Stationen
Geboren 1944 in Leipzig. Lehre als Lokschlosser im RAW Engelsdorf. Abitur an der Abendschule. Studium der Philosophie an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Dort Dissertation A (vgl. Okun 1978) und Dissertation B (vgl. Okun 1984). 1986 Ernennung zum Professor. Philosophie-Lehrveranstaltungen für Juristen, Wirtschaftswissenschaftler und Journalisten. Im Frühjahr 1990 Umsetzung an die Sektion Journalistik. 1991 dort Mitglied er Gründungskommission. Heute Trainer für Führungskräfte in Leipzig (vgl. Okun/Hoppe 2017). Verheiratet, zwei Töchter.
Ich weiß zwar schon, dass Sie das jüngste von sechs Kindern waren und der Vater im Westen geblieben ist (Okun 1992), vielleicht können Sie mir aber trotzdem noch etwas erzählen über Ihr Elternhaus, Ihre Kindheit, Ihre Jugend.
Das waren sehr einfache Verhältnisse nach dem Krieg. Der Vater wollte, dass wir rüberkommen, meine Mutter wusste nicht, wie das gehen sollte. Ich war ja gerade frisch geboren. Er schickte ständig Postkarten, auf denen er auf die Russen schimpfte, meiner Mutter wurde himmelangst.
Wo stand er politisch?
In der Weimarer Republik hat er erst die Kommunisten gewählt und dann Hitler. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt war er in der Ukraine bei gemeinsamen militärischen Manövern dabei, wahrscheinlich Schreibstubenposition. Ich weiß das nur aus Erzählungen, für mich blieb er völlig fremd. Zwei meiner Brüder hätten ihn später nicht zur Tür reingelassen. Sehr autoritär.
Was hat Ihre Mutter beruflich gemacht?
Kaufmännische Angestellte. Stenotypisten. Sie war 1933 beim Dimitroff-Prozess, als Schreibkraft. Nach dem Krieg hat sie in der Sozialversicherung gearbeitet, auch als Beraterin für schwierige Fälle, bis sie 70 war.
Wie stand sie zur DDR und zur Partei?
Mit Partei hatte sie nichts im Sinn, war aber durchaus aufgeschlossen für eine andere Gesellschaft. Meine Geschwister waren vom Westen fasziniert, die Musik, die Mode, aber hier beruflich sehr engagiert. Sie waren wie Ersatzväter für mich. Sie mussten mich betreuen und ich fragte sie aus. Als Letzter von sechs profitierte ich ungemein von meinen Geschwistern. Mein Kollege am Lehrstuhl Erkenntnistheorie war der Älteste von sechs und ließ sich einiges einfallen, sich die Bagage vom Leib zu halten. Drei hatten ein Abendstudium, einer direkt an der Ingenieurschule. Ich studierte direkt an der Universität, das hat mich anders als sie sozialisiert.
Vorher haben Sie eine Lehre gemacht.
Ja, Lokschlosser im Reichsbahnausbesserungswerk Engelsdorf, RAW. Mehr aus Verlegenheit. Ich hatte eine schlechte Beurteilung.
Warum das?
Ich hätte großen Einfluss auf meine Mitschüler, der aufgrund meines Verhaltens nicht positiv war. Ich weiß nicht, was da meinen Klassenlehrer geritten hat, der war sonst absolut okay. Abitur kam für meine Mutter nicht infrage. Sie wusste so schon oft nicht, wie sie uns durchbringen sollte. Ich war mir selber auch nicht sicher.
Sie haben das Abitur dann an der Abendschule nachgeholt.
Ja, mit Anfangszweifeln. Meine Geschwister waren mir im Schulstoff immer voraus und erzählten davon. Von da kam meine Befürchtung, etwas nicht zu schaffen. Deshalb strengte ich mich anfangs immer besonders an. Nebenbei: Viele durften in der DDR kein Abitur machen – auf der Abendschule ging das problemlos. Auch eine meiner Erfahrungen: Es gibt mehr als nur den einen Weg.
Warum haben Sie sich ausgerechnet das Studienfach Philosophie ausgesucht?
Mit meinem Jugendfreund Roland Hamm hatte ich unendlich philosophiert. Ich wollte überzeugen, Vorurteile brechen, verstehen und war neugierig auf diese geistige Welt. Hin und wieder hatte ich den Sonntag gelesen. Ich verstand zwar vieles noch nicht, war aber trotzdem gebannt. Auch das Forum habe ich gelesen.
Die FDJ-Studentenzeitung.
Da wurde damals der zweite Band von Werner Holt abgedruckt (vgl. Noll 1963). Großartig. Auch Die Aula (vgl. Kant 1965). Beides hat mich begeistert. Als junger Bursche war ich viel auf der Pirsch, hatte Freundinnen, lernte Studentinnen kennen. Die haben mich angezogen, eine ganz andere Unterhaltung. Außerdem organisierte ich für die FDJ im RAW Engelsdorf Kultur. Wenn ich dafür in der Stadt war oder in den Bibliotheken, habe ich gesehen, was dort los war. Ein pulsierendes Leben, mitten am Tag. Außerhalb der Fabrik. Da wollte ich hin.
Also studieren.
Ich habe das Studium genossen. Was für großartige Diskussionen in der Mensa, mit anderen Fachrichtungen. Und mich sehr geärgert, als die 3. Hochschulreform kam. Die Studienzeit wurde auf dreieinhalb Jahre abgeschmolzen, und ich wurde Forschungsstudent. Das war zwar eine Auszeichnung, aber ohne Diplomarbeit, gleich in Richtung Dissertation. Das war nicht so gut, auch nur mit Verspätung zu schaffen.
Worum ging es in der Arbeit?
Um Überzeugung (vgl. Okun 1978). Das Deutschland Archiv hat meine Dissertation respektabel rezensiert, mit mehreren Ausrufezeichen. Das war ungewöhnlich.
Gibt es jemanden, den Sie als Ihren akademischen Lehrer bezeichnen würden?
Ich hatte unglaubliches Glück, an Dieter Wittich zu geraten. Er hat mich sofort fasziniert, hatte Stil, frisches Denken, Witz. Er verkörperte einen für mich beispielhaften Umgang mit Wissenschaft. Ich weiß nicht, ob ich sonst das Studium weitergemacht hätte.
Warum nicht?
Es war viel ideologisch. Kampfreserve der Partei und solche Sachen, manchmal grenzwertig. Wittichs Maxime: Deine gebildete Großmutter muss verstehen können, was du machst. Es musste logisch korrekt sein, sprachlich sauber, kein Geschwafel und Wissenschaftschinesisch. Du musst immer angeben können, welches offene Problem von Rang du gerade lösen willst. Sonst ist nichts von dem, was du schreibst, nachvollziehbar, nicht mal widerlegbar. Meine ersten Thesen zum Grundsatzartikel in der Fachzeitschrift nahm er im Forschungsseminar gnadenlos auseinander. Im Text viele rote Fragezeichen. Zugleich half er mir, das Problem hinter dem Dissertationsthema zu identifizieren. Eine unvergessliche Erfahrung.
Was war das Problem?
Theorien bauen auf Schlüsselbegriffe, die ihren Gegenstand umreißen. Die Erkenntnistheorie befasst sich mit „Wahrheit“, die vorliegt, wenn Aussagen mit der Wirklichkeit übereinstimmen, und „Gewissheit“, die eintritt, wenn Aussagen auf ihre Wahrheit überprüft wurden. Den Wahrheitsgehalt sieht man ja vielen Aussagen nicht gleich an. Man denke nur an Fake News und „alternative Fakten“. Und jetzt, so Wittich, kommst du mit „Überzeugung“: Was ist der Zweck dessen und was soll mit dem Begriff besonders hervorgehoben werden? Sein Vorschlag: Mit Überzeugen werten wir den bislang bei uns unterbelichteten Umstand auf, wenn jemand eine Aussage nicht nur für wahr hält, sondern auch bereit ist, sie seinem Handeln zugrunde zu legen. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Noch heute frage ich beim Coaching, was ist dein Problem, worauf du eine Antwort suchst? Ist das präzise benannt, kommt man auf das meiste selbst und hört auf, im Trüben zu fischen. Nach dem Problem zu suchen, dem Dilemma zwischen Wollen und Voraussetzungen, ist eine verschüttete Kulturtechnik. Stattdessen wird schwammig von „Herausforderungen“ oder „Challenges“ gesprochen.
