Leipziger Neuanfang

Ein BLexKom-Feature führt zum nächsten. Das Material zur Journalistenausbildung in der DDR in den 1950er-Jahren, das hier präsentiert wird, ist zumindest teilweise eine Reaktion auf die erste Veröffentlichung zum Thema auf dieser Plattform.


Dieses Feature schließt an die „Leipziger Biografien“ an, die vor zwei Jahren in BLexKom veröffentlicht wurden (vgl. Meyen 2015): sechs lebensgeschichtliche Interviews mit Professoren und Dozenten, die an der Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig gelehrt haben (alphabetisch: Fritz Beckert, Werner Michaelis, Hans Poerschke, Klaus Preisigke, Karl-Heinz Röhr, Wulf Skaun). Dieses Material ist inzwischen genutzt worden, um eine Kollektivbiografie der DDR-Journalistikprofessoren zu schreiben (vgl. Meyen/Wiedemann 2016, 2017).

Ein Vortrag, den ich zu diesem Thema bei der Feier zum 100. Geburtstag des Fachstandortes Leipzig am 1. November 2016 gehalten habe, öffnete die Tür zu diesem neuen Feature. Ingeborg Schmidt bot mir dort das Material an, das ihr Mann Siegfried Schmidt in seinen letzten Seminaren an der Universität Leipzig gesammelt hat. Das Ehepaar gehörte im Herbst 1954 zu den ersten Studenten an der gerade gegründeten Fakultät für Journalistik – genau wie Brigitte Klump, die mit ihrem Bestseller Das rote Kloster die öffentliche Wahrnehmung der Leipziger Journalistenausbildung entscheidend geprägt hat (vgl. Klump 1991). Siegfried Schmidt (Jahrgang 1936) ist nach dem Studium an der Universität geblieben (unter anderem als persönlicher Mitarbeiter von Dekan Hermann Budzislawski), hat dort alle akademischen Weihen erworben (Promotion, Habilitation) und nach einer positiven Evaluation Anfang der 1990er-Jahre am neuen Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft die Brücke zwischen DDR- und gesamtdeutscher Wissenschaft verkörpert.

Frank Stader, Werner Bramke und Siegfried Schmidt (von links) 2009 am Grab von Bruno Schoenlank in Leipzig. Foto: Jürgen Schlimper

„Die Geschichte der Journalistik in Leipzig“: Das war Schmidts letztes großes Thema, umgesetzt zunächst in zwei Lehrveranstaltungen im Sommersemester 2009 und im Wintersemester 2009/10. Gestützt auf Archivrecherchen haben die Teilnehmer Referate und Hausarbeiten zu allen denkbaren Facetten der Fachentwicklung vorgelegt. Lehrpersonal (Biografien, soziale Zusammensetzung, Parteizugehörigkeit) und Lehrprogramm, Rekrutierung der Studenten und Volontariat, Nachwuchsgewinnung (Forschungsstudium). Wie bei studentischen Arbeiten kaum zu vermeiden, handelt es sich eher um Anstöße für die weitere Forschung, um einen Steinbruch für das Buch, das Siegfried Schmidt unbedingt noch schreiben wollte.

Größter Schatz sind die Interviews, die er seine Studenten mit den Kolleginnen und Kollegen von einst führen ließ, aufgezeichnet auf Video und in einigen (wenigen) Fällen auch als autorisierte schriftliche Fassung überliefert. Befragt wurden (wieder alphabetisch) Wolfgang Böttger, Gottfried Braun, Heinz Halbach, Hans Hüttl, Franz Knipping, Marianne Kramp, Wolfgang Ludwig, Werner Michaelis, Klaus Puder, Karl-Heinz Röhr, Jochen Schlevoigt, Jürgen Schlimper, Wulf Skaun und Hans-Joachim Wiesner.

Franz Knipping beim Interview in seiner Berliner Wohnung. Bildschirmfoto: Michael Meyen

Zwei der Gespräche werden in diesem Feature veröffentlicht. Während Heinz Halbach (1930 bis 2014) kurz vor seinem Tod eine schriftliche Fassung autorisiert hat, die nur noch stilistisch geglättet werden musste, gab es von dem Interview mit Franz Knipping (1931 bis 2015) im Nachlass von Siegfried Schmidt lediglich eine Videoaufzeichnung, die ich transkribiert und in eine lesbare Fassung überführt habe. Beide Zeitzeugen sind vor allem für die Anfänge der akademischen Journalistenausbildung in Leipzig wertvoll. Heinz Halbach schrieb sich im Herbst 1951 am Institut für Publizistik und Zeitungswissenschaft ein, wurde schnell (noch als Student) Seminarleiter und hat dann in vielen Funktionen das mitgeformt, was er im letzten DDR-Jahrzehnt als Professor vertreten hat. Halbachs Kommilitone Franz Knipping wiederum, ebenfalls ab 1951 Student in Leipzig, ist der erste und einzige Dekan, der auf eine rein akademische Karriere zurückblicken konnte (Amtszeit: 1965 bis 1967). Sonst war die Leitungsposition immer eine politische Funktion (vgl. Meyen/Wiedemann 2017).

Flankiert werden die beiden Zeitzeugeninterviews zum einen von einem Aufsatz über die Vorläufer der Fakultät, den Jochen Jedraszczyk dankenswerter Weise auf Basis einer früheren Publikation erstellt hat (vgl. Jedraszczyk 2016). Zum anderen wird hier ein Vortrag veröffentlicht, den Siegfried Schmidt am 8. November 1996 auf den VI. Internationalen Leipziger Hochschultagen für Medien und Kommunikation gehalten hat. Das Tagungsthema hieß seinerzeit „80 Jahre Fachgeschichte in Leipzig“, und Schmidts Beitrag „Hermann Budzislawski“. Das Manuskript, das sich in seinem Nachlass befand, trägt das Datum vom 16. September 1997, ist an einigen Stellen handschriftlich korrigiert und offenkundig noch „Work in Progress“. Es wird hier veröffentlicht, weil weder Aktenüberlieferungen noch Zeitzeugen einen Zweifel an der Bedeutung des ersten Dekans für die Leipziger Fakultät lassen.

Professorenkollegen. Von links: Heinz Halbach, Karl-Heinz Röhr und Wolfgang Rödel (Quelle: Privatarchiv Karl-Heinz Röhr).

Kern dieses Features ist ein Aufsatz über das Journalistikstudium in den 1950er-Jahren, der sich neben dem Material, das Siegfried Schmidt und seine beiden Seminare gesammelt haben, auf Akten stützt, die im Bundesarchiv Berlin und im Leipziger Universitätsarchiv überliefert sind. Den roten Faden für diesen Text lieferte Ingeborg Schmidt, von 1954 bis 1958 Studentin am Roten Kloster, die bereit war, noch einmal in diese Jahre einzutauchen, und mir sehr ausführlich über ihren Weg nach Leipzig berichtet hat sowie über die Erfahrungen, die sie dort machen konnte. Dafür bin ich ihr genauso dankbar wie für den Zugang zum Nachlass ihres Mannes. Ohne Ingeborg Schmidt würde es dieses Feature nicht geben.

Die Überschrift zeugt dabei von der Deutungsmacht, die das Buch von Brigitte Klump (1991) immer noch hat. „Der Titel hängt uns bis heute an“, sagt Karl-Heinz Röhr, selbst ab 1956 Student an der Fakultät für Journalistik, der „das Buch mit Befremden gelesen“ hat (Röhr 2015). Sein Kommilitone Hans Poerschke: „Ich habe das nicht als angstgetriebenen, stasidurchsetzten Betrieb erlebt.“ Und weiter: „Jeder würde heute denken, das ist ein Schimpfwort, angeklebt von den bedrängten Nachbarn der Fakultät. In Wirklichkeit war es eine selbstironische Bezeichnung“ (Poerschke 2015). Dass dieses Feature „Das Rote Kloster“ heißt, hat nicht nur mit dieser Ambivalenz zu tun, sondern auch mit dem Wunsch nach Sichtbarkeit. Wenn historische Forschung ins Internet geht, sollten die Suchmaschinen sie finden können.

Literaturangaben

Empfohlene Zitierweise

Michael Meyen: Das Rote Kloster. Leipziger Neuanfang. Feature. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2017. http://blexkom.halemverlag.de/das-rote-kloster/ (Datum des Zugriffs).