Sigrid Hoyer: Unser Handwerk ist brauchbar

Sigrid Hoyer hat in der DDR und in der Bundesrepublik Journalisten ausgebildet. Michael Meyen hat mit ihr im November 2019 über das Studium in Leipzig, über ihre Forschung zur Kreativität und die Leipziger Gründungskommission gesprochen.


Stationen

Geboren 1940 in Demmin. 1959 Abitur in Stralsund. 1961 Journalistikstudium in Leipzig. 1965 Diplom (vgl. Mahlow 1965). Beginn einer Dozentenlaufbahn. 1973 Promotion (vgl. Hoyer 1973). 1990 Mitglied der Studienprogrammkommission der Sektion Journalistik. 1991 Mitglied der Gründungskommission Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig. 2003 Ruhestand. Anschließend Lehrbeauftragte für Journalistik in Leipzig (bis 2010). Verheiratet mit Hansdieter Hoyer, der ebenfalls 1961 das Journalistikstudium aufnahm. Ein Sohn.

Könnten Sie mir zu Beginn etwas über Ihr Elternhaus erzählen, über Ihre Kindheit, Ihre Jugend?

Wenn Sie mein Geburtsjahr hören, denken Sie sicher sofort an Krieg.

Ja.

Sigrid Hoyer in einem Seminar, um 1975 (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Was in Demmin und an der Peene passiert ist, muss ich nicht erzählen, darüber gibt es inzwischen so manche Dokumentation. Das hat sich mir damals natürlich nicht erschlossen. Aber neben idyllischen Kindertagen auf dem Bauernhof meines Urgroßvaters in Demmin-Stuterhof prägte der Krieg diese frühen Jahre: halb angezogen ins Bett, an der Tür griffbereit ein kleiner Koffer mit dem Wichtigsten, Fliegeralarm, mit schnellen Schritten auf dem Arm meiner Mutter in den Luftschutzkeller, der sich neben den Benzintanks (!) einer Autowerkstatt in unserer Straße befand. Oder zu Fuß, mein Cousin und ich auf einem kleinen Handwagen, mit Mutter und Tante über Grimmen, Stralsund nach Barth. Übernachtet haben wir in Scheunen oder bei Verwandten.

Warum Barth?

Dort lebten meine Großeltern. Großvater war Schuhmacher. Und es gab bei der Oma immer etwas zu essen, Butterschnitten mit selbstgemachter Blaubeermarmelade, wenn wir ankamen. Wieder zurück in Demmin, hatte man russische Soldaten in unserer Wohnung einquartiert. Das war das Signal, endgültig nach Barth umzusiedeln.

Woran erinnern Sie sich noch?

In meiner Erinnerung überwiegt das Gefühl des Unterwegs-Seins. Meine Mutter besuchte meinen Vater, solange das noch möglich war. Zweimal nahm sie mich mit, zum Beispiel ins heutige Polen, wo mein Vater mit seiner Einheit in Bromberg stationiert war. Oder später nach Bad Neuenahr. Da wurden deutsche Städte schon bombardiert. Es muss eine abenteuerliche Zugfahrt gewesen sein. Wir besuchten meinen Vater im Lazarett: schwer verletzt von einem Lungendurchschuss, ich erinnere mich an den Gipspanzer auf seiner Brust. Aber das hatte ihn gerettet, mit einem der letzten Transporte war er noch aus dem Stalingrader Kessel ausgeflogen worden. Wie viele junge Frauen musste auch meine Mutter kurz vor Kriegsende noch zum Schützengräbenschippen nach Schneidemühl, das heutige Pila in Polen. Wieder blieb ich bei der Oma, wir sind mit dem Fahrrad auf die Felder gefahren, um etwas zu essen zu suchen, ich saß bei ihr auf dem Gepäckträger. Oder wir brachten reparierte Schuhe weg, bezahlt wurde in Naturalien, mitunter wurden wir auch zum Mittagessen eingeladen. Die innige Beziehung zur Großmutter hielt über alle Entfernungen. 1972 sind die Großeltern nach Nordrhein-Westfalen gezogen.

Warum das?

Dort lebte ihre jüngste Tochter. Für mich war das ein schlimmer Verlust. Nach der Wende haben wir das Grab der Großeltern besucht.

Wo sind Sie in die Schule gekommen?

In Barth, 1947. Ich war die Einzige, die neue Lederschuhe trug. Großvater hatte mir auch einen Lederranzen angefertigt. Bald nach der Einschulung kamen Flüchtlings- und Waisenkinder in unsere Klasse, einige zwölf oder zehn, einzelne 14 Jahre alt. Bei manchen wurden die Familiennamen korrigiert, wenn Verwandte oder Geburtsdokumente gefunden worden waren. In Barth habe ich 1955 die Grundschule mit der achten Klasse beendet. Meine Eltern wohnten inzwischen in Stralsund, weil mein Vater dort Arbeit gefunden hatte.

Was hat Ihr Vater beruflich gemacht?

Kaufmännischer Angestellter. Später hat er als Betonfacharbeiter gearbeitet. Im Studium zählte aber der erste Beruf meines Vaters. Ich war also kein Arbeiterkind und bekam das kleinere Stipendium. Erst mit dem Leistungsstipendium war meine finanzielle Situation gerettet.

Vorher kommt das Abitur.

An der Hansa-Oberschule in Stralsund. Vier intensive, schöne Jahre. Alle Freundschaften aus dieser Zeit halten heute noch. Und anlässlich unseres „Goldenen Abiturs“, das ich mit meinem Jahrgang 2009 in Stralsund feierte, bin ich Mitglied des Fördervereins unserer alten Schule am Strelasund geworden. Die Hansaschule war übrigens auch als Rotes Kloster verrufen. Ein Backsteinbau mit Türmen, einer alten Uhr und einer schönen holzgetäfelten Aula. Das war natürlich nicht gemeint, der Grund war vielmehr, weil Lehrer unserer Schule scharenweise in den Westen gingen. Auch Mitschüler. Vor allem nach den Weihnachtsferien hatten sich unsere Reihen immer gelichtet. Da lief dann im NWDR so mancher Bericht über das Rote Kloster. Die neuen Lehrer kamen aus Potsdam von der Pädagogischen Hochschule und brachten viel frischen Wind und manche Anregung mit. Unserem Deutschlehrer verdanke ich die Entdeckung von Bertolt Brecht.

Welche Sprachen haben Sie gelernt?

Russisch seit der fünften Klasse, Französisch und Latein auf der Oberschule. An der Universität Englisch und fakultativ ein wenig Spanisch. 1957 war ich mit einem der ersten Freundschaftszüge der FDJ in der Sowjetunion. Und später zu einem vierwöchigen Sprachlehrgang des Journalistenverbandes in Moskau.

Gab es etwas, was auf die künftige Journalistikdozentin Sigrid Hoyer hingedeutet hat?

Ich habe schon während meiner Schulzeit Kontakt zur Ostsee-Zeitung geknüpft.

Zur Lokalredaktion?

Ja, Kreisredaktion hieß das damals. Dieter Lander war dort der verantwortliche Redakteur. Ihm verdanke ich viele gute Ratschläge. Ich habe nicht nur zu Schulthemen geschrieben, sondern war auch als Lokalreporterin unterwegs, auf der Spur von Themen, wie sie gerade so anfielen.

Waren Sie dort Volkskorrespondentin?

Ich nahm an den Tagungen der Volkskorrespondenten teil, und manchmal hatte ich auch das Glück, den einen oder anderen Höhepunkt wahrnehmen zu dürfen, so die Berichterstattung über die Ostseerundfahrt mit Egon Adler, Erich Hagen, Täve Schur, Vagn Bangsborg.

Was haben die Eltern und Großeltern zu all diesen Aktivitäten gesagt?

Journalistikstudenten in der Rübenernte, Anfang der 1950er Jahre (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Opa hörte den Rias. Ich wusste, dass er die Politik der DDR kritisch sah. Wenn im Radio eine Reportage aus dem Ausland lief, hat er mich immer gerufen und gesagt: Sowas musst du mal machen. Eltern und Großeltern haben mir den Weg zur Bildung geöffnet und mich aufmunternd und immer wieder auch ermutigend begleitet. Das war meine Mitgift von Zuhause, wofür ich immer dankbar war. Wenn etwas Geld übrig war, kaufte meine Mutter Bücher: Kisch, Brecht, Feuchtwanger, Hesse. Lexikon und Fremdwörterbuch schenkte mein Vater, sie gehörten damals zu meinen besonderen Schätzen.

Der Studienwunsch Journalistik scheint da ganz folgerichtig.

Ja. Ich habe aber auch mit dem Gedanken gespielt, Lehrerin zu werden.

Wie sah der Weg an die Leipziger Fakultät in Ihrem Jahrgang aus?

Noch während des Abiturs wurde ich nach Berlin in die Friedrichstraße, ins Haus der Presse zu einem Gespräch eingeladen. Fred Vorwerk war dabei. Er fragte mich nach Bruno Apitz und seinem Buch Nackt unter Wölfen, daran kann ich mich erinnern. Ich wollte ja unbedingt Journalistin werden und habe das offensichtlich auch vermittelt. Jedenfalls wurde ich angenommen.

Aber es ging nicht sofort los mit dem Studium.

Vorher mussten wir ein „Braunkohlenjahr“ absolvieren. Im Braunkohlenwerk John Schehr in Laubusch bei Hoyerswerda. Wir wurden in der gerade entstehenden Neustadt von Hoyerswerda untergebracht, gar nicht so lange vor Brigitte Reimanns Zeit dort (vgl. Reimann 1961). Zusammen mit noch zwei Mädchen, die auch Journalistik studieren wollten, hatten wir dort eine Wohnung für uns, eigentlich recht komfortabel. Morgens sammelte uns ein Bus auf dem Marktplatz in der Altstadt von Hoyerswerda ein und brachte uns zur Frühschicht nach Laubusch.

Was haben Sie da gemacht?

Ich kam in eine Brigade von Reparaturschlossern und habe zum Beispiel Zahnräder befeilt. Die Hände waren schnell lädiert. Und wir haben dort auch an der Betriebszeitung mitgearbeitet. Ein späterer Kommilitone eine Zeitlang sogar hauptamtlich, als der Redakteur krank geworden war. Ich durfte das Jahr nicht zu Ende machen. Der Betriebsarzt diagnostizierte bei mir einen Scheuermann und schloss jede weitere Belastung für meinen Rücken kategorisch aus. Das begrub auch meinen Traum, vielleicht doch noch eine Zeitlang im Tagebau auf einem Bagger arbeiten zu können. Ich wollte aber wenigstens mit der Gruppe, die ich dort kennengelernt hatte, in Leipzig mit dem Studium beginnen.

Wie haben Sie die Zeit überbrückt?

Dieter Lander hat mich wieder eingestellt. Dann folgte das eigentliche Vorpraktikum. Da kam bei mir der Wunsch auf, nach dem Land der weiten Felder und Strände vielleicht mal einen richtigen Industriebezirk kennenzulernen. So kam ich nach Karl-Marx-Stadt, in die Redaktion der Volksstimme.

