Landnahme, Verwestlichung oder Strukturwandel?

Heike Schüler, Michael Haller, Hans Poerschke und Horst Pöttker haben am 22. November 2019 in Leipzig über die Neugründung von Medienforschung und Medienausbildung an der Universität nach der Wiedervereinigung diskutiert. BLexKom dokumentiert das Gespräch.


Leipzig nach der Wende: Landnahme, Verwestlichung oder Strukturwandel?

Eine Dokumentation von Michael Meyen

Vorbemerkung

Wer lieber sieht und hört als liest, kann YouTube nutzen. Was hier dokumentiert wird, ist dort als Mitschnitt verfügbar, in voller Länge. Vielleicht sollte man diesen Klick sogar empfehlen, denn die Magie dieser Veranstaltung entfaltet sich möglicherweise erst, wenn man die Menschen erleben kann, die am 22. November 2019 im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig miteinander diskutiert haben.

Anlass war die Jahrestagung des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft. Thema: Transformation der Medien – Medien der Transformation. Gastgeber: das Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. Diese Kombination von Ort und Thema hat geradezu danach gerufen, sich auch mit dem Wandel der eigenen Disziplin zu beschäftigen. Der Titel des Podiums hatte es dabei in sich. „Der Abriss des Roten Klosters. Wie die Journalistenausbildung in Leipzig verwestlicht wurde“. Immerhin: Die Provokation hat funktioniert. Moderatorin Melanie Malczok hatte einen (fast) vollen Saal vor sich. Tagungspublikum, Stadtbevölkerung, Protagonisten von einst und jetzt.

BLexKom liefert eine schriftliche Fassung der Diskussion, reichert diese mit Literaturangaben sowie Anmerkungen an und steigt ein mit einer etwas längeren Version der Keynote von Hans Poerschke. Live vor Ort hat der Redner den Text etwas gekürzt, um Zeit für das Gespräch zu gewinnen. Die Redebeiträge wurden leicht bearbeitet, um unseren Lesegewohnheiten entgegenzukommen. Das Grußwort von Siegfried Lokatis wird dabei übersprungen, obwohl der Schirmherr dieser Veranstaltung schon mit seiner Person für die Besonderheiten des Leipziger Instituts steht. Nirgendwo sonst im deutschen Sprachraum arbeiten Kommunikations- und Buchwissenschaft unter einem Dach. Auf YouTube kann man hören, dass Lokatis seinen (im Wortsinn) gewichtigen Beitrag zur DDR-Forschung herausstreicht (vgl. Barck et al. 1999) und dafür wirbt, Wissenschaftler aus Ost und West genauso zusammenzubringen wie möglichst viele Disziplinen.

Was Lokatis bei seinen Arbeiten zur DDR am meisten beeindruckt hat: die Geschichten der Kolleginnen und Kollegen. Er erinnert sich an Erzählungen über die „anarchische Pressefreiheit“, die es im ersten Halbjahr 1990 gab. Lokatis: Dort wurde „auf eine Weise Öffentlichkeit hergestellt“, wie es sie „auch in Westdeutschland nicht so leicht gegeben hat“. Wie es weiterging, ist bekannt. Lokatis: die „Bitternis der Abwicklung“. Die Ökonomie. Konzentrationsprozesse. Trotzdem. Es gab eine Zeit voller „Hoffnungen“. Eine „offene Situation“, die viel mehr war „als eine Vorstufe von dem, was gekommen ist“.

Das Podium

Melanie Malczok: Für die, die den Begriff Rotes Kloster nicht kennen: Damit ist die Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität gemeint (vgl. Klump 1978, 1991). Die marxistisch-leninistische Journalistenausbildung wurde im Zuge des Transformationsprozesses durch Studiengänge nach bundesdeutschem Vorbild ersetzt (vgl. Meyen 2016). Doch wie genau lief dieser Prozess vor 30 Jahren eigentlich ab? Heute wollen wir einen Raum schaffen, in dem diese persönlichen Erfahrungen Platz haben sollen. Wir werden die Perspektiven auf dem Podium unbedingt mit Ihren Perspektiven aus dem Publikum anreichern. Verstehen Sie sich also bitte nicht nur als passives Publikum. Wir werden die Diskussion öffnen.

Zuvor möchten wir aber unsere Protagonisten begrüßen: Heike Schüler, heute Redakteurin beim RBB in Berlin und von 1989 bis 1995 Journalistikstudentin an der Universität Leipzig. Michael Haller, 1993 bis 2010 Professor für Journalistik an der Universität Leipzig. Horst Pöttker, emeritierter Professor für Journalistik an der TU Dortmund und von 1992 bis 1995 Gastprofessor in Leipzig. Und Hans Poerschke, von 1983 bis 1990 Professor für Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig, in den Wendemonaten Direktor der Sektion Journalistik und ab 1992 im Vorruhestand. Ihnen, Herr Poerschke, gehört jetzt das Podium.

Hans Poerschke: Gedanken zur Abwicklung (zum Abriss) der Sektion Journalistik

Der Abriss der Leipziger Journalistik begann schon kurz nach dem Mauerfall in den Tagen demokratischen Aufschwungs am Ende der DDR. Wir wollten eine grundlegende Neugestaltung der Sektion. Eine neue Leitung wurde gewählt, mit Veränderungen in der Lehre wurde begonnen. Da viele alte Lehrkonzepte und -materialien nun unbrauchbar waren, wurde der Lehrbetrieb für ein Semester unterbrochen, um Anfänge von etwas Neuem ausarbeiten zu können. Zwei Arbeitsgruppen – eine aus Hochschullehrern, eine aus Studenten und wissenschaftlichen Assistenten – erarbeiteten Entwürfe eines neuen Studienkonzepts. Es gab – zum guten Teil auf Initiative der Studenten – ein umfangreiches Programm von Gastvorlesungen, -seminaren und -übungen von Kollegen aus dem Westen. Die Zeitschrift der Sektion wurde unter dem programmatischen Titel Diskurs erneuert. Sie ließ sich mühelos füllen teils mit Sachen, die in Schreibtischen auf ihre Chance gewartet hatten, teils mit Erkundung des faszinierenden demokratischen Aufbruchs in den Medien der DDR. Ende Mai 1990 luden wir Gäste aus fast allen Instituten der Journalistenausbildung in der Bundesrepublik und in Österreich zu einer Informations- und Diskussionsveranstaltung ein in der leisen Hoffnung, Möglichkeiten künftiger Kooperation finden zu können.

Hans Poerschke 2015 (Foto: Michael Meyen)

Alles das konnte nicht verhindern, dass der eigenständige Fortbestand der Sektion immer fragwürdiger wurde. Das, was die Studenten über das Lehrangebot im Westen erfuhren, entfaltete eine Anziehungskraft, gegen die kein Kraut gewachsen war. Das Vertrauen der Studenten, dass die Leipziger ihnen überzeugend neues Wissen vermitteln könnten, nahm immer mehr ab, Veränderungen waren ihnen zu inkonsequent und zu langsam. Die Direktoren mussten sich einer Vertrauensabstimmung stellen. Von dreien blieb einer übrig.

Das schwierigste Problem war die Auseinandersetzung der Wissenschaftler mit der Rolle, die ihre Tätigkeit in der Politik der SED gespielt hatte, und mit den Überzeugungen, die sie dabei geleitet hatten. In meinem Lehrstuhl habe ich den Versuch initiiert, damit zu beginnen. Sein unbefriedigender Ausgang zeigte, wie schwer es war, eine solche schmerzhafte Selbstbefragung aus dem Stand zu beginnen. Er wurde außerdem – wie zu erwarten – in der Öffentlichkeit kaum akzeptiert, erntete Skepsis, auch Hohn und Spott.

Der Beschluss der sächsischen Staatsregierung vom Dezember 1990 über die Abwicklung setzte all dem ein Ende. Mit ihm begann der Weg zum heutigen Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft. Das aber war keineswegs ein Wunschkind der damaligen Hochschulpolitik. Die sah vielmehr für die Sektion Journalistik nicht nur, wie bei anderen Fachrichtungen, die Abwicklung vor, sondern darüber hinaus, dass an ihrer Stelle nichts Neues gegründet werden solle. Den Journalistikstudenten wurde anheimgestellt, sich an andere Fachrichtungen umimmatrikulieren zu lassen oder im Westen ein Journalistikstudium aufzunehmen. Der erste Weg war für die große Masse der Studenten ungangbar, weil infrage kommende Fachrichtungen selbst der Abwicklung unterlagen; der zweite, weil einschlägige Einrichtungen im Westen nicht eben auf Zustrom aus dem Osten warteten, ganz abgesehen von Hürden der Aufnahmebedingungen.

Die Journalistikstudenten ließen sich das nicht gefallen. Sie traten gemeinsam mit anderen Leipziger Studenten in einen Proteststreik, der sich bis zum Hungerstreik steigerte und weit über Leipzig hinaus großes Aufsehen erregte. Das wirkte. Die sächsische Staatsregierung fühlte sich bei dieser öffentlichen Begleitmusik offenbar unbehaglich. Bildungsminister Hans-Joachim Meyer lud zu einem Gespräch in Dresden ein, an dem neben einer Abordnung von Studenten auch ich, letzter, nunmehr abgewickelter Direktor der Sektion Journalistik, teilnahm. Zuvor hatte ich einige Professoren aus dem Westen gebeten, uns dort im Eintreten für den Erhalt des Standorts Leipzig Rückenstärkung zu geben. Ich erhielt zunächst ein paar Zusagen, als Einziger aber kam Günther Rager aus Dortmund tatsächlich mit uns. Seine Argumente gegen die Absicht, in Leipzig tabula rasa zu machen, sind dem Minister offenkundig gewichtiger erschienen als die unseren. Sie haben ihn zu der Kursänderung bewogen, doch wieder gründen zu lassen. Dass dies kaum Erwartete möglich wurde, ist dem Kampfesmut Leipziger Journalistikstudenten zu verdanken. Damit waren sie – freilich ungebetene – Geburtshelfer des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft. Das sollte nicht vergessen werden.

Mit der zugestandenen Neugründung trat die Frage auf die Tagesordnung: Was an die Stelle des Alten setzen und wie? Und wie verhält man sich zum Leipziger Erbe? Professor Reimers aus München als Gründungsdirektor schwebte eine Einrichtung vor, die mit fünf Lehr- und Forschungsrichtungen breit aufgestellt ist. Die Journalistik sollte ihre Alleinstellung verlieren, sollte nur noch eine der fünf Säulen sein, auf denen die Welt ruht (vgl. Meyen 2016). Reimers’ Pläne zielten auf hohe Akzeptanz und starke Wettbewerbsfähigkeit in der Medienwissenschaft und Medienpraxis der alten Bundesrepublik. Sehr anspruchsvoll also, zweifellos ein Gewinn für das Fach.

Hermann Duncker 1952 zu Besuch im Roten Kloster (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Aber ein Gewinn für die Integration des Ostens? Unter diesem Blickwinkel betrachtet, lässt diese Lösung an den Titel eines Romans von Christoph Hein denken: Landnahme (vgl. Hein 2004). Unverhofft wurde auf bislang fremdem Territorium ein Stück herrenlos gewordenen akademischen Baulands verfügbar. Um es für die zusammenwachsende Gesellschaft nützlich zu machen, wurde nach mitgebrachten Bauplänen und aus mitgebrachtem Baumaterial von eingewanderten Bauleuten ein neues – zugegeben: eindrucksvolles – Gebäude errichtet. So wurde der Handlungsraum der etablierten Kommunikations- und Medienwissenschaft erweitert, wurden von ihr hervorgebrachten hoffnungsvollen Talenten neue Perspektiven eröffnet (mit einer Ausnahme: Hans-Jörg Stiehler).

Das Bild der Landnahme wird bestätigt durch das Verhalten zum Erbe der Leipziger Journalistik. Klar war und ist, dass im neuen Haus nichts Platz haben konnte, womit die Unterordnung des Journalismus, der Journalisten unter die politisch-ideologische Diktatur der Partei und deren restriktive Medienpolitik begründet und durchgesetzt worden war.

Darin erschöpfte sich das Leipziger Erbe aber nicht. So widersprüchlich das auch immer ist – und diese Widersprüche wären ein eigenes, mehr als abendfüllendes Thema – auch unter diesen Bedingungen entwickelten sich solide, für weitere Arbeit wichtige und fruchtbare Erkenntnisergebnisse und Fähigkeiten auf verschiedenen Gebieten: Das waren nach meiner Einschätzung erstens Teile der Geschichte des Journalismus (der proletarischen wie der bürgerlichen Presse, national und regional); zweitens Ansätze einer Theorie der sozialen Kommunikation (ausgerichtet besonders auf das Austragen von Interessenwidersprüchen bei einer demokratischen Neugestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse im Osten Deutschlands); drittens die Methodik der Inhaltsanalyse journalistischer Produkte; viertens der Sprachgebrauch in der öffentlichen Kommunikation (Stilistik der deutschen Sprache); fünftens schließlich der journalistische Schaffensprozess, die journalistische Methodik.

Wie nun mit diesem Erbe verfahren? Die ersten drei Gebiete wurden bei der Gestaltung des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft schlicht ignoriert. Aus den letzten beiden wurden Bestandteile in den Lehrprozess übernommen, die die Vermittlung praktischer Fähigkeiten an die Studenten bereichern konnten, und mit ihnen einige ehemalige Mitarbeiter der Sektion. Diese Entscheidung von Herrn Reimers ist zu würdigen, und jeder der Betroffenen wird froh über die Möglichkeit weiterer Arbeit gewesen sein. Das sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, wie beschränkt diese Lösung war. Das auf diese Weise Übernommene wurde nicht als weiter zu verfolgend in der Struktur des Instituts dauerhaft verankert. Der allmähliche Renteneintritt der Mitarbeiter beendete die vorläufige Lösung, sie blieb eine Episode.

Es gab keine – zumindest keine öffentlich wahrnehmbare – Analyse des in Leipzig Vorgefundenen unter dem Gesichtspunkt, wie es geeignet war, das aus dem Westen mitgebrachte inhaltliche und methodische Arsenal zu bereichern. Nun kann eingewandt werden: Dafür gab es ja die Evaluation! Ja, die gab es, aber sie konnte aus zwei Gründen dieses Defizit nicht beheben: Erstens gestattete sie keine umfassende, systematische Analyse, weil in individuellen Gesprächen nur die Ausschnitte zur Sprache kamen, die sich aus der speziellen Tätigkeit des jeweiligen Mitarbeiters ergaben, und dies gefärbt durch die persönliche Sicht der beiden Gesprächspartner. Zweitens: Ohne die Voraussetzung der eben erwähnte Analyse und ohne das Ziel, in der einmaligen historischen Situation des Zusammenwachsens zweier Gesellschaften neue Wege in Inhalt, Methoden und Struktur künftiger Tätigkeit zu beschreiten, konnte die Evaluation nur darauf hinauslaufen festzustellen, ob und inwieweit der Evaluierte in das aus dem Westen Hergebrachte und Gewohnte integrierbar war. Und genau dies war die der Evaluation von der herrschenden Politik zugedachte Funktion. Das war unabhängig davon, mit welchen Intentionen der einzelne Evaluator seine Arbeit machte, wie stark sein Bemühen um Unvoreingenommenheit und sein Mitgefühl mit dem Betroffenen auch immer sein mochten. Ich habe keinen Grund, meinem Evaluator Kurt Koszyk ein böses Wort hinterherzurufen.

Generell ist festzustellen: Mit der Art, wie der Neuanfang in Leipzig gestaltet wurde, befanden sich die Neu-Leipziger in bester Übereinstimmung mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Trend: Die Printmedien der DDR waren in die Hand westdeutscher Großkonzerne gelangt; der DDR-Rundfunk war geschlossen und in bundesrepublikanische Strukturen überführt; die Privatisierungswelle in der Wirtschaft war am Rollen, weitaus überwiegend zugunsten westdeutscher Interessenten; ostdeutsche Hochschulpolitik bedeutete Einordnung in bundesrepublikanische Strukturen. Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden, will ich ausdrücklich betonen: Ich gehe davon aus, dass die an der Gründung in Leipzig Beteiligten in der Überzeugung handelten, damit auch im wohlverstandenen Interesse der ostdeutschen Landsleute das Bestmögliche zu leisten.

An dieser Stelle erhebt sich natürlich die Frage: Aber konnte es denn dazu eine Alternative geben? Ich möchte nicht in einen Streit über die in der herrschenden Politik so beliebte Alternativlosigkeit eintreten, sondern nur einiges zu überlegen geben. Als das Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft gegründet wurde, waren in Deutschland gerade zwei Gesellschaften in eins geworfen worden. Zwei Kulturen stießen aufeinander und mussten miteinander zurechtkommen, zwei Kulturen in der Denk- und Lebensweise der Menschen und der Politik, in der Wirkungsweise der Medien, in der öffentlichen Kommunikation, in der Arbeit der Journalisten. Auch wenn wir das heute natürlich viel besser wissen, war schon damals sichtbar, dass ein schwieriger und langwieriger Prozess des Kennenlernens begonnen hatte, in dem sich auf beiden Seiten der früheren Grenze ein Verständnis der jeweils anderen und das Selbstverständnis in der neuen Situation, Formen der Diskussion und des Streits, Formen des Umgangs miteinander entwickeln mussten. Eine große, noch nie dagewesene Herausforderung für Journalisten und andere Medienschaffende, eine ebenso große für die Kommunikations- und Medienwissenschaft.

Wie konnten die Medien in diesen Prozess eingreifen und wie haben sie es getan? Wie haben sie Menschen auf beiden Seiten ermöglicht, die widerspruchsvolle, konfliktreiche gesellschaftliche Situation zu durchschauen und über sie zu rationalem Urteil zu gelangen? Wie haben sie geholfen, einen demokratischen Diskurs auf gleicher Augenhöhe zu entwickeln? Wie haben sie sich zur Politik der in der Bundesrepublik alteingesessenen und der neu etablierten staatlichen Institutionen, wie zu den Aktivitäten der Zivilgesellschaft verhalten? Und so weiter, und so weiter … Ein riesiges Feld von Aufgaben für die Wissenschaft.

Studentenleben an der Sektion Journalistik Mitte der 1970er Jahre (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Wie kaum an einem anderen Ort bot sich damals in Leipzig die Chance, ein Projekt zu installieren, das sich der Rolle des Journalismus (oder: der Medien) in einer aus bis dahin unvereinbaren Teilen zusammenwachsenden Gesellschaft widmete, das sein Wirken in der Entwicklung des politischen und geistigen Lebens dieser Gesellschaft erkundete und kritisch begleitete und damit zu einer produktiven Kraft in diesem Prozess wie auch in der Entwicklung der Wissenschaft werden konnte. Ein solches Projekt wäre vermutlich ein hervorragendes Alleinstellungsmerkmal des Leipziger Instituts gewesen. Es hätte allerdings nicht im Modus der Landnahme fruchtbar werden können. Es hätte das Zusammenwirken von Wissenschaftlern beiderlei Herkunft erfordert, um Vertrautheit mit den jeweiligen Verhältnissen, um Einschätzung auch aus der jeweiligen Binnenperspektive zu ermöglichen. Ich bin davon überzeugt, dass sich unter den Hinterbliebenen der Sektion Journalistik und darüber hinaus dafür qualifizierte Mitarbeiter gefunden hätten. Und im Übrigen hätte gemeinsame Arbeit die Gelegenheit ergeben, recht schnell und verlässlich zu erkennen, wer welchen Geistes Kind ist.

Ein solches Projekt ist bekanntlich nicht zustande gekommen. Es ist nicht einmal erwogen worden. Das hatte manche Gründe. Einer unter ihnen war nach meiner Auffassung der entscheidende: Es hätte politisch gewollt werden müssen.

Wir reden heute über jene Zeit in einer Situation, die ihr in mancher Hinsicht ähnelt und auch Wurzeln in ihr hat. Die Erhaltung und Entwicklung einer demokratischen, zivilisierten öffentlichen Kommunikation ist immer deutlicher zum brennenden, ja, existenziellen Thema geworden. Die Gefahren, die ihr drohen, haben auch etwas damit zu tun, wie einst der Vereinigungsprozess verlaufen ist. Wir reden also über hier und heute, wenn wir uns an unsere Geschichte erinnern. Vielleicht kann man ja doch aus Erfahrung lernen?

Die Diskussion

Melanie Malczok: Frau Schüler, Herr Poerschke hat die sehr aktive und gestaltende Rolle der Studierenden hervorgehoben. Wie müssen wir uns das vorstellen?

Heike Schüler: So ungewöhnlich war das gar nicht. Ich habe 1989 angefangen, noch unter dem alten System. Mit einer Tabakernte in Sachsen-Anhalt. Ich wusste gar nicht, wie man Tabak erntet. Die großen Blätter auffädeln. So etwas musste man als DDR-Student machen. Dann fing es ganz normal an, in Seminargruppen. 120 Studenten aus allen Teilen der DDR. Vom Fernsehen aus Adlershof, von Radiostationen, von Zeitungen. Ich selbst habe in Potsdam Volontariat gemacht, bei der Märkischen Volksstimme, und wurde delegiert. Das war der einzige Weg, um Journalist zu werden in der DDR. Ich wollte Journalistin werden und bin frohen Mutes an die Karl-Marx-Universität gegangen zum Roten Kloster.

Wir merkten natürlich dann gerade in Leipzig, dass ziemlich viel passiert. Es gab die Demonstrationen. Die haben wir hautnah miterlebt. Unsere Sektion war erst einmal etwas verwirrt. Wir haben in unseren Seminaren das Verbot bekommen, an den Demonstrationen teilzunehmen. Wir waren neugierig und haben uns das trotzdem angeguckt. Wir haben auch zusammen ferngesehen. Fast alle Journalistikstudenten wohnten zusammen in einem Studentenwohnheim. Dort haben wir mit großer Begeisterung gesehen, dass die Aktuelle Kamera plötzlich eine spannende Nachrichtensendung wurde. Wir saßen auch alle da, als verkündet wurde, dass die Mauer auf ist. Die Ersten sind sofort nach dieser Fernsehsendung in ihre Trabis gestiegen oder in den Zug und nach Westberlin rüber. Das habe ich nicht gemacht, weil ich nicht an einen Umsturz geglaubt habe. Als die Mauer aufging, hatte ich keine Angst mehr, dass sich die Geschichte zurückdreht. Ich habe mir noch eine Woche Zeit gelassen.

Im Studium war damals gerade ziemlich viel Bewegung. Wir hatten uns zwei Tage vor dem Mauerfall bereit erklärt, in die Volkswirtschaft zu gehen. Gerade aus Leipzig sind ja sehr viele Bürger in den Westen abgehauen. Es fehlten vor allem Krankenschwestern, Busfahrer, Straßenbahnfahrer. Es fehlten in vielen Bereichen Menschen. Man ist in die Unis betteln gegangen. Wollt ihr nicht vielleicht Dienst im Krankenhaus machen? Der Mauerfall war Donnerstag. Freitag und Samstag sollte ich im Krankenhaus sein. Da konnte ich nicht nach Westberlin fahren. Wir waren alle sehr pflichtbewusst.

Es dauerte aber nicht lange, bis wir geschlossen in einem der Hörsäle saßen und abgestimmt haben, dass wir nicht mit dem alten Lehrplan weiterstudieren wollen. 120 Studenten des ersten Semesters. Wir hatten unsere Mündigkeit entdeckt. Wir haben gesagt: Okay, wir wissen, dass das jetzt alles ganz schwierig wird. Es können nicht 120 Studenten mit den Professoren verhandeln. Was Professor Poerschke geschildert hat, das habe ich so erlebt. Wir haben zusammen mit unseren Dozenten einen neuen Studienplan entwickeln wollen. Wir haben dann abgestimmt und zehn oder 15 Leute gewählt. Ich weiß nicht mehr genau, wie viele das waren. Die sind dann in die Kommission mit den Professoren gegangen.

Ich war nicht in dieser Kommission. Ich bin in die Volkswirtschaft und habe Straßenbahnfahrerin gelernt. Erst mal die Zeit überbrücken. Wir dachten, dass das gar nicht so schnell geht mit dem neuen Studium. Eigentlich hieß es, wir setzen das erste Semester aus, bis März 1990. Dann haben wir aber nach den Weihnachtsferien wieder angefangen zu studieren. Ich habe meinen Führerschein zu Ende gemacht und bin anderthalb Jahre Straßenbahn gefahren, habe aber weiter studiert. Ich habe den großen Aufbruch als Studentin erlebt.

Diskussion an der Sektion Journalistik 1990. Hans Poerschke (links) und Klaus Preisigke. Im Hintergrund: Günther Rager (Quelle: Privatarchiv Klaus Preisigke).

Bestimmte Sachen hatten wir nicht mehr im Unterricht. Dialektischer und historischer Materialismus. Das wollten wir nicht mehr als eigenes Studienfach. Wir wollten aber weiter Stilistik haben. Wir wollten Dr. Schlimper. Pressegeschichte. Das waren Fächer, wo wir dachten, das ist doch nach wie vor sinnvoll. Schwierig wurde es dann für uns alle, als der Brief aus der Staatskanzlei in Dresden kam mit der Abwicklung. Professor Poerschke hat das geschildert. Wir waren alle fassungslos und konnten das nicht glauben, weil wir uns doch selbst erneuert haben. Von uns aus erneuert. Dann gab es den großen Streik. Ich habe auch im Rektoratsgebäude genächtigt. Das haben wir besetzt und gesagt: Wir machen das nicht mit. Wir konnten ja eine breite Öffentlichkeit herstellen. Wir kamen alle aus den Medien. Ich habe für die Märkische Volksstimme, die jetzt Märkische Allgemeine heißt, einen Artikel geschrieben über diesen Protest der Studenten in Leipzig. Das haben alle anderen auch gemacht. Die Volontäre von der Jungen Welt, die Radioleute. Wir haben Interviews gegeben. Wir haben das in die Welt hinausgetragen. Wir haben unsere Mündigkeit genutzt.

Ich bin froh, dass zumindest das Journalistikstudium weitergeführt werden konnte, wobei ich gar nicht weiß, wie viele von den 120 Studenten überhaupt bis zum Ende gekommen sind. Ich schätze: die Hälfte. Ich selbst hatte auch zwischendurch aufgegeben und mich an der Freien Universität Berlin beworben. Ich habe den Studienplatz aber nicht angetreten, sondern 1994 in Leipzig mein Diplom gemacht.

Melanie Malczok: War das für Sie eine Zeit der Ermächtigung oder eine Zeit der Entmündigung?

Heike Schüler: Erst natürlich eine Zeit der Ermächtigung. Die Journalisten konnten endlich schreiben, was sie wollten. Wir Studenten konnten auch schreiben, was wir wollten. Wir konnten mitentscheiden, was wir studieren. Das war natürlich eine große Ermächtigung. Es gab dann wieder einen Rückschlag. Wir haben natürlich gerne zugehört, was die Westprofessoren zu sagen hatten, die uns als Gastprofessoren geschickt wurden. Wir haben da durchaus unterschiedliche Erfahrungen gemacht, die manchmal auch verletzend waren. Ich kann mich an ein Beispiel erinnern, aber nicht mehr an den Namen. Eine Statistikvorlesung. Vielleicht nicht das spannendste Thema, aber wir waren neugierig und wissbegierig, saßen alle mucksmäuschenstill im Hörsaal und lauschten einer zugegeben langatmigen und etwas langweiligen Vorlesung eines Westprofessors. Dann piepte in diese Stille eine Digitaluhr, und der Dozent oder Professor schaute auf und sagte: Ach, diese Uhren waren bei uns vor zehn Jahren auch mal modern. Ich ärgere mich bis heute, dass ich nicht aufgestanden bin und gesagt habe: Sie können mich mal. Das haben wir leider auch erlebt.

Dass uns diese Studienmöglichkeit Ende 1990 genommen werden sollte, war auch eine große Entmündigung. Das war wirklich schade. Ich habe bei einigen Dozenten, die auch zu DDR-Zeiten schon Dozenten waren, noch bis 1993/94 studiert. Ich erinnere mich an Frau Romeyke. Was sie mir damals beigebracht hat, habe ich immer noch im Kopf. Das ist eine fundierte journalistische Ausbildung gewesen, die wir in Leipzig hatten und die meinen Kollegen immer noch hilft, die alle dieses Studium hier durchlaufen haben. Das ist wirklich großes Handwerk gewesen. Großes Wissen. Es gab diese sozialistischen Vorzeichen. Es gab diese philosophischen Vorzeichen, die anders waren als das, was man im Westen gelehrt hat. Aber es war Philosophie. Es war Denken. Dinge infrage stellen. Ich bin froh und auch stolz auf mein Diplom in Leipzig. Damit konnte ich mich bewerben und damit bin ich beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk gelandet. Es ist also kein wertloses Diplom gewesen.

Melanie Malczok: Herr Haller, inwieweit waren Sie mit diesen philosophischen Vorzeichen noch konfrontiert und wie haben Sie diese Umbruchphase erlebt?

Michael Haller: Als ich zum ersten Mal nach Leipzig kam am Ende des Wintersemesters 1992/93, hatte schon eine ganz neue Phase des Aufbaus begonnen (vgl. Haller 2017). Da ging es um die Frage, wie sich dieses von Reimers ausgedachte Fünf-Säulen-Institut organisieren und zusammensetzen soll. Mit welchen Inhalten werden diese fünf Säulen gefüllt? Für mich war neu und auch der Reiz, nach Leipzig zu kommen, dass hier eine Journalistenausbildung versucht, wie Phönix aus der Asche zu kommen. Wir meinten damit natürlich die Abwicklung und nicht die große Tradition dieses Instituts. Es gab eine ganze Reihe von solchen kleinen Missverständnissen, die gar nicht so einfach wieder auszuräumen waren, weil wir doch in unterschiedlichen Denk- und Sprachwelten unterwegs gewesen sind.

Für mich war wichtig, dass ich mit einer ganz anderen Perspektive hierherkam, als Sie es eben geschildert haben, Frau Schüler. Das hing damit zusammen, dass wir Journalistenausbilder und uns ein bisschen über Journalismustheorie Gedanken machende Wessis schon seit dem Winter 1990 in Medienredaktionen geholt wurden, zu Umschulungskursen. Leute von der Bundeszentrale für politische Bildung und von den Journalistenverbänden. Ich war schon ein Jahr durch die Noch-DDR getingelt und kannte sehr viele Fragen und Probleme, die mit dem Transformationsprozess in den Medienhäusern verbunden waren. Es war interessant, das Interesse und die Neugier auf das zu sehen, was von den Medien aus der kapitalistisch-demokratisch organisierten Marktwirtschaft kommt. Das erschien deswegen als besonders attraktiv, weil es eine Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit inkludierte, die diese Gestaltungsmöglichkeiten zu öffnen schien.

Melanie Malczok: Was waren denn das für Fragen und Probleme?

Michael Haller: Was heißt in einem Medienproduktionsprozess eigentlich Pressefreiheit? Diese Frage kannten wir aus langer Tradition. Wem gegenüber und für was? Die Freiheit von etwas und die Freiheit für etwas. Vielleicht eine Fußnote zum Titel der Veranstaltung heute Abend. Ich kann gut nachvollziehen, dass Sie hier in der DDR das damals als Landnahme gesehen haben, wie Sie das gerade genannt haben, Herr Poerschke. Deshalb heißt das heute Abend Verwestlichung. Aus meiner Sicht ist das aber auch missverständlich. Tatsächlich war es ja ein Strukturwandel. Eine radikale Transformation aus einem staatssozialistischen System in ein kapitalistisch-marktwirtschaftliches System. Die Himmelsrichtungen sind da egal. Westen, Osten, Norden oder Süden. Diese Transformation war das Entscheidende. Das war das Neue für die Journalistinnen und Journalisten in den Redaktionen. In diesen Veranstaltungen wollten sie erfahren, wie weit man jetzt gehen kann, wenn man einen neuen Medienunternehmer als Verleger hat. Muss man das ausführen, was angesagt ist? So, wie man es gelernt hatte zu DDR-Zeiten? Also sprachlich-stilistisch, so gut es geht? Oder kann man seiner Subjektivität, die man neu entdeckt hatte, einfach Raum geben und warten, bis Widerspruch kommt? Da war eine gewisse Ratlosigkeit. Wie definiert sich diese innere Pressefreiheit gegenüber dem Eigentümer, der (um das alte vielzitierte Wort von Paul Sethe aus den 1960er Jahren zu nutzen, der gesagt hat, Pressefreiheit sei die Freiheit von 200 mächtigen Männern) das Eigentumsrecht hat, Tendenzschutz genießt in den privatwirtschaftlich organisierten Medien und das letzte Wort hat spätestens über die Personalpolitik?

Michael Haller 1993 auf einer Podiumsdiskussion (Quelle: Privatarchiv Michael Haller)

Ich kam nach Leipzig mit der Idee, den redaktionellen Raum so zu sichern, dass es eine Gestaltungsmöglichkeit gibt unter dem Dach des Auftrags des Journalismus, wie er formuliert wurde über die einschlägigen wichtigen Bundesverfassungsgerichtsurteile. Kritik und Kontrolle. Eine aufgeklärte, ausgeglichene, ausgewogene Berichterstattung. All das, was für uns seit den 1960er Jahren selbstverständlich geworden war. Wie kann ich das verbinden mit der Frage eines redaktionellen Innenraums, der auch so etwas wie eine innere Pressefreiheit garantiert, neben der äußeren, die im Grundgesetz festgeschrieben ist als Abwehrrecht gegenüber dem Staat? Auch das Auskunftsrecht darf man nicht vergessen. Das war alles kein Geschenk des Himmels, sondern wurde von uns, von meiner Generation über Jahrzehnte erstritten. Gerade das Auskunftsrecht. Dass Behörden auskunftspflichtig sind. Dass das endlich in den Landespressegesetzen festgeschrieben war. Das war ein harter Weg. Diese Dinge brachten wir mit. Das war das Neue. Danach wurden wir gefragt.

Melanie Malczok: Frau Schüler rutscht auf ihrem Stuhl hin und her.

Heike Schüler: Klar wollte man das alles wissen. Diese ersten Erlebnisse mit den sogenannten „Westprofessoren“ relativierten sich dann auch. Wir kriegten dann auch Personen, die für uns glaubwürdig waren. Ich habe sehr viel mit dir und bei dir studiert (zu Horst Pöttker). Ich wollte auch promovieren, das hat sich aber aus unterschiedlichen Gründen noch nicht ergeben und jetzt klappt es sicher auch nicht mehr.

1990 und auch Anfang 1991 war es noch relativ kompliziert, die Spreu vom Weizen zu trennen. Es sind sicher auch ein paar Glücksritter gekommen. Es gab bei uns den Spruch: Naja, die im Westen nichts werden, versuchen es jetzt bei uns. Das ist auch gemein. Ich habe auch gute Erfahrungen gemacht. Wir, Horst, haben viel diskutiert. Ich kann mich noch gut an die Vorlesung erinnern, in der wir über die Sprache des Dritten Reichs gesprochen haben. Zwei Studenten kamen nach vorn und sagten: Das hatten wir bei uns auch. Da hieß das nach Victor Klemperer LTI (vgl. Klemperer 1947). Was war das nochmal bei dir?

Horst Pöttker: Ich kannte die LTI auch und daneben noch das Wörterbuch des Unmenschen (vgl. Sternberger et al. 1962).

Heike Schüler: Wir haben dann diskutiert, dass es in beiden Teilen Deutschlands eine Sensibilisierung für Sprache gab. Dieses Zusammenwachsen ist irgendwann schon passiert.

Horst Pöttker: Ich sollte vielleicht zu Beginn sagen, wer mich überhaupt geschickt hat und wann das war (vgl. Pöttker 2018). Ich bin ein bisschen vor Michael Haller hier gewesen, am Anfang dieses Wintersemesters 1992/93. Mich hat die evangelische Kirche geschickt. Ich war Redakteur einer Zeitschrift, die sich mit Medienfragen und publizistischen Fragen beschäftigt hat. Ich habe mich gefreut, dass ich hierhergeschickt wurde, weil ich irgendwie neugierig war und weil ich mich für die DDR schon immer interessiert hatte. Ich hatte mal eine vierwöchige Reise durch die DDR gemacht in den 1970er Jahren mit ein paar Kollegen. Und ich hatte auch noch Verwandte in der DDR. Als Redakteur der Zeitschrift medium habe ich 1986 ein Themenheft „Medien in der DDR“ gemacht (vgl. Pöttker 1986). Da schrieben auch Redakteure der Kirchengebietspresse. Das war ein Heft, das sich weniger mit den Lenkungsstrukturen beschäftigt hat und mit den Lenkungsmechanismen. Es ging auch um das Publikum. Ein Text hieß: Vom Kampf der Medien mit einem widerspenstigen Publikum. So ähnlich (vgl. Geißler 1986). Dass das Publikum auch widerspenstig war, das kam da schon vor. Das war, glaube ich, das zweite oder dritte Heft, was ich da machte. Da fragte mich meine Umgebung in Frankfurt im Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik, ob das ein Thema sei, das sich lohnt und ob man das überhaupt machen müsse. Ich fand: schon.

Horst Pöttker (Foto: privat)

Ich hatte einfach Interesse und habe mich dann gerne hierherschicken lassen. Die Kirche hatte vielleicht auch das Motiv, sich an diesem Prozess hier zu beteiligen. Das dachte ich zumindest. Aus heutiger Sicht denke ich, dass es noch ein anderes Motiv gab. Ich war der Kirche ein bisschen unbequem geworden. Diese Zeitschrift war auch nicht ganz billig. Die wollten mich wahrscheinlich auch auf elegante Weise loswerden. Das ist ihnen gelungen. Sie haben die Zeitschrift in dieser Zeit eingestellt (vgl. Pöttker 2018).

Aber ich kam aus Interesse und wollte eigentlich erfahren, was hier geschieht. Ich hatte keine programmatischen Ideen, was ich anderen hier beibringen will. Ich bin ja sowohl Journalist als auch Wissenschaftler und wollte mit eigenen Augen sehen, wie das hier so abläuft. Ich hatte durchaus auch die Idee, die Hans Poerschke angesprochen hat. Ich wollte kooperieren mit den Menschen, die ich hier treffe. Das habe ich teilweise gemacht, aber eigentlich ist mir das dann eher gelungen, als ich in Dortmund war.

Ich hätte mich entscheiden können, hier zu bleiben, aber ich habe mich dann für Dortmund entschieden. Das war Ende 1995 und oder Anfang 1996. Als ich in Dortmund war, habe ich mit Kollegen aus dem Fachbereich Stilistik das fortgeschrieben und ergänzt, war hier Anfang der 1980er Jahre entstanden war. Wir haben die Leninsche Journalismusideologie durch eine andere ersetzt, die hoffentlich zutreffender ist. Wir haben Beispiele, die nur aus der DDR kamen, durch westliche Beispiele ersetzt. Wir haben einen genrespezifischen Teil noch dazugeschrieben. Das haben wir zu viert gemacht. Das Buch ist 2000 erschienen im Westdeutschen Verlag. Stilistik für Journalisten. Zwei Kollegen aus Leipzig, ich und ein Mitarbeiter aus Dortmund. Wir haben 2010 eine zweite Auflage gemacht und das noch mal erweitert, noch mal umgearbeitet. In diesem Projekt drückt sich vielleicht aus, dass mir daran gelegen war, zusammenzuarbeiten (vgl. Kurz et al. 2010).

Meine Beobachtung der Evaluation oder der Folgen dieser Evaluation: Einige durften bleiben, die meisten aber mussten gehen. Ich weiß nicht, ob das immer ganz gerecht war, nicht nur im moralischen Sinne gerecht, sondern auch sachgerecht. Ich habe dann doch festgestellt, dass es einige gab, die sehr schnell von Lenin auf Thomas S. Kuhn umgeschaltet haben. Die durften noch eine Zeit lang bleiben. Das betrifft nicht Hans-Jörg Stiehler, der vorhin erwähnt wurde (vgl. Stiehler 2014). Es gab andere, bei denen ich Gewinn aus diesen kleinen Broschüren ziehen konnte, die vor 1989 erschienen waren (vgl. Poerschke 1988/89). Da war zu sehen, dass sie Sorge hatten, dass die DDR vielleicht an zu wenig oder falsch hergestellter Öffentlichkeit leiden könnte. Dazu gehört Hans Poerschke, bei dem ich bedauert habe, dass er gehen musste. Das fand ich sowohl im moralischen wie auch im sachlichen Sinne ungerecht.

Melanie Malczok: Ich möchte die Atempause nutzen und fragen, was sich hinter der Evaluation verbirgt. Wie müssen wir uns diesen Prozess vorstellen?

Hans Poerschke: Womit soll man die Evaluation vergleichen? Nicht mit einer Beichte, obwohl die äußere Konstellation so ähnlich ist. Das waren individuelle Gespräche, in denen einer, der evaluiert hat im Auftrage der Universität, des Institut oder wessen auch immer, die Aufgabe hatte, mit dem anderen im Gespräch herauszubekommen, was der für einer ist. Ich sage das jetzt mal ganz grob. Was hat er getan, wie gibt er sich? Was kann man heraushören? Ist das ein nicht nur intelligenter, sondern auch ein wissenschaftlich befähigter Mensch? Das sollte in einem individuellen Gespräch herausgefunden werden.

Das Problem ist die Zielrichtung, mit der dieses Gespräch geführt wurde. Ob das der Einzelne so wollte oder nicht: Die generelle Zielrichtung war, die herauszufinden, die sich in das vom Westen her Gewohnte und nunmehr auch für den Osten Gültige einpassen ließen. Eingepasst haben. Ich will nicht behaupten, dass da irgendjemand manipuliert worden wäre. Vielleicht kann man das auch mit einer Prüfung vergleichen. Mein Evaluator war Kurt Koszyk. Der hatte das Pech, dass das, was ich ihm vorlegen konnte, in hohem Maße von sowjetischer Literatur lebte. Er konnte beim besten Willen mit diesen Sachen nichts anfangen, was ich ihm überhaupt nicht übelnehmen kann. Am Ende kam heraus, dass er offenbar keinen Grund sah, dass ich verschwinden soll, aber auch keinen richtigen Grund formulieren konnte, warum ich bleiben soll. Das war für mich zwiespältig.

Meine Entscheidung beruhte dann nicht auf diesem Gespräch. Ich habe die Theorie des Journalismus in Leipzig vertreten (vgl. Poerschke 1988/89, 2015). Das war das Ideologischste vom Ideologischen. Ich war die Spinne im Netz. Ich habe über das geredet und auch reden wollen, warum es einen Journalismus gibt aus der Sicht der damals Herrschenden. Ich habe diese Sicht geteilt. Mir war klar, dass damit in einer veränderten Welt nichts anzufangen ist und dass ich damit meinen Beitrag zum Untergang der DDR geleistet habe. Das war für viele sehr schwer einzusehen. Dass das die Folgen ihres eigenen Handelns sein sollen.

Das Problem war für mich, Boden unter die Füße zu kriegen, von dem ich die Fragen beantworten kann, um die ich mich bis dahin bemüht hatte, die ich aber nicht zufriedenstellend beantworten konnte. Reimers hat mir ein Jahr Zeit gegeben mit einem Arbeitsvertrag. Das kann ich ihm hoch anrechnen. Tue ich auch. Aber erstens war nicht die Gelassenheit da, die man braucht, um Abstand zu finden. Und zweitens habe ich vielleicht nie wieder so viel gelesen wie in diesem Jahr. Aber ich wollte mich nicht einfach auf den Schoß von Onkel Niklas setzen oder von Onkel Jürgen oder von Onkel Karl. Sie wissen, wen ich meine. Die waren ja frisch im Angebot, und die Studenten waren zum guten Teil begeistert. Ich habe gemerkt, dass ich dort keine Erklärung finde, die für mich akzeptabel ist. Damit hatte sich jeder Wunsch erledigt, weiterzumachen als wäre nichts gewesen. Ich habe mich nicht beworben aus gutem Grund.

Horst Pöttker: Das ist genau das, was ich gerade sagen wollte. Wir können die Nachnamen ruhig nennen. Luhmann, Habermas, Popper. Es gab Kollegen, die da sehr schnell gelandet waren, fast von einer Woche auf die andere. Ich habe das erlebt auf Tagungen und mir gedacht: Naja, eigentlich sollte ein Wissenschaftler schon für Kontinuität stehen. Was er lange gedacht hat, das kann nicht plötzlich verschwinden und einfach durch etwas anderes ersetzt werden. Sonst kann das vorher nicht so wertvoll gewesen sein. Bei dir, Hans, war das nicht so.
Ich würde nach wie vor sagen: Wir behaupten ja, wir hätten ein pluralistisches Wissenschaftssystem. Marxistische Positionen oder Positionen, die sich auf die Texte beziehen, die sich damit auskennen und das etwas auffrischen, kann man ja heute suchen wie die Stecknadel im Heuhaufen. Hier sind wir heute gerade in einem etwas anderen Kontext, aber das ist sehr selten geworden. Man hätte vielleicht Leute, die das authentisch vertreten können und die das schon länger gedacht haben, ganz gut brauchen können.

Michael Haller: Um noch einmal auf die Frage der Evaluation zurückzukommen. Eben haben wir über die inhaltliche Evaluation gesprochen. Was man nicht ganz vergessen darf: Daneben gab es die personalpolitische Überprüfung durch die Gauck-Behörde. Wie weit waren die Mitarbeiter mit dem Ministerium für Staatssicherheit verbandelt? Es war für mich schon sehr eindrücklich zu sehen, dass in der Zeit 1992, 1993, 1994 von einem Tag auf den anderen dieser Mitarbeiter verschwand oder jene Mitarbeiterin, ohne irgendeine Information. Erst durch Nachfragen und Rückrufe beim Personaldezernat wurde dann mitgeteilt, dass diese Person gegauckt sei und so belastet, dass sie nicht weiter beschäftigt werden könne. Wir hatten neben vielen anderen Prozessen in der Anfangsphase auch eine gewisse Fluktuation auf der Mitarbeiterebene.

Was mir ganz wichtig ist, Herr Poerschke: Dass der Diplomstudiengang Journalistik, den wir ab 1993 haben entwickeln können, so ein Erfolgsmodell wurde, ist ganz wesentlich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu verdanken, die wir aus der DDR-Journalistik haben behalten können (vgl. Haller 2017). Ich habe mit Freude gesehen, dass einige Kolleginnen und Kollegen hier im Publikum sitzen. Ohne diese Zusammenarbeit, die ausgesprochen konstruktiv war und die eine enorme Arbeit bedeutet hat, weil es ja ein wirklicher Systemwechsel war mit einem völlig anderen Curriculum, mit einem anderen Prüfungssystem und einer anderen Universitätsorganisation, wäre uns das nicht gelungen.

Daneben ist uns auch gelungen, gerade über Diplomarbeiten von jungen künftigen Journalistinnen und Journalisten, die Schlussphase des DDR-Journalismus und der Wendejahre sehr gut auszuarbeiten. Wie ist das abgelaufen, was ging schief? Was ist verhindert worden und was hat sich in der Marktwirtschaft nicht durchsetzen können? Was gab es an Start-up-Publizistik 1989 bis 1991, bis die neuen Machtverhältnisse etabliert waren? Das liegt alles in der Institutsbibliothek. Eine ausgezeichnete Aufarbeitung von unseren Studierenden, begleitet und angeleitet von den wissenschaftlichen Mitarbeitern an meinem Lehrstuhl. Ich würde denken: Da war doch sehr viel mehr. Nicht nur Bruch, sondern zugleich Kontinuität. Gerade Stilistik. Wir hatten drei ausgezeichnete Stilistik-Dozentinnen weiter bei uns, die hochgeschätzt im Diplomstudiengang Journalistik Stilistik vermittelt haben.

Heike Schüler: Noch ein Wort zur Evaluation. Ich bin gut befreundet mit einem Designprofessor aus Berlin. Wir haben sehr viel miteinander gesprochen und haben zusammen ein Buch geschrieben (vgl. Schüler 2019). Deshalb weiß ich, wie schmerzhaft es ist, wenn Professoren, die über viele Jahre Studenten unterrichtet haben, sich einer Prüfung stellen müssen. Wenn angezweifelt wird, dass sie die Lehrbefähigung haben. Wenn Professor Poerschke sagt, er hat das, was er gerne gelehrt hätte, nicht weiterführen können, dann ist das seine Entscheidung. Wenn er sich deshalb nicht neu bewirbt. Aber wie demütigend ist es für einen Professor, das tun zu müssen? Das ist schon krass. Meine ehemaligen Dozenten tun mir wirklich leid.

Melanie Malczok: Herr Haller hatte gerade das Publikum ins Spiel gebracht. Das ist der Moment, wo wir die Diskussion gerne öffnen möchten.

Reinhard Bohse: Ich bin Sachse und möchte ein bisschen Wasser in diese Diskussion kippen, um das Mindeste zu sagen. Mir ist das alles zu nett. Ich bin der Ansicht: Wenn wir Ostdeutschen es geschafft hätten, 1968 mit dem Tschechen zusammen dieses System zu stürzen, dann hätten wir es auch geschafft, mit den Westdeutschen auf Augenhöhe auszukommen. Das System DDR war 1989 kaputt. Es war fertig. Und die Hunderttausenden Leute, die auf der Straße waren, waren nicht völlig umsonst auf der Straße.

Eins will ich dazu sagen: Vom Roten Kloster wird hier ja fast ironisch oder vielleicht sogar ganz nett gesprochen. Das war eine Institution, die dafür da war, Propaganda zu erzeugen. Natürlich möglichst geschickt und clever. Da waren sicherlich auch gute Leute dabei. Aber es ging um Propaganda (1). Über diese Propaganda kann man auch noch lachen mit dem Abstand von heute, wenn man die Zeitungen liest. Dann ist das sehr schön. Wenn man aber in der DDR lebte, wenn man da einfach etwas dagegen sagte, dann hatte das sofort Folgen. Dann durfte man nicht studieren und kam im schlimmsten Fall in den Knast. Das war ein richtig hartes System. Und für dieses harte System hat das Rote Kloster die Journalisten geliefert.

Journalistikstudenten, Mitte der 1970er (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Das waren aber keine Journalisten, Entschuldigung. Das waren Propagandisten. Das muss man so deutlich sagen. 1989 standen plötzlich die Bundesrepublik und wir im Osten vor der Aufgabe, daraus etwas Gescheites zu machen. Da kann ich nur sagen: Ja, es war ganz toll. Ich habe mit vielen Leuten im politischen Bereich, auch mit vielen Westdeutschen sehr gut zusammenarbeiten können. Überhaupt keine Frage. Ich habe das immer genossen, weil ich von ihnen viel gelernt habe. Und vielleicht haben sie auch einiges von mir gelernt. Ich bin sicher, dass sie einiges von mir gelernt haben. Das Rote Kloster und die Journalisten in der DDR so zu verniedlichen, wie das an diesem Abend geschehen ist: Das ist eine Sauerei, vor allen Dingen den Leuten gegenüber, die wirklich gelitten haben, die in den Knast gekommen sind, denen man die Freiheit geraubt hat. Daran waren die Propagandisten beteiligt, die hier in Leipzig gelernt haben.

Herr Poerschke: meinen Respekt. Sie haben das als Einziger im Hintergrund auch so genannt. Sie waren die Spinne im Netz. Sie haben das erkannt. Es gibt nur wenige Journalisten, die ihr eigenes Tun und ihre eigenen Schweinereien so deutlich benannt haben. Nur ein kleines Beispiel: Leserbriefe wurden von der Leipziger Volkszeitung postwendend an die Stasi abgegeben, egal ob mit Klarnamen unterschrieben oder sonstwie. Das hatte natürlich entsprechende Folgen (2). Auch deswegen ist das mit dem „gaucken“ für mich verniedlichend. Nein. Ich finde: Die gespitzelt haben, die mussten zu Recht gehen. Für die, die sich am System DDR beteiligt haben, habe ich ein gewisses Verständnis. Der Kommunismus hatte schon einige Ideen, die auch am Westen gelandet sind. Aber spitzeln musste niemand. Den anderen verpfeifen: Das musste man nicht. Andere sind deshalb in den Knast gekommen. Da waren die Journalisten beteiligt.

Diese Brutalität des DDR-Systems fehlt mir bisher komplett. Diejenigen, die sich Journalisten nannten, waren an diesem System beteiligt (vgl. Meyen/Fiedler 2011). Das muss deutlich gesagt werden. 1989 ist nicht vom Himmel gefallen. Ganz Osteuropa ist hinweggefegt worden durch die Massen – nicht von den Journalisten. Übrigen waren die auch nicht auf der Straße. