Quo vadis, Fachgeschichte?

Wie weiter mit der Fachgeschichtsschreibung in der Kommunikationswissenschaft? Ein Thesenpapier von Gerd Kopper sowie Reaktionen von Stefanie Averbeck-Lietz, Thomas Birkner, Ingrid Klausing, Erik Koenen, Arnulf Kutsch, Maria Löblich, Michael Meyen, Andreas Scheu, Christian Schwarzenegger, Martina Thiele, Mandy Tröger, Manuel Wendelin, Thomas Wiedemann.


Genese des Materials

Dieses Feature dokumentiert einen Workshop zur Zukunft der Fachgeschichtsschreibung in der Kommunikationswissenschaft. Auf Einladung von Michael Meyen diskutierten 13 Kolleginnen und Kollegen am 29. Januar 2016 in München über den Stellenwert dieses Themas im Fach, über den Forschungsstand und über mögliche Projekte. Angeregt worden war dieses Treffen von Gerd G. Kopper, der im Oktober 2015 ein Thesenpapier zum Thema vorgelegt und damit die Debatte eröffnet hatte. Auf dieses Papier gab es insgesamt zehn Reaktionen. Um die komplexe Vorgabe von Gerd Kopper zu strukturieren, waren dabei ein Umfang von zwei bis drei Seiten sowie vier Themen vorgeschlagen worden:

  • Sinn von Fachgeschichtsschreibung,
  • Ist-Zustand und Desiderata,
  • Theorien der Fachgeschichtsschreibung,
  • Quellen und Verfahren.

Während sich einige Antworten auf einen dieser Bereiche konzentrieren, arbeiten andere mehrere oder gar alle vier Punkte ab. Thesenpapier und Stellungnahmen waren dann Basis für das Treffen in München, das am Morgen mit zwei thematisch einschlägigen Vorträgen begann (Arnulf Kutsch zur Vorgeschichte der akademischen Journalistenausbildung auf internationaler Ebene von 1890 bis 1914 und Michael Meyen und Thomas Wiedemann zu Journalistik-Professoren in der DDR).

Gerd Kopper (Foto: Markus Thieroff)

Gerd Kopper (Foto: Markus Thieroff)

Das vierstündige Nachmittags-Gespräch über die Vorlage von Gerd Kopper wurde aufgezeichnet, transkribiert und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Schriftform zur Autorisierung vorgelegt. Dabei gab es lediglich einige wenige kosmetische Eingriffe. Maria Löblich (Freie Universität Berlin), die eine Stellungnahme zum Kopper-Papier geschickt hatte, konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht nach München kommen. Hans Bohrmann (Dortmund), der ebenfalls großes Interesse an der Veranstaltung signalisiert hatte, war durch eine Terminüberschneidung verhindert.

Wege zur Fachgeschichte

Gerd Kopper hatte ausdrücklich dazu aufgefordert, ‚groß‘ zu denken: ohne Rücksicht auf den „institutionellen Unterbau für Fachgeschichte in der Kommunikationswissenschaft“ („erkennbar begrenzt, eingeengt und gering ausgestattet“). In den schriftlichen Reaktionen und in der Diskussion ging es dann zwar auch um die Stellensituation (keine Professur für Fachgeschichte), um Karriereaussichten sowie um das Interesse von Studierenden und Fachgemeinschaft, wichtiger aber waren Ausrichtung und Relevanz: Warum schreiben wir Fachgeschichte und wie sollten wir dies tun?

Mandy Tröger, Erik Koenen, Gerd Kopper, Martina Thiele, Arnulf Kutsch, Ingrid Klausing, Andreas Scheu (v.l.n.r., Foto: Markus Thieroff)

Mandy Tröger, Erik Koenen, Gerd Kopper, Martina Thiele, Arnulf Kutsch, Ingrid Klausing, Andreas Scheu (v.l.n.r., Foto: Markus Thieroff)

Kopper hat sich dazu klar positioniert: „zu allgemeinen Erkenntnissen bezogen auf Wissenschaft und Gesellschaft in Deutschland an einem Beispielssegment beitragen“. Die Kommunikationswissenschaft gewissermaßen als Labor, in dem sich studieren lässt, wie Ausstattung, Lehre und Forschung unter ganz bestimmten Bedingungen entwickelt wurden. Um dies möglichst umfassend tun zu können, schlägt Kopper „ein hilfreiches Verfahren aus der Anthropologie“ vor: einen „holistischen Zugang“. In München hat er dies dann weiter vertieft und aus einer „Position als distanzierter Beobachter“ einen Index vorgeschlagen für „die Fachgeschichten, die man im deutschsprachigen Bereich findet“ – von Arbeiten, die das „institutionelle Geschehen“ rekonstruieren, über den Blick auf „andere nationale Wissenschaftskulturen“ (vgl. Averbeck-Lietz 2010) und internationale Vergleiche (Warum Semiotik in Südeuropa?) bis hin zu einer „Fachgeschichtsschreibung, die hypothesenoffen ist“, und so erlaube, „in einen universalistisch geprägten Rahmen“ zu kommen. Folgt man Kopper, dann braucht es dafür neben dem holistischen Zugang auch „neue Formen einer institutionalisierten Plattform“, die Wissenschaftshistoriker einbezieht und Vertreter der Nachbardisziplinen. Für Gerd Kopper ein Vorbild: die Arbeit von Christopher Simpson (1994).

Die Kolleginnen und Kollegen haben darauf mit eher klassischen Auffassungen von Fachgeschichtsschreibung reagiert – sicher auch, weil sie weniger Distanz haben als der Beobachter Kopper. In sehr vielen Statements war von Reflexion die Rede, von Legitimation, von Selbstvergewisserung und Selbstaufklärung. Martina Thiele: „Wir müssen wissen, wer wir sind, woher wir kommen und wo wir stehen. Für mich ist das ganz klar auch eine Machtfrage. Ich würde sofort zustimmen, dass wir uns international zusammentun müssen. Aber davon abgesehen müssen wir uns doch fragen: Wer schreibt Geschichte? Wer macht Geschichte? Sind das vielleicht sogar dieselben Leute?“ Während Thiele dafür plädierte, „Machtstrukturen offenzulegen“, ging Mandy Tröger in ihrem schriftlichen Statement noch einen Schritt weiter und regte die „Kritik einer dominierenden Wissenschaftstradition“ an. Fachgeschichtsschreibung als ein Mittel im Paradigmenstreit.

Mit einer ganz anderen Intention haben auch Andreas Scheu und Manuel Wendelin einen Bezug zu aktuellen Diskussionen im Fach angemahnt. In München hat Scheu das weiter zugespitzt und bezweifelt, „dass Fachgeschichte der Kommunikationswissenschaft gesellschaftlich relevant werden“ und so das erreichen kann, was Gerd Kopper vorschwebt. Weiter Scheu: „Wenn überhaupt, dann können wir relevant werden für andere Schwerpunkte im Fach. Durch Grundlagenforschung. Eine Geschichte der Medienwirkungsforschung zum Beispiel oder eine Geschichte der Journalismusforschung. Linien aufzeigen, zeigen, was doppelt gemacht wurde. Sackgassen. So etwas könnte uns zu mehr Reputation im Fach bringen, zu mehr Zitationen, um banal zu werden.“

Arnulf Kutsch (Foto: Markus Thieroff)

Arnulf Kutsch (Foto: Markus Thieroff)

Nimmt man Koppers Forderung nach „allgemeinen Erkenntnissen bezogen auf Wissenschaft und Gesellschaft“ als das eine Extrem der Debatte, dann befindet sich die Traditionslinie der Fachgeschichtsschreibung, die vor allem Hans Bohrmann und Arnulf Kutsch im deutschsprachigen Raum begründet haben, auf der anderen Seite des Spektrums. Kutsch beschrieb in München, wie er als Student in Münster zu diesem Thema kam. Noch im Herbst 1970 habe der „Baum der Publizistik“ von Hans Amandus Münster (1935: 11) den Seminarraum geschmückt, und kaum jemand habe Erich Everth gekannt. „Wir haben uns an der fachhistorischen Aufgabe orientiert, die der Soziologe Wolf Lepenies (1981) gestellt hat. Sie zielt darauf, fachliche Identität zu schaffen, kognitive, soziale und historische Identität. Dazu gehören auch die Machtverhältnisse. Zur Identitätsstiftung gehörte es nach unserem Verständnis, für die Fachgemeinschaft die wissenschaftliche, akademische und anderweitige Tätigkeit von früheren Fachvertretern unter deren strukturelle Bedingungen zu rekonstruieren und ihre Bedeutung für die fachliche Entwicklung einzuordnen.“

Auch Kutsch sprach von einem „holistischen Ansatz“, allerdings etwas anders als Gerd Kopper: „Man sollte fragen: Durch welche Formalobjekte, Erkenntniszusammenhänge und Gegenstände definierte sich das Fach? Welche Auffassungsunterschiede bestanden darüber und wo ist der jeweilige Fachvertreter zu verorten?“ BLexKom hält Kutsch deshalb für „außerordentlich hilfreich – zur Orientierung und gewiss auch zur Identitätsstiftung. Wenn man feststellt, dass die Personen, die bislang dort durch Artikel oder Interviews vertreten sind, das Fach oder eine bestimmte Forschungsrichtung nur unzureichend dokumentieren, sollte das dazu anspornen, auf dem Weg weiterzumachen.“

Streitpunkt BLexKom

Dass es in dem Münchner Gespräch auch um diese Internet-Plattform ging, hat mit der Entstehungsgeschichte der Veranstaltung zu tun. Gerd Kopper dazu beim Workshop: „Es gab praktisch zunächst keine Intention, aber eine Anfrage des Kollegen Meyen, mit der Bitte um ein Interview für BLexKom. Ich habe darauf etwas harsch reagiert, in meiner bewährten Art. Ich hielt das für unzumutbar.“ Kopper begründete dies in München mit Zweifeln an „der biografischen Methode, wie sie unter der Ägide von Meyen und Kollegen betrieben wird“, und nannte außerdem „Distanzierung“ als Voraussetzung für die Fachgeschichtsschreibung.

Diese beiden Punkte sowie der „Ausgangspaukenschlag“ (Kopper) gaben Kritikern und Verteidigern dieses Biografischen Lexikons ausreichend Raum, ihre Argumente auszutauschen. Größte Gewinner dürften dabei die BLexKom-Nutzer sein. Zum einen spiegelt das Münchner Gespräch den State of the Art der Fachgeschichtsschreibung in der Kommunikationswissenschaft und lädt mit zahlreichen Literaturverweisen zum Vertiefen ein – ganz ähnlich wie vor 30 Jahren das Buch Wege zur Kommunikationsgeschichte von Manfred Bobrowsky und Wolfgang R. Langenbucher (1987). Das Workshop-Format hat es den Herausgebern von BLexKom zum anderen erlaubt, für ihren Ansatz und für diese Plattform zu werben sowie auf Fragen einzugehen, die möglicherweise gar nicht so wenige Kolleginnen und Kollegen bewegen, aber im akademischen Alltagsbetrieb nicht angesprochen werden. Der Dank dafür gebührt Stefanie Averbeck-Lietz, Thomas Birkner, Ingrid Klausing, Erik Koenen, Gerd Kopper, Arnulf Kutsch, Maria Löblich, Andreas Scheu, Christian Schwarzenegger, Martina Thiele, Mandy Tröger und Manuel Wendelin.

Aufbau des Features

Neben den Thesen von Gerd Kopper und dem Gespräch in München werden an dieser Stelle auch die schriftlichen Reaktionen auf das Papier dokumentiert. Außerdem gibt es einen Text, der die Ziele von BLexKom sowie die Entstehung des biografischen Materials erläutert, das auf dieser Plattform zu finden ist, und so den Wunsch nach Transparenz erfüllt, der in München mehrfach geäußert wurde.

Wie weiter mit der Fachgeschichtsschreibung? Arnulf Kutsch hat sein persönliches Fazit in fünf Punkte gegossen: das Workshop-Format verstetigen (eventuell in Verbindung mit einem Examens-Kolloquium), gemeinsame Tagungen mit Experten von außen (etwa mit Wissenschaftssoziologen oder Wissenschaftshistorikern), die Erarbeitung einer Bibliografie, Nachdenken über (gemeinschaftliche?) Schwerpunkte sowie ein Appell an die Fachgemeinschaft, das Material für künftige fachhistorische Forschung zu sichern (etwa Institutsakten). Dem ist nichts hinzuzufügen. BLexKom hat sich durch den Workshop verändert. Neben dieser Workshop-Dokumentation gibt es jetzt ein Editorial Board, das nicht nur helfen soll, die Qualität dieser Plattform zu sichern, sondern gemeinsam mit den Herausgebern daran arbeiten wird, den Katalog von Arnulf Kutsch umzusetzen.

Literaturangaben

  • Stefanie Averbeck-Lietz: Kommunikationstheorien in Frankreich. Der epistemologische Diskurs der Sciences de l’information et de la communication 1975-2005. Berlin: Avinus 2010.
  • Manfred Bobrowsky/Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Wege zur Kommunikationsgeschichte. München: Ölschläger 1987.
  • Wolf Lepenies: Einleitung. In: Wolf Lepenies (Hrsg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität der Soziologie. Bd 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981, S. I-XXXV.
  • Hans A. Münster: Zeitung und Politik. Eine Einführung in die Zeitungswissenschaft. Leipzig: Noske 1935.
  • Christopher Simpson: Science of Coercion. Communication Research and Psychological Warfare, 1945-1960. New York: Oxford University Press 1994.

Empfohlene Zitierweise

    Michael Meyen: Quo vadis, Fachgeschichte? Feature. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2016. http://blexkom.halemverlag.de/quo-vadis-fachgeschichte/ (Datum des Zugriffs).