Nicht gerade um die Ecke.

Studentenleben an der Sektion Journalistik Mitte der 1970er Jahre (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Es war dennoch eine gute Fügung. Ich lernte viel Neues kennen, die Großbetriebe, die Kultureinrichtungen der Stadt, das Erzgebirge. Kurze Zeit durfte ich auch aushelfen in der Lokalredaktion in Flöha. Ich durfte einfach viel ausprobieren. Als man mein kulturelles Interesse bemerkte, bekam ich das Angebot, über die Patenschaft der Kammertanzgruppe der Deutschen Staatsoper Berlin mit dem Buchungsmaschinenwerk zu berichten. Es war hochinteressant, Arbeiter und Künstler im Gespräch zu erleben. Und ich kam überdies noch in den Genuss einer wunderbaren Ballettmatinee. In der Redaktion erlebte ich eine offene Atmosphäre, auch in den Redaktionssitzungen, es gab keine bedrückenden Vorgaben bei Recherchen oder für die Textgestaltung. Ein schönes Jahr! Ich habe mich sehr wohl gefühlt unter den Karl-Marx-Städter Sachsen.

Bodenständig und sprachlich etwas anders als im Norden.

Ja. Eines Tages wurde ich gefragt, vielleicht wegen meiner norddeutschen Stimme, ob ich nicht Lust hätte, ein wenig Betriebsfunk in der Volksstimme zu machen, eine Art Pausenfüller war das, kleine Gedichte lesen, Anekdoten erzählen, über Beobachtungen aus dem Haus berichten.

Prüfung in Berlin, Kohle, Vorpraktikum: Das ist ein langer Weg von der Schule bis zum Studium.

Viele sind abgesprungen, auch die beiden Mädchen, mit denen ich die Wohnung in Hoyerswerda geteilt habe. Es war ja auch nicht einfach. Zu Hause haben wir natürlich über die Verzögerung diskutiert: Bringt das etwas? Ich habe es aber nie bedauert.

Wenn Sie Ihr Studium mit dem vergleichen müssten, was Sie selbst dann als Dozentin gemacht haben: Wie würden Sie das angehen?

Bei der Frage bricht viel in mir auf. Es gab doch so manche Situation, in der wir, mein Mann und ich, überlegt haben, nach Hause zu fahren, alles hinzuwerfen.

Nach Stralsund?

Nein, das vielleicht nicht, aber wir waren einfach ratlos. Es fing eigentlich schon an, bevor das Studium begonnen hatte. Im Kartoffeleinsatz in Lebien in der Nähe von Jessen. Wir wohnten bei den Bauern, in den Familien und wurden dort vorzüglich versorgt. Auf Anweisung der Fakultät sollten wir mit den Bauern diskutieren, sie überzeugen, ihre Fernsehantennen zu drehen.

Westfernsehen. Die Aktion Ochsenkopf nach dem Mauerbau (vgl. Meyen/Fiedler 2013: 224f.).

Ja. Damals habe ich angefangen, mich zu fragen, ob ich das eigentlich will. So einfach bei Leuten klopfen, nicht einen Anlass abwarten und dann das Gespräch suchen, sondern agitieren. Damit hatte ich Probleme, ich merkte, das kann ich nicht. Dazu kam die Sache mit der Partei. Wir sollten dort buchstäblich hineingeredet werden. Im großen Saal des Dorfgasthofs wurden wir an einen Tisch gesetzt und mussten eine Erklärung unterschreiben. Beaufsichtigt vom Assistenten Thomas Nikolaou, einem Exilkommunisten aus Griechenland. Diese Entscheidung wollte ich selbst treffen dürfen, nicht dazu gedrängt werden. Auch den Zeitpunkt. Verlangt war ein sofortiges Bekenntnis, nicht, wie wir dann formuliert haben: im Verlauf des ersten Studienjahres. Damals ist viel Vertrauen zerstört worden. Die Erklärung haben wir noch, am Ende des Studiums händigte man sie uns wieder aus, vielleicht eine Art Rehabilitierung. Ich habe den Text mit einer roten Kugelschreibermine geschrieben. Das war vielleicht eine stille Form meines Protests.

Wollten Sie nicht in die Partei?

Das ist ja der Widersinn. Ich hatte schon in der elften Klasse einen Antrag anlässlich des Geburtstags von Friedrich Engels gestellt, von dem ich viel gelesen hatte. Karl Mewis, 1. Sekretär der Bezirksleitung Rostock der SED, vertröstete mich damals: Liebe junge Genossin in spe, verstehe bitte, dass wir im Moment nur Arbeiterkinder aufnehmen können. Während des Studiums hat mich aber vieles davon abgehalten. Als Mitglied der Partei wurde ich erst auf der letzten Versammlung vor Studienabschluss aufgenommen. Diese späte Entscheidung hatte sicher noch manche andere Ursache. Ich habe hier einen Artikel aus dem Forum, vom 22. März 1962. „Experiment mit Sigrid“, eine ganze Seite, der manches verdeutlichen kann. Dort geht es um mich.

In der überregionalen Presse?

Im Forum, Organ des Zentralrats der FDJ, Zeitung der Studenten und der jungen Intelligenz, wie es im Untertitel heißt. Dort wird von „den ewigen Schweigern“ in unserer Seminargruppe berichtet und davon, wie ich „Vorbild für die ganze Gruppe“ geworden bin. Man hatte mich nämlich in die FDJ-Leitung gewählt und dort für wissenschaftliche Arbeit verantwortlich gemacht. Das wurde nun anderen FDJ-Gruppen als Rezept empfohlen.

Experiment mit Sigrid.

Man kann dort auch von „Bummelanten“ lesen, die immer den Wecker überhörten, und von einer Strichliste, die deshalb geführt wurde. Mir fällt noch so mancherlei ein.

Bitte.

FDJ-Versammlung im Roten Kloster, Anfang der 1950er Jahre (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Eine FDJ-Versammlung 1961, im großen Hörsaal in der Härtelstraße, kurz nach dem Mauerbau. Eine Studentin hatte sich die Pfennigabsätze ihrer Schuhe bei der Großmutter in Westberlin reparieren lassen, das machte zu der Zeit nicht jeder Schuhmacher in Leipzig, und es war mitunter ja auch eine „Ersatzteilfrage“. Nun wurde sie zur Rede gestellt. Sie hatte Blinddarmbeschwerden und krümmte sich vor Schmerzen, durfte während der „Anklage“ sogar sitzen. Oder das organisierte Zeitungsstudium nach Plenartagungen oder Parteitagen der SED. Die Dokumente waren durchzuarbeiten, wichtige Passagen zu unterstreichen, und dann wurde diskutiert. Wir hatten dabei mitunter Betreuer, die uns beaufsichtigten, Kommilitonen aus höheren Studienjahren. Ein Höhepunkt in dieser Beispielreihe ist aber vielleicht die mir versagte Spezialisierung im 3. Studienjahr. Ich wäre gern im Außenpolitikseminar gewesen, wurde aber für das Wirtschaftsseminar eingeteilt. Eigentlich ein Widersinn: Sollten dafür nicht gerade die politisch Verlässlichsten ausgesucht werden? Unser Studium darauf zu reduzieren, wäre jedoch nur die halbe Wahrheit.

Haben Sie für die andere Hälfte auch Beispiele?

Institutsgarten in Leipzig, Anfang der 1950er (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Ich muss ja nur mein Studienbuch befragen. Da sind natürlich zunächst die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer eingetragen: Dialektischer und Historischer Materialismus, Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus, Geschichte der Arbeiterbewegung, ein aktuell-politisches Seminar gab es übrigens auch, unter anderem geleitet von Franz Knipping. Da fällt mir ein Seminar im 1. Studienjahr bei Dr. Jung ein. Wir saßen um einen langen Tisch in einem der Seminarräume im Wilhelm-Wolf-Haus in der Tieckstraße, jeder konnte jedem in die Augen sehen, eigentlich wunderbar für Diskussionen. Da konfrontierte uns der Seminarleiter mit der Frage, warum wir Journalisten werden wollen.

Was haben Sie gesagt?

Ich glaube, wir haben alle Ähnliches geantwortet: Land und Leute kennenlernen, interessante Menschen treffen, Interviews führen, Beobachten, Schreiben. Vielleicht hat sich gar jemand getraut und die Möglichkeit zu reisen erwähnt. Dr. Jung war fassungslos, weil niemand gesagt hat, er wolle Parteijournalist werden.

Was steht noch alles im Studienbuch?

Hörsaal Anfang der 1950er (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Pressegeschichte, Presse der Sowjetunion und der volksdemokratischen Länder. Auf meinem Diplomzeugnis steht auch das Fach Presse der imperialistischen Länder und der jungen Nationalstaaten. Dann Einführung in die Journalistik, Theorie und Praxis der Pressearbeit. Und es gab eine Reihe hochinteressanter Lehrveranstaltungen. Mir fällt spontan ein, dass Elise Riesel vor übervollem Hörsaal bei uns las (vgl. Riesel 1959, Michaelis 2015). In jenem legendären Hörsaal 40, in dem auch Hans Mayer seine Vorlesungen gehalten hatte, bevor er 1963 nicht mehr von einer Westreise zurückgekehrt war. Auf dem Weg in den Hörsaal konnten wir vom Treppenaufgang durch eine große Maueröffnung in den Himmel sehen, das Universitätsgebäude zeigte noch manchen Bombenschaden und war für den Lehrbetrieb nur notdürftig hergerichtet worden. Mir fallen darüber hinaus auch Veranstaltungen zur deutschen Literaturgeschichte ein, zur Reisebriefliteratur bei Hedwig Voegt. Literaturkritik bei Rudi Winkler, westdeutsche Literatur bei Wolfgang Rödel, russische Literatur, sowjetische Literatur. Und es gab etwas, was dann der Studienreform zum Opfer fiel: das Institut für literarische Stilistik und Publizistik. Viele der zuletzt genannten Lehrveranstaltungen kamen aus diesem Bereich. Das alles habe ich sehr genossen.

War das der Grund, warum Sie an der Fakultät geblieben sind?

Bernhard Jahnel (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Nicht zuerst. Die Frauenquote war der unmittelbare Anlass. Gisela Boldt war offenbar beauftragt, mich heftig zu „bearbeiten“, und das tat sie dann auch, mit all den gängigen Argumenten. Sie selbst verließ allerdings kurz danach die Fakultät und ging zur LVZ. Ein Trupp von Männern unseres Studienjahres war schon benannt: Peter Richter, Winfried Fuchs, Klaus Preisigke, Dieter Schmekel. Mein Zwischenpraktikum hatte ich 1963 in Rostock, ein halbes Jahr in der Wirtschaftsredaktion der Ostsee-Zeitung mit einem dogmatischen Abteilungsleiter, Kurt Teßmann. Es war die Zeit der Agitationskästen mit vielen Vorgaben, bis in die Formulierung. Dort keimte vielleicht erstmals der Gedanke, es möge mir erspart bleiben, nach dem Studium in so eine Redaktion delegiert zu werden. Als ich nun gefragt wurde, ob ich an der Fakultät bleiben wolle, war ich zumindest nicht abgeneigt. Ich hatte ja auch mal Lehrerin werden wollen, und hier an der Fakultät könnte beides zusammenkommen, Lehren und Forschen. Gerade in dieser Hinsicht gab es einige Schlüsselerlebnisse. Dazu zählte die Entdeckung des Aufsatzes von Dietrich Schmidt „Journalistische Genres als Gestaltungs- und als Kampfformen“ in der Zeitschrift für Journalistik 1961, der mich bis zum Ende meiner Lehrtätigkeit begleiten sollte (vgl. Schmidt 1961). Ich habe ihn auch nach der Wende in meine Literaturempfehlungen aufgenommen, verknüpft mit der Hoffnung, vielleicht Neugier und Interesse für unsere wissenschaftlichen Arbeiten in der DDR zu wecken und dabei natürlich auch einen kritischen Blick auf unsere Literatur zu erwarten. Dazu kam die Dissertation von Willy Walther (1963). Als ich das gelesen hatte, spürte ich: So kann man journalistisches Tun durchschaubar, nach und nach handhabbar und damit auch lehrbar machen. Ein verführerischer Gedanke schon damals! Fast zeitgleich fand eine wissenschaftliche Konferenz „Um das Q in der journalistischen Arbeit“ statt (vgl. Schmidt/Vorwerk 1963). Dort wurden Fragen diskutiert, die mich sehr interessierten: Was Sprache alles mit Inhalten machen kann, wie originelle Blickwinkel einen Stoff zum Leuchten bringen und dem Leser Genuss bereiten. Wenn nur einiges davon zum Tragen käme, wäre meine Entscheidung zu bleiben, zumindest nicht falsch, befand ich damals. Und in die Reihe meiner Gründe gehört wohl auch der vertrauensvolle Kontakt zu Bernhard Jahnel, er war Betreuer meiner Diplomarbeit.

Worum ging es in der Arbeit?

Um die Iswestija. „Briefe aus der Redaktion in den Iswestija. Aufgaben und Gestaltung“, so der Titel (vgl. Mahlow 1965). Ich habe sie sogar auf einer Studentenkonferenz in russischer Sprache verteidigt. Die Konferenz hatte das große Thema „Die sowjetische Presse und die Erziehung des neuen kommunistischen Menschen“. Dazu passte meine Arbeit ja irgendwie, denn in den Briefen wurden ethisch-moralische Themen behandelt. Erstaunlich das Themenspektrum, auch die Konkretheit der Probleme, die die Leser selbst betrafen oder die sie in ihrem Umfeld beobachtet hatten. Arbeitsmoral, Unehrlichkeit, Betrug, Eigennutz, Beziehungen in der Familie, im Arbeitskollektiv, sogar Eheprobleme wurden verhandelt. Alles wurde von Mitarbeitern der Redaktion oder Autoren sehr differenziert, oft einfühlsam, und kritisch beleuchtet. Ich zog auch hier „meinen“ Dietrich Schmidt wieder zurate und stellte Genreüberlegungen an, betrachtete diese Briefe aus der Redaktion im Spiegel anderer Traditionen der Briefform in Zeitungen.

Ging es nach dem Diplom für Sie nahtlos weiter an der Fakultät?

Im November 1965 war unser Sohn in Stralsund geboren worden, im Januar 1966 habe ich dann als wissenschaftliche Assistentin angefangen.

In welcher Abteilung?

Zunächst bei Willy Walther im Institut für Rundfunkjournalistik. Vor den ersten Praxisseminaren kamen mir jedoch erhebliche Bedenken. Ich hatte, wohl etwas in Panik nach der Zeit in Rostock, lediglich ein paar Mikrofonübungen gemacht, Beobachtungen auf der Straße, kleine Gespräche mit Passanten, auch mit der Überlegung, nach dem Studium vielleicht doch beim Radio arbeiten zu können, zumal damals Nachwuchs gesucht wurde. Ich hatte aber noch nie ein Funkhaus betreten. Nach Gesprächen mit Willy Walther, dem ich mein Herz ausschüttete, bin ich auf seinen Rat hin bei Bernhard Jahnel vorstellig geworden. Da Kurt Starke zum Zentralinstitut für Jugendforschung gegangen war und Günter Raue als Korrespondent des ND nach Moskau, konnte ich problemlos in die Abteilung Presse der Sowjetunion und der volksdemokratischen Länder wechseln.

Ihr Name taucht dann aber sehr schnell in der journalistischen Methodik auf.

Bernhard Jahnel verließ im Zuge der Hochschulreform die Fakultät, ich weiß nicht, wem er im Wege war. Er hat mich vorher gefragt, wir hatten ja ein sehr vertrauensvolles Verhältnis, ob ich nicht wechseln wolle. Mein Herz schlage doch ohnehin für die Methodik. So kam ich in die Lehrgruppe von Arnold Hoffmann, habe von Anfang an Seminare gehalten und bin gleich hineingerutscht in das Freistellungsjahr, in dem die Ausbildung reformiert und die Grundlagen für unser Übungssystem geschaffen wurden (vgl. Meyen 2017).

Wie haben Sie diesen Prozess erlebt?

Emil Dusiska (links) bei einer Konferenz (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Unter Emil Dusiska war ein Grundmodell des journalistischen Schaffensprozesses erarbeitet worden. Und in der Folge sind dann mit einem großen Fundus an Diplomarbeiten die notwendigen Detailarbeiten geleistet worden. Es waren genau die Fragen, die mich schon eine ganze Weile umtrieben: Wie schreibt man eine Reportage, eine Nachricht, einen Kommentar? Und wie leitet man daraus Übungen, Übungsanleitungen und Lehrmethoden ab? Das war wissenschaftliche Arbeit unter praktischer Fragestellung, mit Blick auf eine praxisbezogene Ausbildung. Ich spürte eine wunderbare Aufbruchstimmung.

Gibt es jemanden, den Sie als Ihren akademischen Lehrer bezeichnen würden oder als Ihren Mentor?

Bernhard Jahnel. Und wenn ich die Frage ein wenig drehe und wende, fallen mir auch zwei Frauen ein, die mir in besonderer Weise Vorbild waren: Hildegard Morgenstern und Uta Starke. Frau Morgenstern war die Grande Dame unseres Hauses, eine Lady in Erscheinung und Auftreten. Und sie hatte eine besondere Gabe, die ich oft bewundert habe: In brisanten Diskussionen war sie mitunter das Zünglein an der Waage, sie verstand es, Diskussionen die unnötige Schärfe zu nehmen, ja, auch energisch entgegenzuhalten, wenn sie etwas nicht für richtig hielt. Rundum eine Respektsperson mit viel Herzenswärme. Uta Starke war eine Kämpferin, auch nach der Wende, als sich starke Ostfrauen noch ganz anderen Widerständen ausgesetzt sahen. Sie wäre eine würdige Professorin schon in der Sektion Journalistik gewesen. Als wissenschaftliche Vorbilder habe ich vor allem Hans Poerschke, Willy Walther und Gottfried Braun verehrt.

Der Bruder von Volker Braun.

Ja. Gottfried war für mich der theoretische Kopf in der journalistischen Methodik. Kennen Sie seine Dissertation B?

Kommunikationsstrategien, ja (vgl. Braun 1988).

Sigrid Hoyer (rechts) mit Studenten, Mitte der 1970er Jahre (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Für mich ein Standardwerk. Gottfried Braun hatte zum Beispiel in Texten der Berliner Journalistin Gisela Karau eine Form entdeckt, die buchstäblich mehrere Gattungen vereinte: ein wenig Kommentar, auch etwas Feuilleton und dem Essay verwandt. Also eine Kolumne, hätten wir vielleicht spontan gesagt. Aber der Begriff war im DDR-Journalismus ja verpönt. So fand ich übrigens von der Betrachtung, die in dieser Arbeit als journalistische Gattung präsentiert wird, zum Essay. Ich beschäftigte mich mit Untersuchungen der Hallenser Literaturwissenschaftlerin Annemarie Auer, mit Texten von Inge von Wangenheim. „Die Geschichte und unsere Geschichten“ ist mir besonders in Erinnerung. Und dann war es nicht mehr weit zu Montaigne, dem Urahn dieser Form. Der Essay war in der Presse der DDR ja eher spärlich vertreten. Eine Textform, die nach Antworten sucht statt sie vorzugeben, die den Zweifel zulässt, Probleme benennt und die Wirklichkeit nicht beschönigt, das war schwer vorstellbar. Zunächst eigentlich nur ein Hobby, nach der Wende konnte ich dann, so vorbereitet, auch mit Seminaren zum Essay starten.

Die Frage nach dem Mentor haben Sie bisher umschifft.

Wenn ich Mentor wörtlich nehme, erfahrener Berater, Förderer, auch Fürsprecher, dann trifft das im besten Sinne des Wortes auf Bernhard Jahnel zu, mit dem für mich alles anfing. Später stand mir Karl-Heinz Röhr auf gleiche Weise zur Seite. Er führte mich zielstrebig zum Erwerb der Facultas docendi, drängte mich immer wieder, meine Untersuchungen zur Ideenfindung in den wissenschaftlichen Heften der Sektion zu veröffentlichen, band mich in die Vorbereitung des neuen Lehrbuchs ein, regte Vorträge auf wissenschaftlichen Konferenzen an, sorgte dafür, dass ich regelmäßig bei Weiterbildungsveranstaltungen des DJV mit Vorträgen vertreten war. Die Reihe ließe sich noch fortsetzen. Ich verdanke Karl-Heinz Röhr viele produktive Anstöße und so manche Nische.

Ihre Dissertation hat Röhr aber nicht betreut (vgl. Hoyer 1973).

Wolfgang Rödel (links) und Heinrich Bruhn (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Nein, Arnold Hoffmann. Ich war zu der Zeit noch in der Lehrgruppe Schaffensprozess. Er hat das Thema vorgeschlagen. Von Wolfgang Rödel, den ich konsultierte, kamen erste hilfreiche Anstöße. Er riet mir zum Beispiel, den Zugang zum Thema über Fragen journalistischer Meisterschaft zu suchen, und er lenkte meinen Blick auf „die Mühen lange vor dem Schreiben“.

Kisch.

Ja. Wir hatten damals natürlich viel von Georg Klaus gelesen: Die Macht des Wortes, Kybernetik und Erkenntnistheorie, Sprache der Politik. Davon inspiriert, entdeckte ich auch Schriften von Werner Gilde am Zentralinstitut für Schweißtechnik in Halle, „Ideen muss man haben“ und anderes zur Kreativität. Alles aber noch weit weg von der Journalistik. Und ich beobachtete mit Interesse, was Hans-Georg und Gerlinde Mehlhorn, die Leipziger Kreativitätsforscher, vorhatten, welche Modelle sie für die Pädagogik entwickelten. Die eigentliche Entdeckung aber war Franz Loeser, der an der Berliner Humboldt-Universität einen Lehrstuhl für Ethik innehatte und Heuristik lehrte. Ich habe ihm geschrieben und angefragt, ob ich ihn besuchen dürfe. Unser Gespräch übertraf alle meine Erwartungen. Heute habe ich immer noch zwei Sätze von ihm im Ohr: Sie müssen einen langen Atem haben. Und er sagte das so, als setze er mindestens drei Ausrufezeichen hinter diesen Satz. Und: Die Meinung, Grundlagenforschung müsse gleich anwendbar sein, das sei der Tod aller Wissenschaft. Beeindruckend vor allem sein Anspruch: Er war überzeugt, dass auch der kreative Prozess formalisierbare Eigenschaften hat, somit eine Logik des schöpferischen Denkens möglich wäre. Dafür Ansätze zu liefern, würde er als Krönung seiner wissenschaftlichen Arbeit, ja, seines Lebens betrachten.

Das kling nach Anregung und Ansporn.

Terra incognita, der ich mich zuwandte, so lässt sich mein Gefühl damals vielleicht beschreiben. Und natürlich wurde meine Arbeit nur eine erste Annäherung an das große Thema, aber ich habe die Tür aufgestoßen, den Blick geöffnet für die subjektiven Seiten journalistischen Schaffens und damit mein Thema für viele Jahre gefunden.

Franz Loeser ist in den Westen gegangen (vgl. Loeser 1984).

Ich habe sehr bedauert, dass die führenden Parteikader nicht die Größe und das Vertrauen hatten, Franz Loeser die Freiräume zu geben, die er für seine Forschungen gebraucht hätte, statt ihn zu beargwöhnen und ihm gar zu unterstellen, sozialismusfeindlich zu sein.

Sie haben alle fünf Dekane und Direktoren von Fakultät und Sektion in Leipzig erlebt. Wenn Sie diese fünf Männer vergleichen müssten: Wie würden Sie das machen?

Von links: Georg Mayer, Hermann Budzislawski, Rudi Singer, Rektor Georg Müller (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Budzislawski haben wir vielleicht nicht in erster Linie als Wissenschaftler wahrgenommen. Uns beeindruckten wohl eher andere Seiten seiner Persönlichkeit, seine Mitarbeit an der Weltbühne in Berlin, später seine Tätigkeit von Prag aus als Herausgeber und Chefredakteur der Weltbühne. Und er hatte mit vielen bekannten Persönlichkeiten im Exil Kontakt. Anna Seghers, Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Arnold Zweig. Er brachte ein Stück Welt und Welterfahrung zu uns in die Tieckstraße. Wenn er im Haus weilte, waren alle voller Ehrfurcht, angefangen bei der Pförtnerin bis zum letzten Mitarbeiter. Wir Studenten genossen seine Vorlesungen. Wenn er vorn am Pult, immer mit Fliege, in kleinen Schritten hin und herging und uns in die Journalistik einführte, Überlegungen zu den Genres und ihren Merkmalen ausbreitete, konnte das zum Erlebnis werden. Und ich nahm mit Interesse auf, was er zu den Beziehungen zwischen Literatur und Journalismus zu sagen hatte. Später war dann alles auch in seinem Buch Sozialistische Journalistik nachzulesen, und wir hatten damit ein Lehrbuch für unser Fach (vgl. Budzislawski 1966)!

Nach Budzislawski wurde Wolfgang Rödel Dekan (vgl. Knipping 2017).

Rektor Georg Mayer (links) und Wolfgang Rödel (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Er brachte die westdeutsche Literatur in unseren Hörsaal, er brillierte in seinen Vorlesungen, aber nicht nur mit dem Stoff, den er ausbreitete, sondern auch sprachlich. Es war ein Genuss, ihm zuzuhören. Leider war er nur kurze Zeit Dekan, vielleicht wollte oder konnte er die Bürde des Amtes nicht länger tragen.

Man war als Leitungskader ja nur bedingt Herr der Situation. Franz Knipping wurde auch weggeschickt (vgl. Knipping 2017).

Knipping kenne ich zu wenig. Ich fand ihn sehr zurückhaltend und immer ein wenig steif. Auf seinem Gebiet war er sicher eine Koryphäe. Dusiska habe ich vor allem in den Jahren erlebt, in denen ich Mitglied der Sektionsparteileitung war. Im persönlichen Kontakt war er zugewandt und interessiert, erkundigte sich nach persönlichen Dingen und nach unserer Arbeit, lud auch mal schnell eine Gruppe junger Leute in seine kleine Leipziger Wohnung ein und diskutierte mit uns. Und er brachte die neue Sicht auf die Methodik nach Leipzig und auch ein bisschen Welt. Finnland, die AIERI (vgl. Meyen 2016, 2018). Gerhard Fuchs war der Blasseste von allen. Ein Verwalter, ein Funktionär.

Wie wurde in der Parteileitung gesprochen?

Gerhard Fuchs (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Die Sitzungen wurden oft von zwei Männern dominiert, Emil Dusiska und Hans Poerschke. Der eine scharfzüngig und sich seiner immer sehr gewiss, der andere ein Suchender, abwägend, dem Zweifel näher als der Gewissheit und niemals mit dem Anspruch, im Besitz der letzten Wahrheit zu sein. Hohe Schule der Rhetorik! Und manchmal ging es dabei durchaus laut und heftig zu. Wir Jungen hörten eher respektvoll zu.

Karl-Heinz Röhr (2015) hat die Universität als Nische beschrieben, wo man relativ unbehelligt von der Parteiführung seine Sachen machen konnte.

Zum Teil stimmt das sicher. Ich glaube aber, Karl-Heinz wollte das auch so sehen. Ich habe ihn als Familienmenschen erlebt, der uns alle gern an einem großen Tisch versammelte und Verständigung suchte über die Fragen, die uns fachlich und politisch umtrieben. Ihm war der ehrliche Gedankenaustausch wichtig. Eine offene Gesprächsatmosphäre. Ich kann mich an manche ratlose, ja quälende Diskussion erinnern, vor allem in der bleiernen Zeit Ende der 1980er Jahre, dieses ewige Zwischen-den-Zeilen-Lesen, um wenigstens den kleinsten Ansatz einer Erklärung zu finden für all die bedrückenden Fragen. Wenn aber nach der Wende zu hören war, dass in diesem Raum auch Wanzen hingen, dann spürt man den ganzen Widersinn jener Zeit. Vielleicht gründet sich das Empfinden von Karl-Heinz Röhr ja auch auf die Zeit in der Tieckstraße, die familiäre Atmosphäre dort, fast eine Idylle inmitten der Villen, fernab von Berlin und auch ein wenig abgeschirmt von der restlichen Universität, da konnte dieses Gefühl, ganz unter uns zu sein, durchaus entstehen. Wir waren lange eine Assistenten-Fakultät, die meisten unserer Lehrer waren kaum älter als wir, und unter uns gab es noch viele Studenten, die an einer Arbeiter- und Bauernfakultät ihr Abitur abgelegt hatten. Auch sie bestimmten Ton und Umgang miteinander, alles sehr unakademisch, es herrschte eine freimütige Atmosphäre trotz mancher Bedrängnis, wie ich sie geschildert habe. Selbst die Prominentenkinder immer in Sichtweite. Steffi Henselmann, Daniela Dahn, Thomas Brasch, Peter Sindermann.

Wie autonom waren Sie in der Lehre?

Studentenidylle im Roten Kloster, Anfang der 1950er (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Es gab gemeinsame Seminarpläne. Einer von uns, die wir in Parallelseminaren tätig waren, wurde beauftragt, den Plan auszuarbeiten. Der wurde dann besprochen, aber dann verfolgte eigentlich jeder, je nach Wollen und Vermögen, seine eigene Strategie. Ich kenne viele Kollegen, die mit großem Aufwand ihre Seminare vorbereiteten. Es gab also genügend Möglichkeiten, das unterbringen, was einem selbst wichtig war, für Beispiele fühlte ich mich ohnehin selbst zuständig, das fing ja schon bei der Wahl der Zeitungen an, ich arbeitete vielfach mit Texten aus der Jungen Welt und der Wochenpost. Auch für Etüden, kleine Ideenübungen fand sich hinreichend Zeit. Und in einem unserer letzten Lehrprogramme von 1988 finde ich auch eine Vorlesung und Seminare, die ich zu Ideenfindung und Originalität gehalten habe. Da hatte ich wirklich meine Nische. Aber wenn wir von Autonomie in der Lehre reden, fällt mir natürlich das Niemandsland ein, der Freiraum zwischen den beiden Welten, als alles möglich schien.

Die Zeit zwischen dem Ende der DDR und der Neugründung?

In der Studienprogrammkommission haben wir in Arbeitskreisen zusammen mit Studenten diskutiert, wie ein künftiges Ausbildungsprogramm aussehen könnte. Wahre Traumhäuser haben wir damals gebaut. In den Studienjahren 1989/90 und vor allem 1990/91 konnte ich vieles einbringen, wozu ich geforscht habe: Konzipieren, Ideenfindung, Beobachtungsrecherche, Ideenfindung, Gestaltung von Ideen in Texten ausgewählter journalistischer Genres und hier natürlich Seminare zu den Gattungen, die mir die liebsten waren: Glosse, Feuilleton, Betrachtung, Essay. Das entbehrte im Ganzen gesehen allerdings jeder Systematik. Ich wagte sogar ein Seminar zu Techniken der Ideenfindung. Ein hochtrabender Titel. Die reinste Spielwiese, aber alles war möglich. In den Übungstexten dieser Jahre dokumentierten meine Studenten wahrlich ein Stück Zeitgeschichte, sie brachten unmittelbares Erleben, viele aktuelle Erfahrungen in ihre Texte ein. Damals führte ich ein, was ich auch die Jahre danach beibehalten habe: eine Sammlung aller Übungstexte ohne Namensangabe im Handapparat vor dem jeweiligen Seminar auszulegen, damit alle sie lesen könnten. Nie wieder habe ich so lebendige, so erregende, berührende Diskussionen erlebt wie in jener Zeit! Ich ließ auch eine Semesterarbeit schreiben, die die journalistisch- handwerkliche Ausbildung in den westlichen Bundesländern erkundete. Von über 30 Ausbildungsstätten, die wir angeschrieben hatten, antworteten immerhin 26. Wir versuchten in dieser Übergangszeit, uns rundum kundig zu machen und zu schauen, was anderswo gemacht wird. Auch die Bücher westdeutscher Autoren zum Journalismus bezogen wir mit ein, allen voran die von Michael Haller.

Wie haben Sie Ihre Rolle in der DDR interpretiert? Als Wissenschaftlerin, als Lehrerin, als Politikerin wie Wolfgang Tiedke (2011)?

Sigrid Hoyer (links) in großer Studentenrunde, Mitte der 1970er (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Im Rückblick lässt sich die Frage, glaube ich, relativ eindeutig beantworten: In erster Linie verstand ich mich immer als Seminarleiterin, sehr gern war ich auch Seminargruppenbetreuerin. Meine Seminare waren wie ein zweites Zuhause für mich. Mit Aufwand und Freude habe ich die Vorbereitung betrieben, Beispiele präpariert, die Übungstexte durchgearbeitet und mit Kommentaren versehen. Nirgendwo anders habe ich meine Studenten so kennengelernt wie in ihren Texten, egal zu welchem Thema sie geschrieben haben. Noch heute passiert es mir, wenn ich ehemalige Studenten treffe, dass mir mitunter vor dem Namen zuerst der eine oder andere Text einfällt, den sie in einem meiner Seminare geschrieben haben.

Haben Sie eine Idee, woher das kam?

Kein Methodiker, ein Stilistiker, Siegfried Krahl, hat während meines Studiums offenbar diese Lust und Freude an solcherart Textanalyse in mir geweckt. Er öffnete unseren Blick für Gestaltungsräume, zeigte uns, was Sprache alles mit dem Inhalt eines Textes machen kann, wie Stilelemente wichtige Aussagen transportieren, den Text originell strukturieren, Metaphern als Bedeutungsträger wirken. Eigentlich waren seine Seminare ein Vorgriff auf die spätere Ausbildung, sie verbanden Stilistik und Methodik schon damals in hervorragender Weise.

Und die Forschung zur Ideenfindung?

Ich geriet damit zunehmend auf sumpfigen Boden, vor allem mit meiner Dissertation B zum Thema „Finden und Gestalten von Ideen in der Arbeit am einzelnen journalistischen Beitrag“. Zur Vorbereitung hatte ich Dutzende Jahres- und Diplomarbeiten zur Ideenfindung betreut, außerdem Werkstattgespräche mit Journalisten aller Medien und die Gespräche, die Studenten geführt haben, konzipiert und begleitet. Ich war bei Hans-Dieter Schütt in der Jungen Welt, bei Jürgen Nowak vom Neuen Deutschland, der auch mein Studienkollege war, bei Rosemarie Rehahn, Fred Seeger und Margot Pfannstiel von der Wochenpost, Heidy Glöckner und Maria Dahms vom Sender Leipzig. Das waren natürlich ganz besondere Begegnungen. Vor allem sprach ich aber mit Kollegen aus den Bezirkszeitungen der SED. Diese Begegnungen machten mich in bedrückender Weise mit den Problemen in den Redaktionen vertraut und zeigten mir, wo „gute“ Forscherabsicht mit der Wirklichkeit kollidiert. So mancher Gesprächspartner bat mich, das Protokoll unseres Gesprächs unter Verschluss zu halten, oder schilderte mir die Situation in der Redaktion nur hinter vorgehaltener Hand. In einem Brief schrieb mir einer meiner Gesprächspartner: „Mein Schöpfertum wird entscheidend durch äußere Faktoren beeinflusst: durch handfeste politische Entscheidungen, Argumentationsvorgaben, durch die ständige Situation, dass politische Erwägungen ein Thema ‚freigeben‘ oder nicht ‚freigeben‘.“ Und an anderer Stelle: „diese ewige Sicherungstendenz. Ich bin schon so voller Einsichten, was ich darf und was ich nicht darf. Und wenn ich ehrlich bin, dann motiviere ich damit auch so manches Hinbiegen der Wirklichkeit.“

Das Dilemma des sozialistischen Journalismus.

Journalistikstudenten, Mitte der 1970er (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Hier wurde das auf den Punkt gebracht: der ewige Kampf mit den Vorgaben von oben. Die Indoktrinierung. Darunter haben viele Journalisten gelitten. Und das wurde zunehmend auch unser, mein Dilemma: Das politisch Richtige auch wirksam sagen, war unsere Losung. Daraus leiteten wir für die Methodikausbildung ab, handwerklich gut gerüstete Journalisten auszubilden, die das Ideal, das wir verfolgten, auch wirkungsvoll vermitteln können. Wir haben das Fach Methodik immer als politisches Fach gesehen. Und ich unterlag zunehmend dem Irrglauben, wir könnten mit unseren Forschungen zur Ideenfindung zu einem besseren Journalismus beitragen. Oftmals haben wir, gerade in den Werkstattgesprächen weniger scherzhaft als verzweifelt gesagt, wir helfen dabei, die Wirklichkeit „anzuhübschen“. Die Form war zum Diener vorgegebener Argumente und Inhalte geworden. Wir merkten durchaus, wo die Ursachen wirklich liegen.

Und die Dissertation B?

Ich wollte die Arbeit abbrechen, hatte sie schon einmal unterbrochen, aber das neue Lehrbuch war geplant, wir waren mitten in der Vorbereitung, ich war mit mehreren Vorarbeiten beauftragt (vgl. Röhr 1990, Wonn 2020). Also bündelte ich alles, was ich hatte, aber ohne den ursprünglich geplanten umfangreichen Anhang. Eingereicht habe ich die Arbeit im August 1989, am 8. November wurde das Promotionsverfahren eröffnet.

Verrückt.

Ja. Vielleicht hätte man etwas ahnen können, es knisterte ja schon überall. An den Thesen musste ich mehrfach etwas ändern, wenn auch nur Kleinigkeiten: Mal passte ein Zitat von Georg Klaus nicht, mal war es ein Gedanke von Volker Braun zur Wahrheit, den ich an den Anfang gestellt hatte, und der missverstanden werden könnte. Überall lauerten Vorsicht und Angst.

Was ist aus der Arbeit geworden?

Je mehr die Situation im Herbst 89 eskalierte, desto auswegloser erschien natürlich alles. Aber ich muss auch gestehen, dass eigentlich gar keine Zeit war, viel darüber nachzudenken. Wie viel Geschichte verträgt der Mensch, fragte Annette Rammelsberger im 30. Jahr der Wende in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung, auf ihre Erlebnisse 1989 zurückblickend, als sie AP-Korrespondentin in Berlin war. Wir mussten viel Geschichte ertragen in einer Zeit, als sich die Ereignisse um uns überschlugen, wir fühlten uns dem Geschehen bisweilen geradezu ausgeliefert.

Zurück zur Dissertation B.

Hermann Duncker zu Besuch im Roten Kloster, Herbst 1952 (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Karl-Heinz Röhr hat versucht, einen Ausweg zu finden. Im Januar 1990 schrieb er einen Brief an den Dekan der Fakultät für Kultur-, Sprach- und Erziehungswissenschaften, zu der unsere Sektion gehörte, und beantragte eine Sonderregelung für meine Arbeit. Er bat darum, mir eine Nacharbeit zu ermöglichen, machte dafür auch Vorschläge und bot mir Rat und Hilfe an. Da bekannte sich einer in diesen turbulenten Zeiten vehement zu dem, was wir „unter anderen Rahmenbedingungen“, wie er schrieb, in der Forschung zur Ideenfindung im journalistischen Schaffen gemacht haben! Und zeigte auch auf, was seiner Meinung nach unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen Bestand haben könnte. Er versuchte damit, zumindest nicht hinzunehmen, was eigentlich längst unabänderlich schien. Ich kann diesen Brief heute – drei Jahrzehnte später – nicht ohne Erregung lesen. Konnte man das in dieser Zeit, als Ratlosigkeit, Ungewissheit, Angst fast jeden von uns mehr oder weniger bedrängten, von jemandem überhaupt erwarten?

Wie haben Sie reagiert?

Ich konnte mir nur vorstellen, die Arbeit so zu verteidigen, wie sie war. Ich wollte ihren wissenschaftlichen Wert begutachtet sehen, ungeachtet ihrer Einbindung in politische Gegebenheiten, die nun andere waren als zur Zeit ihrer Erarbeitung. In der DDR haben wir Meinungspluralismus eingefordert, gilt das nicht auch für die Wissenschaft, habe ich mich damals gefragt. Ändern konnte und wollte ich nichts. Ich hätte das auch als eine Art Abschwören verstanden, eine Kehrtwendung, die ich nicht einmal denken wollte. „Ich weiß gerade nicht, wo mein Platz ist,“ sagt Paul, einst Direktor des VEB Kühlautomat in Berlin, in dem Zweiteiler „Preis der Freiheit“, der im Herbst im ZDF lief, zu seiner Frau, als sie ihm in der Silvesternacht 89 ein Foto von dem Haus zeigt, das sie gerade gekauft hat. Diese knappen Worte beschreiben sehr gut, wie einem damals zumute war, in diesem Spannungsfeld zwischen Ausgeliefertsein und schier unendlichen Möglichkeiten.

Wie sind Sie Mitglied der Gründungskommission geworden?

Gerhard Piskol, Ursula Wächter und ich wurden auf einer Vollversammlung der Sektion als Vertreter des Mittelbaus gewählt. Natürlich ehrte uns das Vertrauen, aber die Verantwortung drückte auch. Niemals vorher und auch später nicht hatte ich so viele, zum Teil auch enge Kontakte zu meinen Kollegen. Manche habe ich damals erst richtig kennengelernt. Uns einte ja die Angst um den Arbeitsplatz, die Furcht, unsere Berufsabschlüsse würden nicht anerkannt. Wie würde es überhaupt weitergehen? Und dann begann dieses Gemeinschaftsgefühl langsam zu bröckeln. Einige Kollegen versuchten, sich auf unschöne Weise zu profilieren. Und der eine oder andere unterstellte uns sogar, wir würden nur deshalb in der Gründungskommission mitarbeiten, um unseren Arbeitsplatz zu sichern. Das schmerzte sehr.

Wie war die Beziehung zu Karl Friedrich Reimers, dem Gründungsdekan?

Im Februar 1991 fuhr ich mit Hans Poerschke und Thomas Datt, einem Vertreter der Studenten, nach München. Karl Friedrich Reimers erkundigte sich nach vielem, fragte auch nach persönlichen Dingen. Man merkte, dass er gut vorbereitet war, dass ihm auch die DDR in allen ihren Gegebenheiten kein unbekanntes Land war. Wir saßen an einem großen runden Tisch, und Herr Reimers machte kein Hehl daraus, was für ein risikoreicher, problembeladener Prozess auf uns zukommen würde. Und natürlich stand die Frage im Raum, dass der Gründungsdekan in der Startphase seiner Arbeit auch nach Wissenschaftlerpersönlichkeiten suchen müsste, die diesen Prozess begleiten. Hier positionierte er sich jedoch sofort sehr deutlich, indem er fachliche Kompetenz und persönliche sowie politische Unabhängigkeit zur Voraussetzung machte. In seinem Vortrag „Von der DDR-Journalistik an der Karl-Marx-Universität zur Kommunikations- und Medienwissenschaft an der heutigen Universität Leipzig“ referierte er 1996 dazu einige Erfahrungen: „Politisch-selbstherrliche Bundesbürger, die man noch kurz zuvor vermutlich ohne Erfolg gefragt hätte, wo denn die heutigen Ostdeutschen ‚eigentlich‘ leben und wie deren andere deutsche Wirklichkeit zeitgeschichtlich verstanden werden könnte, reklamieren für sich über Nacht den Status des frühen, hochausgewiesenen Experten und standen so pochend vor der Tür. Wissenschaftler, denen in den alten Bundesländern meistens aus triftigen Gründen die Qualifikation für eine anspruchsvolle Professur unmöglich war, fühlten sich nun dazu berufen, ‚im Osten‘ hochschulstrategische Pilot- und Profilaufgaben zu übernehmen“ (vgl. Reimers 2003). Ich zitiere das, weil es verdeutlicht, was auf uns zukam, und auch, wie Reimers hier Position bezog.

Wie war das Verhältnis zu den anderen Professoren in der Gründungskommission?

Ich habe Günther Rager bevorzugt. Das hatte mit dem Journalistikstudiengang in Dortmund zu tun, das Ausbildungskonzept kannten wir. Und wir erhofften uns von ihm einen Fortbestand der Journalistenausbildung. Neugierig war ich auf die Frauen: andere Biografien, andere Lebenssichten, ein anderes Erscheinungsbild. Dazu gehörten die alte Dame Hertha Sturm von der Universität Koblenz-Landau, die Herr Reimers, wie auch Gerhard Maletzke, als Berater der Gründungskommission berufen hatte, und Barbara Baerns. Sie kannte sich aus, an der Freien Universität waren alle unsere Lehrmaterialien gesammelt worden. Das merkte man in der Diskussion. Und wir fühlten ihr Interesse, ich hatte auch später noch manchen telefonischen Kontakt mit ihr.

Und die anderen Männer?

Besonders neugierig war ich auf Gerhard Maletzke, einen Klassiker, wenn nicht der Klassiker der Kommunikationswissenschaft in Deutschland. Wir kannten nicht nur seinen Namen. Und ich spürte sofort: Er weiß, wovon wir reden, wenn das Gespräch auf die DDR kam. Sein Bruder lebte in der DDR, Gerhard Maletzke kannte unser Land nicht nur von außen. Auch später ließ ich selten eine Gelegenheit aus, ihn zu treffen, wenn er in Leipzig weilte. Ich erinnerte mich damals, dass Uta Starke von einer Reise nach Allensbach zu Elisabeth Noelle-Neumann Literatur mitgebracht hatte, darunter möglicherweise auch das Standardwerk von Gerhard Maletzke (1963). Woran ich mich allerdings recht genau erinnerte: Ich sah uns vor einem großen Blatt Papier sitzen, auf dem wir Kommunikationsmodelle aufgezeichnet hatten und diskutierten. Ganz sicher war Maletzkes Modell dabei. Ich erinnere mich ebenso an anregende Gespräche mit Franz Stuke aus Bochum. Nach Beendigung der Arbeit in der Gründungskommission schrieb er uns in einem Brief: „Ganz besonders froh bin ich über die Begegnung mit Ihnen – ich habe persönlich aus den zahllosen ‚offiziellen‘ und persönlichen Gesprächen viel gelernt über die Bedingungen von Ex-DDR und Ex-BRD und ihrem – wie auch immer – erzwungenen ‚Zusammenwachsen‘. Und ich weiß vor allem, dass die übliche ‚Kolonialisierungsmentalität‘ so falsch ist wie nur etwas.“

Wie viel Einfluss hatte Sigrid Hoyer auf das, was da neu gegründet wurde? Wie viel Einfluss hatten die Leipziger?

Ich habe mich immer gehört gefühlt in der Gründungskommission. Herr Reimers hat mich auch oft beiseite genommen und nachgefragt, ob ich Vorbehalte hätte oder es noch etwas zu bedenken gäbe. Wenn ich vieles auch nur schwer und manches gar nicht wegstecken konnte und kann, was in den Wendejahren geschehen ist und uns zugemutet wurde, so muss und kann ich die ehrliche, immer geradlinige Zuwendung von Herrn Reimers hoch anerkennen. Wir Ostkollegen spürten sein Verständnis für unsere Lage und immer wieder auch seine Fürsorge. Bis zuletzt hat er versucht, Hans Poerschke ein Bleiben, wenigstens aber ein längeres Bleiben zu ermöglichen. Mit ihm war hier in der Gründungskommission eine starke Persönlichkeit am Werk, mit viel Kraft und Weitsicht, einem nahezu untrüglichen Gefühl dafür, was unter den Bedingungen damals ging und was nicht ging, und dem Talent, den Spielraum zwischen den Polen geschickt zu nutzen. Eine Leipziger Journalistik, wie wir sie uns vorstellten, konnten wir von ihm jedoch nicht erwarten.

Warum nicht?

Eine Integration der ostdeutschen Journalistik in ein nun gesamtdeutsch geprägtes Ausbildungsprogramm, das wäre auf die Schnelle gar nicht möglich gewesen. Das hätte Zeit erfordert zum Nachdenken, zum gemeinsamen Diskutieren mit Vertretern beider Seiten. Wir hatten ja unter uns schon in der Studienprogrammkommission mit dieser Diskussion begonnen, aber schnell begriffen, dass es mit einem bloßen Weglassen der ideologischen Aspekte bei weitem nicht getan wäre. Und eine Diskussion mit den westdeutschen Kollegen über allgemeingültige Merkmale und Elemente journalistischer Arbeit, die in unseren Konzepten durchaus vorhanden sind, ungeachtet des politischen Systems, in dem sie entstanden sind, hätte eine vorurteilsfreie, offene Atmosphäre vorausgesetzt, um die unterschiedlichen Denkansätze respektvoll und in gegenseitiger Achtung zu prüfen. Ganz und gar unvorstellbar damals, so mein Gefühl noch heute. Insofern standen die Fragen, die uns vor allem bewegten, hier nicht zur Debatte. Hier ging es um ein vorbereitetes Gefäß und weitgehend vorgedachte Inhalte der Ausbildung. Nach westdeutschen Mustern und Regeln. Mit dem Konzept der zwei Hauptfächer, das Gertraud Linz und Michael Haller später entwickelten, konnte ich mich durchaus anfreunden. Wir hatten ja früher an der Sektion mit dem Kombinationsstudium für einige Jahre ein ähnliches Modell.

Günther Rager (2015) hat mir gesagt, er sei der Einzige gewesen, der die Journalistik in großem Stil fortführen wollte.

Natürlich war Rager unser Wunschkandidat. Wir hatten schon während unserer Arbeit in der Studienprogrammkommission die Fühler ausgestreckt und Informationen über ihn eingeholt. Auch unsere Studenten sind gereist. Rager hätte ein journalistisch geprägtes Institut gebaut. Der Traum von einer Leipziger Journalistik, die mit ihm vielleicht die wilde Zeit der Wende überleben könnte, war aber schnell begraben. Hans Poerschke und Günther Rager hatten in Dresden, mit einem Konzept in der Tasche, noch einmal einen Vorstoß versucht. Aber vergeblich. Und im Rückblick kann man natürlich fragen, ob Rager sein Programm so gut hätte durchsetzen können, wie es Reimers mit seinem Fünf-Säulen-Modell am Ende gelungen ist.

Wie hätte die Neugründung ausgesehen, wenn Sigrid Hoyer das allein hätte bestimmen können?

Ein verführerisches Gedankenspiel! Wenn es dabei nicht nur um Träumerei geht, sondern auch um die Frage, was bei einer Neugründung von unserem Ausbildungskonzept Bestand gehabt haben könnte, will ich einige Gedanken wagen. Ich bin ein Kind der Leipziger Journalistenausbildung, habe ihr Werden und Wachsen fast von Anfang an erlebt und zum Teil mitgestalten dürfen, von der zunächst schmalen, unsystematischen handwerklichen Ausbildung im Fach Theorie und Praxis der Pressearbeit über die Entwicklung des Modells vom journalistischen Schaffensprozeß, die Erkundung und Beschreibung journalistischer Genres bis zur zunehmenden Einbeziehung subjektiver Elemente in Forschung und Lehre. Von all dem war schon die Rede. Wie könnte ich da gleichgültig sein, wenn die Zukunft dieses Modells in Frage steht.

Das war die Vorrede.

Ich konnte mir also ganz und gar nicht vorstellen, auf diesen östlichen Bestand journalistikwissenschaftlicher Forschung und Ausbildung zu verzichten. Wie das in ein neues Ausbildungskonzept gepasst hätte, darüber wäre in einem Kreis von Ost- und Westkollegen zu diskutieren gewesen. Ich habe darüber schon etwas gesagt. Sicher ein schwieriges Unterfangen, aber bei viel gutem Willen und dem nötigen Respekt durchaus denkbar. Ich halte die handwerklichen Aspekte und Elemente unserer Forschung und vor allem in der Ausbildung nach wie vor, und erst recht nach meiner Tätigkeit im neuen Institut, für brauchbar. Ich würde auch das Haller‘sche Modell journalistischer Darstellungsformen einbeziehen, entweder im Verein mit unserem oder im Nebeneinander. Nachgedacht habe ich oft darüber. Warum sollten nicht verschiedene Schulen und Systematiken journalistischer Gattungen auch nebeneinander Platz finden? Manches hätte uns, auch mit der in der DDR lange erprobten Verzahnung mit dem Fach Stilistik, vielleicht ein Alleinstellungsmerkmal im neuen Deutschland bescheren können, aber diese Konkurrenz hätte erwünscht, gewollt sein müssen. In meinen Einführungsseminaren nach der Wende habe ich immer einen Überblick über die verschiedenen Schulen gegeben und ihre jeweiligen Vorzüge und Nachteile diskutiert. Ein bescheidener Versuch.

Wo wäre in diesem Konzept Sigrid Hoyer?

Diskussion an der Sektion Journalistik 1990. Hans Poerschke (links) und Klaus Preisigke. Im Hintergrund: Günther Rager (Quelle: Privatarchiv Klaus Preisigke).

Hier, in diesem Kanon, würde ich, wenn ich das Sagen hätte, mir auch ein Orchideenfach schenken: der Essay als journalistische Textgattung. Damit würde ich nicht nur mich selbst belohnen, sondern alle meine Studenten, die mit mir in einem Forschungsseminar, in Zeitungsanalysen, Werkstattgesprächen mit Journalisten viel Wissen über diese Gattung und ihre Möglichkeiten zusammengetragen haben. Einen wichtigen Beitrag dazu leistete auch meine Diplomandin Annett Welsch. Und nun wäre die Zeit reif, den Blick darauf zu lenken, welchen Platz wir dieser Form in einer immer komplizierter werdenden Welt im Journalismus einräumen wollen. Schließlich: Unverzichtbar für mich sind in dem neuen Konzept die methodischen Handreichungen zur Recherche von Michael Haller. Ich würde durchaus auch einen Platz für den Theoriebereich von Hans Poerschke sehen, mit kritischer Bearbeitung seines Forschungsfeldes, damit hatte er ja schon vor der Wende begonnen. Dieser Vorschlag wäre aber personengebunden, seine Realisierung nur denkbar mit einem Lehrstuhl für Hans Poerschke.

Wie haben Sie Gertraud Linz-Abich erlebt?

Ich habe sie kennengelernt, nachdem ich gerade die Universität verlassen hatte. Herr Reimers regte die Begegnung damals an. Und natürlich hatten wir uns viel zu sagen im Hinblick auf die Vorbereitung der Institutsgründung, sie unter dem Druck der vielen Konzepte, die zu erarbeiten waren, ich aus meiner Erfahrung in der Gründungskommission. Sie nahm mich gleich gefangen mit ihrer Herzlichkeit, ihrer mütterlichen Art. Eine Integrationsfigur, sie verstand Brücken zu bauen zwischen den Ost- und den Westkollegen, zu vermitteln, eine Atmosphäre zu schaffen, in der wir ohne Vorurteile und respektvoll miteinander umgehen konnten. Sie kümmerte sich um uns, das tat damals richtig gut. Keine Di-Mi-Do-Professorin. Und sie ergänzte sich sehr gut mit Michael Haller, der ja ihr Wunschkandidat war. Ich habe sie sehr vermisst, nachdem sie aus gesundheitlichen Gründen ihr Amt niederlegen musste. Es blieb immer eine Lücke, die niemand füllen konnte.

Wie haben Sie sich auf Ihr Evaluierungsgespräch vorbereitet?

Wir mussten viel Papier einreichen: Lebenslauf, unsere Tätigkeit an der Sektion, Publikationsliste, Mitgliedschaft und Funktionen in Parteien und gesellschaftlichen Organisationen, die Stasi-Erklärung. Das war genug Vorbereitung.

Wie haben Sie die Situation dann erlebt?

Darüber redet sich selbst nach Jahren noch schwer. Bei aller Behutsamkeit, die Herr Reimers walten ließ, bleibt es eine Geste der Sieger, wenn sich der andere deutsche Staat anmaßt, über uns und unser Leben zu urteilen. Sie entschieden nach ihren Regeln, wer von uns integrierbar ist. Da bleibt ein fader Beigeschmack: Wie verwendbar ist einer? Ich kann mich kaum an Einzelheiten des Gesprächs erinnern. Wofür ich die Leibniz-Medaille bekommen hätte, wurde ich zum Beispiel gefragt. Sollte ich mich rechtfertigen, weil ich sie für wissenschaftliche Arbeiten bekommen habe, die nun auf den Prüfstand der Geschichte geraten würden?

Haben Sie darüber nachgedacht, dieses Gespräch zu verweigern?

Vielleicht war es Trotz, ich wollte mich nicht ducken. Ich weiß es nicht. Wie viel Selbstbefragung uns in jener Zeit abverlangt und zugemutet wurde! Ja, es gab Kollegen, die sich verweigert haben, sich den Arbeitsplatz nicht „erkaufen“ wollten, wie sie sagten. Sogar in meinem engeren Freundeskreis gab es diese Entscheidung. Heute verstehe ich, sie wollten sich das nicht antun und nahmen dafür selbst eine ungewisse Zukunft in Kauf. Auch das verlangt Achtung.

Nach der positiven Evaluation haben Sie die Universität trotzdem verlassen, für einen Abstecher in die Kultursoziologie.

Ja, unmittelbar nach dem Evaluierungsgespräch habe ich in meiner neuen Arbeitsstätte, der „Gesellschaft für Kultursoziologie“, einem eingetragenen Verein, den Arbeitsvertrag unterschrieben, um dort in einem Projekt für gemeinnützige Vorhaben der kulturellen Bildung und Förderung tätig zu sein. Obwohl mir der Abschied von der Universität nicht leichtfiel, war ich doch neugierig auf das neue Betätigungsfeld und fest entschlossen, mich in den Methoden soziologischer Forschung zu erproben, dazu in interdisziplinärer Arbeit mit Wissenschaftlern verschiedener Bereiche, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Meine neuen Kollegen waren „Flüchtlinge“ wie ich, die die Universität oder eine der Leipziger Hochschulen verlassen wollten oder mussten, einige Professoren darunter. Und ich lernte auf diese Weise wirklich blühende Landschaften in unserer Stadt kennen, zumindest in kultureller Hinsicht. Auch wenn am Ende nicht alle Ideen und Vorhaben überlebten. Mich betrübten andererseits die Gründe, die mich in die Flucht getrieben hatten: die zunehmend unerträgliche Situation im Haus, die Unterstellungen von Kollegen, dass wir nur aus Eigennutz in der Gründungskommission mitarbeiten würden. Und dann hatte ich noch kurz zuvor einen Termin bei Günther Wartenberg, Prorektor für Forschung und Lehre, ich erinnere den eigentlichen Anlass nicht mehr, aber bei der Gelegenheit brachte ich das Gespräch noch einmal auf meine Dissertation B, worauf er mir zu verstehen gab, dass ich doch wohl nicht annehmen würde, diese Arbeit an dieser Universität verteidigen zu können. Das war es dann. Vielleicht brauchte ich auch einfach nur mal den Blick von außen.

Was hat Sie zurückgebracht?

Es war wohl nicht nur das Heimweh nach meinen Studenten, denn Herr Reimers hatte mir ermöglicht, neben meiner Arbeit in der Kultursoziologie einen Lehrauftrag wahrzunehmen. Vielleicht war es die Begegnung mit Gertraud Linz, die dann doch die Lust in mir weckte, dabei sein zu wollen, mitzugestalten, was da entstehen soll, an der Seite solcher Westkollegen wie Frau Linz konnte ich mir auch vorstellen, das Gefäß von Reimers vielleicht mit einigen Leipziger Zutaten anzufüllen.

Wie viel DDR-Journalistik hat in dem gesteckt, was Sie in den 20 Jahren nach der Wende an der Universität gelehrt haben?

Viel, könnte ich kurz antworten. Der Rückblick überrascht mich selbst. Ja, ich konnte fast nahtlos an das anschließen, was ich vor 1989 gemacht habe, so scheint es jedenfalls, wenn ich meine Seminarunterlagen durchblättere. Es ging bald weiter in der Forschung, ich habe Diplomarbeitsthemen vergeben. Strukturelle Gestaltungsvarianten von Glossen, Varianten der Pointe in Glossen. Glosse und Feuilleton. Feuilleton, Feuilletonist, feuilletonistisch, Feuilletonismus: eine begriffsgeschichtliche Abhandlung. Das „Wiener Feuilleton“ in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Argumentationskommentar im Zeitalter der Globalisierung. Was hier wie eine bloße Aufzählung erscheinen mag, verdeutlicht auch, dass ich mit diesen Themen unsere Forschungen zu den Genres vor 1989 durchaus fortsetzen konnte, nun mit einem weiten Blick auf eine bunte, reiche und differenzierte Medienlandschaft, aber auch auf Traditionen, die bei uns mitunter weniger Beachtung gefunden hatten.

Und didaktisch?

Über meine Literaturempfehlungen habe ich schon gesprochen. Viel von der Lehrmethodik in der DDR, vor allem die Arbeit mit Übungen, ihre Vorbereitung, Begleitung und Auswertung betreffend, habe ich gern und dankbar genutzt. Und meine Seminarunterlagen spiegeln vieles, was in DDR-Lehrbriefen zusammengetragen war. Manchmal wurde ich gefragt, ob ich vielleicht noch den einen oder anderen Lehrbrief übrighätte. Die Studenten wussten durchaus kritisch umzugehen mit unserer Literatur und die handwerklichen Regeln und Handreichungen zu finden, auf die es ihnen ankam und die sie als anregend und hilfreich empfanden. Was für mich ganz wichtig war: Michael Haller räumte mir früh die Möglichkeit ein, eine Seminarserie zu bestreiten, die so ganz und gar meinen Neigungen entsprach: Glosse, Feuilleton, Betrachtung, Essay – Formen des subjektiven Journalismus. Natürlich musste ich auch für Schwarzbrot sorgen, wie er zu sagen pflegte, also Seminare zum Recherchieren und Einführung in journalistische Darstellungsformen, vornehmlich für Studierende im Nebenfach Journalistik. Vor allem die Rechercheseminare habe ich gern gehalten, zumal ich dabei selbst einiges dazulernen konnte.

Hatten Sie die alten Lehrhefte aufgehoben?

Leipziger Journalistikstudenten, Mitte der 1970er (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Wir hatten in der Wende, als selbst unsere Lehrmaterialiensammlung in der Ritterstraße drohte, auf dem Müllhaufen der Geschichte zu landen, zusammen mit Studenten noch manches gerettet und ins Universitätshochhaus transportiert. Ich hatte also immer etwas zu verschenken, unser Lehrbuch holten sich gerne die Studenten aus Dortmund. Trotz und mit aller Ideologie.

Wir waren bei der Didaktik.

Natürlich habe ich weiter journalistische Texte analysiert und Werkstattgespräche geführt, gemeinsam mit meinen Studenten, die dazu Seminarreferate und Hausarbeiten anfertigten. Und auch hier waren sowohl ostdeutsche wie westdeutsche Journalisten gefragt. Wir haben uns angesehen, was die Qualitätszeitungen machen, welche Formen hier genutzt werden, die Texte der „Edelfedern“ in der Süddeutschen Zeitung und in der Wochenzeitung Die Zeit analysiert. Besonders in Erinnerung ist mir die Kolumne „Deutsche Ansichten“ von Anfang der 1990er Jahre, mit Beiträgen ost- und westdeutscher Autoren, darunter Jutta Voigt, Jens Reich und Roger Willemsen. Heute gelesen, spiegeln sie nicht nur Zeitgeschichte, sie erscheinen uns als ein Stück Gedächtnis: Requiem für ein Auto. Der Riss in uns allen: $ 218. Die Kette vor meiner Kneipe. Vom Entzug einer Illusion. Hunger nach Schicksal. Die Überschriften deuten vielleicht an, worüber hier reflektiert wird: Weltbilder, Lebensansichten, Befindlichkeiten, wie sie uns gerade in jener Zeit umtrieben. So ein Miteinander ost- und westdeutscher Journalisten habe ich später kaum gefunden, Vergleichbares erst wieder im 30. Jahr der Wende 2019. Heute bedauere ich, nichts von alldem, was wir an Material hatten, zusammengefasst und verarbeitet zu haben.

Das ist vielen DDR-Wissenschaftlern schwergefallen, die sich ja zunächst in ein ganz neues System hineinfinden mussten.

Ich war schon 50, als die Wende kam. Ich habe oft gedacht: 20 Jahre jünger, was wäre da möglich gewesen. Das eine und das andere Denksystem kennen und beides kritisch betrachten: Aber es gab auch von westlicher Seite kein Angebot, zusammen mit uns etwas in dieser Hinsicht zu machen. Neugier auf das, was wir in der DDR gemacht haben, Interesse für unsere Forschungen, das habe ich oft vermisst.

Wenn Sie auf ein halbes Jahrhundert in der akademischen Journalistenausbildung zurückblicken: Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

Stolz ist für mich ein großes Wort. Ich habe mich immer gefreut, wenn es mir gelungen ist, Studenten dabei behilflich zu sein, ihre Handschrift zu finden und zu entwickeln. Das war mir alle Mühe wert. Und besonders habe ich mich darüber gefreut, dass es mir gelungen ist, noch vor meinem Ruhestand zwei Diplomarbeitsthemen zu vergeben und ihre Bearbeitung zu betreuen, die für mich nahezu eine Herzensangelegenheit waren: „Der Essay im Journalismus. Annäherung an eine alte Form nach dem 11. September“ und „Der Genrebegriff in der Journalistik der DDR. Eine kritische Bestandsaufnahme“.

Zu welchen Kolleginnen und Kollegen hatten Sie einen besonders guten Draht?

Peter Hamann (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Besonders verbunden fühlte ich mich mit Barbara Lenhart und Ursula Wächter. Fachlich geschätzt habe ich auch Helga Wagner und Helga Romeyke. Und ich fühlte ich mich sehr verbunden mit Wulf Skaun und Peter Hamann. Hier wäre auch Hans Wiesner zu nennen. Im Klausurjahr hatte ich mit ihm zu tun, wir arbeiteten gemeinsam an Projekten für die künftigen Übungsbücher. Als er später zur Reportage forschte und dabei auch Fragen der Ideenfindung berührte, hatten wir manches anregende Gespräch. Er ist ein eigenwilliger Denker, setzt gerne Widerhaken und spornt damit an, den Dingen auf den Grund zu gehen. Nach der Wende hatte ich vor allem zu Martin Löffelholz engeren Kontakt. Ich habe gern mit ihm gearbeitet. In besonderer Weise, man könnte vielleicht sogar sagen, freundschaftlich verbunden fühlte ich mich mit Margret Lünenborg und Heide Schwochow. Sie waren Anlehnung und Anker auch in schwierigeren Situationen. Michael Haller verdanke ich die Möglichkeit, dosiert Abschied zu nehmen von der Arbeit mit meinen Studenten. Er ermöglichte mir nach meinem Ausscheiden im Herbst 2003 noch bis zum Frühjahrssemester 2010 einen Lehrauftrag zum Thema Formen des subjektiven Journalismus.

Was bleibt eines Tages von Sigrid Hoyer in der Journalistenausbildung? Was sollte bleiben, wenn Sie beeinflussen könnten, was bleibt?

Gar nichts wird bleiben. Sie wissen so gut wie ich, wie der aktuelle Stand aussieht. Aber wenn Sie danach fragen, was mir wichtig war in diesem halben Jahrhundert Journalistenausbildung, will ich gern versuchen, einige Überlegungen zu sagen.

Gerne.

Wolfgang Böttger (ganz links), Wolfgang Wittenbecher (daneben, verdeckt), Emil Dusiska (mit dem Rücken zum Fotografen), Karl-Heinz Röhr, vermutlich Armin Hopf (Sächsisches Tageblatt), Peter Hamann, Siegfried Schmidt (mit Brille), Dieter Weihrauch (im dunklen Anzug), Hans Hüttl (hinter der rechten Schulter von Weihrauch), vermutlich Klaus Thielicke (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Wenn ich zurückblicke, erscheint mir vieles folgerichtig auf meinem Weg. Und mir fällt auf, dass ich das Glück hatte, immer wieder Menschen begegnet zu sein, die mir Türen geöffnet haben. Ihnen verdanke ich auch die nachhaltige Erfahrung, wie wichtig eine behutsame, gleichermaßen fordernde wie fördernde Begleitung für junge Menschen im Lernprozess sein kann. Dafür gibt es viele Möglichkeiten, eine davon ist sicher, ihnen Angebote zu machen, ihnen zu ermöglichen, sich auszuprobieren und dabei immer wieder auch zu ermuntern. Das habe ich versucht weiterzugeben. Wenn ich bei dieser Frage auch noch die Wissenschaft im Auge habe, die ich ein Berufsleben lang vertreten habe, geht es mir noch um etwas anderes: Ich wollte gerne dazu beitragen, dass sich die Spuren der Leipziger Journalistikwissenschaft nicht ganz verlieren. Ich hatte das Glück, als letzte Diplomarbeit vor meinem Ausscheiden aus dem Institut eine Arbeit zu betreuen, die dazu beitragen sollte. Das Thema “Der Genrebegriff in der Journalistik der DDR. Eine kritische Bestandsaufnahme” war längere Zeit auf der Angebotsliste für Diplomanden, fand aber keine Nachfrage. Und als ich es schon von der Liste nehmen wollte, meldete Ulrike Arnhold (2002) ihr Interesse an. Ich kannte sie aus der Eignungsprüfung, die ich zusammen mit Hans-Jörg Stiehler abgenommen hatte, und auch aus einigen meiner Seminare. Ein großes Unterfangen! Ulrike führte – neben ihren Untersuchungen auch der westdeutschen Schulen – Gespräche mit wichtigen Protagonisten: Karl-Heinz Röhr, Gottfried Braun, Michael Haller. Walter von La Roche kommt in seinem Zweitgutachten zu dem Schluss, dass Ulrike Arnholds Darstellung der Leipziger Genretheorie und ihr Konzept zur Bewahrung seiner originellen Elemente, einschließlich ihrer Vorschläge zur Transformation, es verdienen würden, „dass sich möglichst viele interessierte Studenten, Wissenschaftler und Journalismus-Praktiker damit beschäftigen und (durch Publikation der Arbeit) beschäftigen können.“

Literaturangaben

  • Ulrike Arnhold: Der Genrebegriff in der Journalistik der DDR. Eine kritische Bestandsaufnahme. Diplomarbeit. Universität Leipzig: Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft 2002.
  • Gottfried Braun: Kommunikationsstrategien der grundlegenden journalistischen Mitteilungs- und Argumentationsweisen. Dissertation B. Maschinenschrift. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1988.
  • Hermann Budzislawski: Sozialistische Journalistik. Leipzig: Bibliographisches Institut 1966.
  • Michael Haller: Recherchieren. Ein Handbuch für Journalisten. München: Ölschläger 1983.
  • Michael Haller: Die Reportage. Ein Handbuch für Journalisten. München: Ölschläger 1987.
  • Michael Haller: Das Interview. Ein Handbuch für Journalisten. Konstanz: UVK 1991.
  • Michael Haller: Wir müssen Journalismus normativ fundieren. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2017.
  • Ulrich Heublein: Das Feuilleton. Lehrheft zur journalistischen Methodik. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1988.
  • Sigrid Hoyer: Zum Schöpferischen im journalistischen Schaffen. Dissertation. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1973.
  • Sigrid Hoyer: Ist Ideenreichtum messbar? In: Theorie und Praxis des sozialistischen Journalismus 5. Jg. (1977a), Nr. 6, S. 13-18.
  • Sigrid Hoyer: Schöpfertum und Journalismus. In: Theorie und Praxis des sozialistischen Journalismus 5. Jg. (1977b), Nr. 1, S. 15-24.
  • Franz Knipping: Dusiska hat an meinem Stuhl gesägt. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2017.
  • Franz Loeser: Die unglaubwürdige Gesellschaft. Quo vadis, DDR? Köln: Bund-Verlag 1984.
  • Sigrid Mahlow: Der „Brief aus der Redaktion“ in der „Iswestija“. Aufgaben und Gestaltung. Diplomarbeit. Karl-Marx-Universität Leipzig: Fakultät für Journalistik 1965.
  • Gerhard Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik. Hamburg: Hans-Bredow-Institut 1963.
  • Michael Meyen: The IAMCR Story: Communication and media research in a global perspective. In: Peter Simonson/David W. Park (Hrsg.): The international history of communication study. New York: Routledge 2016, S. 90-106.
  • Michael Meyen: Studieren im Roten Kloster. Die Anfänge der Journalistenausbildung in der DDR. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2017.
  • Michael Meyen: The IAMCR Story. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2018.
  • Michael Meyen/Anke Fiedler: Wer jung ist, liest die Junge Welt. Die Geschichte der auflagenstärksten DDR-Zeitung. Berlin: Ch. Links 2013.
  • Werner Michaelis: Journalismus braucht Sprache. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.
  • Günther Rager: Journalisten brauchen Forschung und Statistik. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.
  • Brigitte Reimann: Ankunft im Alltag. Erzählung. Berlin: Verlag Neues Leben 1961.
  • Karl Friedrich Reimers: Von der DDR-Journalistik an der Karl-Marx-Universität zur Leipziger Kommunikations- und Medienwissenschaft ab 1991. In: Gerlinde Frey-Vor, Rüdiger Steinmetz (Hrsg.): Rundfunk in Ostdeutschland. Konstanz: UVK 2003, S. 109-131.
  • Elise Riesel: Stilistik der deutschen Sprache. Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur 1959.
  • Karl-Heinz Röhr (Leiter des Autorenkollektivs): Redakteur und Reporter. Methodik der beruflichen Tätigkeit des sozialistischen Journalisten. Unveröffentlichtes Manuskript. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1990: In: Archiv von Michael Meyen.
  • Karl-Heinz Röhr: Um Qualität geht es immer und überall. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.
  • Dietrich Schmidt: Journalistische Genres als Gestaltungs- und als Kampfformen. Über Genrebegriff und Genrepflege in der sozialistischen Journalistik. In: Zeitschrift für Journalistik 2. Jg. (1961). Nr. 3, S. 1-16.
  • Dietrich Schmidt/Fred Vorwerk (Redaktion): Um das Q in der journalistischen Arbeit. Wissenschaftliche Konferenz der Fakultät für Journalistik vom 15. Dezember 1962 über „Die organisierende Funktion von Presse, Funk und Fernsehen bei der Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Erweiterte Vorstandssitzung des Verbandes der Deutschen Journalisten vom 28. November 1962 über „Erfahrungen von Presse, Rundfunk und Fernsehen in der großen Aussprache zur Vorbereitung des VI. Parteitages der SED“. Überarbeitete Protokolle. Karl-Marx-Universität Leipzig: Fakultät für Journalistik 1963.
  • Wolfgang Tiedke: Wir haben die richtigen Fragen gestellt. In: Michael Meyen/Anke Fiedler: Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR. Berlin: Panama Verlag 2011, S. 75-86.
  • Willy Walther: Methoden der Genreforschung. Dissertation. Karl-Marx-Universität Leipzig: Fakultät für Journalistik 1963.
  • Hans-Joachim Wiesner: Rot und Grau. Roman. Jena: Verlag Neue Literatur 2001.
  • Gabriel Wonn: Die inhaltliche Wende. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2020.

Empfohlene Zitierweise

Sigrid Hoyer: Unser Handwerk ist brauchbar. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2020. http://blexkom.halemverlag.de/hoyer-interview/ (Datum des Zugriffs).

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