Also wirkt Wittich bis heute.
Er war mein Glück. Bei ihm habe ich alles gelernt, was ich heute als Trainer, Coach und Organisationsberater praktiziere: einfache klare Sprache, Begriffe hinterfragen, die Logik dahinter aufspüren, Widersprüche thematisieren, nachhaken, warum etwas so läuft, wie es läuft, die sokratische Methode nutzen, also verstören und Selbstdenken aktivieren. Das hat mir schon geholfen, als er mich als jungen Assistenten in Rohrbach ins kalte Wasser schmiss, bei der marxistischen Bildung für Professoren aller Fachrichtungen.
Karl-Heinz Röhr hat mir erzählt, dass er dort auch war.
Genau. Auf der Zugfahrt dahin habe ich Wittich gefragt, was er dort eigentlich machen wird.
Was hat er gesagt?
Er hält einen Vortrag und dazu gibt’s zwei Seminare. Eins davon machst du. Ich solle nur gute Fragen stellen, zuhören, hinterfragen. Das würde ich schon hinbekommen. Plötzlich hatte ich, gerade mal promoviert, lauter Hochschullehrer vor mir, von der Universität, von der DHfK, von der Handelshochschule. Die fanden das ziemlich cool, zumal wir völlig offen sprachen. Das stärkte meinen Ruf an der Universität. Als in den Neunzigern das Konzil gewählt wurde, war ich auf Platz fünf. Die Hochschullehrer kannten mich. Mehr Stimmen hatten nur politisch unverdächtige Theologen und Mediziner.
Warum sind Sie überhaupt auf die Professorenlaufbahn gegangen?
Nach der Promotion fragte Wittich, wann ich habilitieren will. Ich meinte, dass es auch gute Assistenten geben müsse. Er nickte nur und sagte, dass dann andere als Professoren bestimmen, wo es langgeht. Da ging ich auf die „Laufbahn“. Der Titel der Habilarbeit klingt heute befremdlich (vgl. Okun 1984), war damals aber Bedingung, sie überhaupt gegen die unsägliche Propagandapraxis durchzubringen. Wie recht wir hatten, zeigte der Versuch aus der GeWi-Akademie der SED, meine Habil-Verteidigung zu verhindern.
Aber für Sie ist es gut ausgegangen.
Ja. Auf das politisch inszenierte Negativgutachten von Harald Schliwa antwortete Heinrich Opitz im nunmehr vierten Gutachten mit der Empfehlung, die Arbeit wenigstens teilweise zu publizieren. Wolfgang Tiedke von der Sektion Journalistik hat das dankenswerter Weise eingefädelt.
Über seinen Vater, Kurt Tiedke, 1983 bis 1989 Rektor der Parteihochschule „Karl Marx“.
Ich fand das sehr anständig: Er las die Arbeit, hielt sie für wichtig und unterstützte das Gutachten von Heinrich Opitz. Die Verteidigung war dann noch eine große Sache, ein Raunen im Saal. Es war rappelvoll.
Wie ist es zu den Lehrveranstaltungen bei den Journalisten gekommen?
Ich hielt die Pflichtvorlesungen zur Philosophie bei Juristen, Wirtschaft und Journalistik, die sich herumsprachen. Da wurden auch Studenten und Studentinnen anderen Fachrichtungen neugierig. Die Journalisten waren hellwach, bewegte ich mich doch ähnlich wie sie auf ideologisch vermintem Gelände. Einige kamen zu mir ins Forschungsseminar. Tom Seidler, Thomas Beer.
Wie haben Sie die anderen Lehrkräfte an der Sektion Journalistik erlebt?
Es gab Kontakte zu Karl-Heinz Röhr und Günter Raue, mit dem ich zusammen zum Prof. berufen wurde, zu Hans Poerschke. Dazu Wolfgang Tiedke, Wulf Skaun und etliche andere aus der jüngeren Generation. Wir tauschten uns aus in den Forschungsseminaren bei Wittich. Poerschke bot mir in der Wendezeit an, meine Vorlesungen in der Journalistik weiterzuführen. Da war ja alles im Umschwung.
Wie bewerten Sie mit 30 Jahren Abstand das, was Sie vor der Wende geschrieben haben?
Was ich zu Überzeugungen geschrieben habe, ist okay. Auch das zu praktizierter Weltanschauung (vgl. Okun 1981), zu der Analogie zwischen gesellschaftlichen Umbrüchen und Paradigmenwechseln in der Wissenschaft. Ich merkte aber zunehmend, was für zum Teil krasse politische Zugeständnisse wir gemacht hatten, um publiziert zu werden. Eine Studentin zeigte mir 1991 an einem Artikel, auf den ich bislang stolz war, was da alles mit „verpackt“ war.
Haben Sie ein Beispiel für „Zugeständnisse“?
Unsere jährlichen Erkenntnistheorie-Tagungen. Wir hatten anfangs jemanden von der Abteilung Wissenschaft beim ZK der SED eingeladen, um uns abzusichern. Solange er da war, maximal eine Stunde, sprachen wir faktisch unterhalb unseres Wissensniveaus, wie das Horst Poldrack einmal sagte. War er dann weg, ging es zur Sache.
Und in der Wendezeit?
Das sind meist interessante Sachen. Tilo Gräser hat ja einiges wiedergefunden. Zu den Medien (vgl. Okun 1991a), zur Universität (vgl. Okun 1991b, Okun 1992, Okun/Poldrack 1992). Dazu stehe ich.
Wie haben Sie die Abwicklung erlebt?
Eine demütigende Zeit. Es gab nur Halbjahresverträge. Ich habe überhaupt die ganze Wendezeit als desillusionierend erlebt. Vom Westen kamen richtig kluge Leute, aber auch ganz andere, auch aus dem Umfeld von Karl Friedrich Reimers. Bei manchen hörte schon nach zehn Sätzen keiner mehr zu. Reimers selbst stand auch in der Kritik. Mir kam zu Ohren, dass fünf seiner Vorlesungen bei mir in eine halbe Stunde passten. Er war eher der Manager der neuen Journalistik, denn Wissenschaftler. Ich hatte wenig Zugang zu ihm und auch nicht den Kontakt gesucht. Dem Studentenrat hatte er verkündet, dass ich eine neue Stelle bekommen solle. Auch Rektor Cornelius Weiss bot Unterstützung an.
Hatten Sie schon andere Optionen?
Ja, als Trainer. Erst nebenberuflich, dann voll. Das bestärkte mich zu einem Neuanfang außerhalb der Uni. Der Start war ja auch erfolgreich. Elf Aquitaine kaufte Minol auf. Auf Vermittlung von Andreas Giesenhagen trainierten Horst Poldrack, Hans Birk und ich alles, was im Osten im Industrie- und Verbrauchergeschäft für Elf arbeitete. Ein attraktives Geschäft und tolle Erfahrungen. Das ging über zwei Jahre.
Offenbar eine Goldgrube.
Damals empfanden wir das so. Aber nach zwei Jahren war alles vorbei und ich wusste nicht, wie Akquisition geht. Ich fing wieder wie von vorne an.
Die Akquisition?
Ich musste einen dreifachen Neuanfang machen. Von der Nichtwirtschaft in die Wirtschaft, vom Angestellten zum Selbstständigen, vom Dozenten zum Trainer. Den neuen Beruf als Trainer habe ich hinbekommen, aber das Geschäft zu führen, Kunden zu akquirieren, dafür fehlten mir die Erfahrungen. Wen sprichst du an, wie organisierst du die Akquisition, wie gehst du mit Absagen um? Ich habe mir eine Elefantenhaut zugelegt und das durchgezogen.
Allein?
Erst hatte ich unterschiedliche Partner, von denen ich hoffte, dass sie wissen, wie es geht. Die Firma hieß inostment, Wirtschafts- Personalberatung. Später gründete ich meine eigene Firma mit dem Label „Die Führungs- und Veränderungsakademie DE VACTO“.
Wie haben Sie den dreifachen Neustart geschafft? Auch über Trainings?
Erst mal mit Trockentraining, Loslegen und ausgedachten Übungsbeispielen. Das war zum Teil abenteuerlich. Ich schrieb einer großen Bausparkasse, wir wüssten, wie das Geschäft im Osten läuft, und wer nicht mit uns arbeitet, der verpasst was. Im Vorbereitungs-Workshop brachte ich mich gut ein, aber das Pilottraining habe ich verrissen. Ich fand keinen Zugang. In der Mittagspause ging ich zum Chef und gestand, ich habe das unterschätzt.
Was hat er gesagt?
Dass das für mich spricht. Ich hätte Talent, aber müsse mich professionalisieren. Das habe ich ernst genommen und mich selbst erstmal zum Trainer ausbilden lassen. Bei Psychologen der Leipziger Universität, die sich ausgegründet hatten. Dort, bei Stefan Busse und Gertraude Alberg, machte ich auch die Supervisionsausbildung. Großartig. Das Beste nach meiner Zeit bei Dieter Wittich, mein „zweites“ Startkapital.
Das klingt wie die Geschichte eines Wendegewinners.
Doch nichts davon ist in den Schoß gefallen. Ein zäher Prozess mit vielen Anläufen. Es war ein Abenteuer. Mit Mitte 40 fing ich völlig neu an, ohne zu wissen, ob das funktioniert. Ohne meine Frau Marlis, Assistenzärztin an der Unizahnklinik, wäre es schwierig geworden.
Erfüllt es Sie mit Neid, wenn Sie sehen, was Ihr Schüler Peer Pasternack in Wissenschaft und Politik erreicht hat?
Ich gönne ihm das, sein Erfolg ist nicht zufällig, ich freue mich mit ihm. Ich bin einfach einen anderen Weg gegangen. Zu uns kommen Firmen- und Konzernchefs, mit Fällen, die extrem spannend sind. Wir haben ein einmaliges Konzept hinter allem, das ich publiziert habe (vgl. Okun/Hoppe 2017), und lernen ständig dazu. Ich mache Vorträge und Seminare, beinahe wie an der Uni. Nur alles unternehmerisch, auf eigene Initiative. Statt Studentinnen und Studenten nun Entscheider, statt Regelgehalt Honorar.
Seminare.
Trainingsseminare. Und interaktive Vorträge. Die alten Führungsmodelle funktionieren in der neuen Arbeitswelt nicht mehr, doch was sind die neuen, die entscheidenden Trigger? Das ist mein Thema. Umdenken ist notwendig, was gleichzeitig entlastet und mehr bewirkt. Das spricht sich rum.
Ein Manifest neuer Führung?
Das Land braucht neue Führung. In Politik wie der Wirtschaft. So wie heute geführt wird, kämpfen wir uns immer tiefer in eine Sackgasse hinein statt heraus. Die Trümmer falscher Führung abzutragen, geht auf Kosten der wirklichen Themen. Viele sind nicht mehr anschlussfähig an das, was passiert. Das geht auch anders. Doch dafür müssten sich die tradierten Führungstrainings ändern und die Kommunikation. Da sind wir Vorreiter.
Was heißt das?
Gebt den Mitarbeitern und Führungskräften Raum, sie sind erwachsen. Was sie für nicht sinnvoll halten, tun sie nicht. Lasst sie mitarbeiten an Sinnvollem, dann sind sie produktiv. Also reflektiert, was ihr tut, sonst steht ihr ohne „Follower“ da, macht Ansagen und keiner geht hin. Natürlich wollen viele noch klare Ansagen, doch in der schnelllebigen Zeit brauchen wir Intelligenz, die geweckt werden muss.
Ich merke schon, dass Sie in Ihrem neuen Thema aufgehen und die kurze Zeit in der Journalistik verdrängt haben.
Nicht ganz. Ich hatte mir überlegt, warum ich für die Studenten dort eine Art Referenz war.
Ich bin gespannt.
Die angehenden Journalisten kamen zum Teil aus der Nomenklatura.
Viele Kinder von Medienleuten und anderen Eliten, ja.
Dem Milieu standen sie kritisch gegenüber, weil sie ja aus nächster Nähe manches mitbekamen. Sie kamen zum Studium, weil sie den Beruf liebten, aber nicht die zugedachte Rolle. Sie steckten in einem Dilemma. Jetzt las ich als Wittich-Schüler Philosophie, reflektierte die Wirklichkeit kritisch, war aber nicht einfach zurückzuweisen. Nicht als Dissident, sondern im Namen der Idee, gestützt auf ihre Quellen.
Wie hat man sich das vorzustellen?
Zum Beispiel mit Engels: Im Sozialismus muss die Wissenschaft frei sein und darf sich nicht nach irgendwelchen Mächten richten. Oder mit einem Kurt Hager unterschobenen Zitat: Wenn wir nicht offen reden, dann macht es der Klassenfeind. Oder mit schwer zurückweisbaren Fragen: So verdienstvoll das Leben des Genossen Honecker auch sein mag, es gibt keinen Parteibeschluss, der es verlängern könnte. Wo bitte sind die Nachwuchspolitiker, die sich den neuen Themen stellen? Diese Muster kritischen Auftretens halfen, den Konflikt zwischen Job und Rolle künftiger Journalisten auszuhalten.
Der Dozent als Rollenvorbild.
Da steckte auch die Botschaft drin: Reizt das doch aus, bevor ihr die Flinte ins Korn werft. Das Angebot an Journalismustheorie war viel zu lau. Da hätte ich mir, sorry, Hans Poerschke, mutiger gewünscht.
Wolfgang Tiedke (2011: 79) hat sich erinnert, dass gerade die Philosophen immer gesagt hätten, die Journalistik sei gar keine wissenschaftliche Disziplin.
Grundsätzlich schon, im Ausarbeitungszustand nein. Einfach aufzuschreiben, was die ganz oben hören wollen, und den Studenten bitten, sich ein eigenes Urteil darüber zu bilden, fand ich nicht so gut. Aber die Journalistik wurde auch viel enger politisch geführt als wir. Bei der handwerklichen Praxis hatte Leipzig einen guten Ruf. Vielleicht hatten meine Vorlesungen auch deshalb Anklang, weil sie die Theorielücke gar nicht füllen konnten, aber transparente Denkweisen und schlüssige Thesen boten.
Woran ist die SED gescheitert?
Zunehmend an sich selbst. Was mir erst später klargeworden ist: Die DDR hatte drei genetische Grunddefekte, die ihren Zusammenfall beschleunigten. Zum ersten die führende Rolle der Partei. Das hieß im Umkehrschluss: Wenn etwas nicht läuft, gibt es nur einen Schuldigen. Oder den Klassenfeind, das zog aber nicht mehr. Alle Proteste hatten sofort einen Adressaten, die SED. Ein Selbstverstärkereffekt, der nicht mehr zu stoppen war. Um die Proteste klein zu halten, wurde die Staatssicherheit groß, aufgebläht auf Kosten der Wirtschaftsleistung.
Das zweite Untergangsgen?
Das Diktum des geteilten Schöpfertums. Wenn es um Politik und Geschichte ging, sagte die SED, wo es langging. In der Technologie aber wollte sie Spitzenleistungen, die Offenheit und kritisches Hinterfragen der Voraussetzungen verlangen. Mit geteilter Kreativität lässt sich das nicht erreichen.
Gendefekt Nummer drei?
Das mache ich an dem Satz fest: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Jede noch so beliebige Meinungsdifferenz konnte zur grundsätzlichen werden. Das führte zur intellektuellen Ausdünnung der DDR, auch der SED selbst. Heute ist es eher umgekehrt: Ich kann fast alles infrage stellen, ohne dass jemand reagiert. Ein Witz zum Studentenfasching brachte das schön auf den Punkt.
Den kenne ich nicht.
Zwei Kollegen treffen sich. Wie ich hörte, waren Sie, Herr Kollege, im Westen. Wie ist es denn dort so? Schon interessant, antwortet der andere. Aber ich bin schon verwundert, dass man mitten auf dem Hamburger Rathausplatz rufen kann: Helmut Kohl, du bist ein Idiot. Sagt der andere Kollege: Aber ich bitte Sie. Sie können auch auf dem Alexanderplatz laut rufen, Helmut Kohl ist ein Idiot.
Schön.
Man darf natürlich nicht vergessen, es gab gute Gründe für eine neue Gesellschaft. Zuvor war der Kapitalismus im Endstadium und verantwortete in historisch kürzester Zeit zwei verherrende Weltkriege.
Einige Kommilitonen haben sich erinnert, dass Sie vom Lehrstoff abgewichen sind, aktuelle Politik gemacht und so die Medien ersetzt haben.
Ich habe das immer mal eingebaut. Der rhetorische Trick: Heute wurde mir folgende Frage gestellt, dazu möchte ich etwas sagen. Ich kann mich an 1984 erinnern. Damals wurden auf einen Schlag 20.000 Ausreisen genehmigt. Das hing mit dem Milliardenkredit von Franz Josef Strauß zusammen. Darauf ging ich dann ein. Meine Vorlesungen wirkten aber auch viel über methodische Transparenz.
Was meinen Sie damit genau?
Ich behandelte den Stoff nicht einfach, sondern begründete mein Vorgehen. Ich stellte Fragen, verstörte die Zuhörer und band sie in mein Nachdenken ein. Zum Beispiel: Heute spreche ich zur Grundfrage der Philosophie. Ich frage Sie, was ist eigentlich die Grundfrage der Journalistik? Oder die der Mathematik, der Physik, der Biologie? Sie werden sich sicherlich fragen: Warum ich das frage? Was fällt Ihnen auf?
Und was muss mir auffallen?
Offensichtlich spricht die Philosophie als einzige Wissenschaft von einer Grundfrage, und darunter auch nur die marxistische. Bevor ich weiter auf das Thema einging, stelle ich noch weitere Fragen: Was ist überhaupt eine Grundfrage, wann taucht eine solche Frage auf und was hat es damit in der Philosophie auf sich? So entwickelte ich in den Vorlesungen eine nachvollziehbare Logik des Vorgehens, immer aufeinander aufbauend.
Also haben andere Wissenschaften keine „Grundfrage“?
Nicht ganz. Es gab und gibt immer wieder Phasen, wo es um „Grundfragen“ geht. Zum Beispiel beim Übergang von Linné zu Darwin, von der Phlogiston-Hypothese zu Daltons Atomgewichtstheorie, von Newton zu Einstein oder heute mit dem Aufkommen des systemischen Ansatzes.
Was bei Thomas Kuhn (1962) dann Paradigmenwechsel heißt.
Genau. Sein wunderbares Buch über wissenschaftliche Revolutionen hat uns in den 1970ern und 1980ern begeistert (vgl. Kuhn 1962/1976). Grundfragen stellen sich offensichtlich immer, wenn, wie jetzt wieder, ein substanzieller Richtungswechsel ansteht. Ich empfahl den Hörern immer, sich die von mit entwickelten Fragen zu notieren. Die Antworten fallen ihnen dann selbst ein. Das war mein Beitrag zum souveränen, selbstbestimmten Denken.
Also auch Didaktik.
In Wahrheit ist das unhintergehbare Logik, ohne Trickserei. Hatte ich mir die logische Erzählung einer Vorlesung erarbeitet, konnte ich sie frei entwickeln.
Sind die Führungskräfte, die Sie heute coachen, ein Ersatz für die Studenten von damals?
Die Studenten haben mich schon gefordert, eine schöne Zeit. Die Führungskräfte jetzt kommen aus eigenem Antrieb oder auf Empfehlung. Sie opfern viel Zeit oder zahlen selbst und erwarten viel dafür. Enttäusche ich sie, stände ich alleine da vorn. Das ist schon ein anderer Druck.
Und intellektuell?
Das fordert alle unglaublich. Ich mache ja nur noch die Chef- und Aufbaukurse. Da sind Entscheider unter sich mit komplexen Führungsfällen. Ich glaube, dort liegt mein eigentliches Talent, sinnvolle Zugänge dafür zu finden. Viel Verantwortung, nie langweilig, hoch konzentriert.
Dann ist Ruhestand offenbar keine Option.
Ich kann mir das noch nicht vorstellen.
Literaturangaben
- Hermann Kant: Die Aula. Roman. Berlin: Rütten & Loening 1965.
- Thomas Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago: University of Chicago Press 1962.
- Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. Auflage mit dem Postscriptum von 1969. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976.
- Dieter Noll: Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Heimkehr. Berlin, Weimar: Aufbau 1963.
- Bernd Okun: Überzeugung. Zum Begriff und zur Herausbildung von Überzeugungen. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1978.
- Bernd Okun: Zur Struktur und Entwicklung praktizierter Weltanschauungen. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 29. Jg. (1981), Nr. 1, S. 78-87.
- Bernd Okun: Allgemeine Merkmale weltanschaulicher Propaganda in ihrer Bedeutung für die Vermittlung des Marxismus-Leninismus. Eine erkenntnistheoretische Studie. Dissertation B. Leipzig: Karl-Marx-Universität 1984.
- Bernd Okun: Medien und „Wende“ in der DDR. In: Comparativ Nr. 3/1991a, S. 11-20.
- Bernd Okun: Was bleibt? Die ideologische Erblast der DDR-Sozialwissenschaft und ihre Perspektive. In: Hochschule Ost Nr. 1/1991b, S. 25-31.
- Bernd Okun: Ich habe immer Öffentlichkeit gewagt. In: Bernd Lindner/Ralph Grüneberger (Hrsg.): Demonteure. Biographien des Leipziger Herbst. Bielefeld: Aisthesis 1992, S. 147-166.
- Bernd Okun/Horst Poldrack: Kritische Geistes- und Sozialwissenschaften nach dem „Ende des Sozialismus“. Perspektiven sozial- und geisteswissenschaftlichen Studiums im Spannungsfeld von Kritik und Anpassung. Thesen. In: Hochschule Ost Nr. 5/1992, S. 30-34.
- Bernd Okun: Das eigene Versagen nutzen. Ideologische Erblasten wie auch Chancen für die Sozialwissenschaften in den neuen Bundesländern. In: Deutsche Universitätszeitung Nr. 1-2/92, S. 26-28.
- Bernd Okun/Hans Joachim Hoppe: Die große Führungskrise: Ein Manifest neuer Führung. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer Gabler 2017.
- Wolfgang Tiedke: Wir haben die richtigen Fragen gestellt. In: Michael Meyen/Anke Fiedler: die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR. Berlin: Panama Verlag 2011, S. 75-86.
Empfohlene Zitierweise
Bernd Okun: Reizt das doch aus, bevor ihr die Flinte ins Korn werft. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2020. http://blexkom.halemverlag.de/okun-interview/ (Datum des Zugriffs).