffs).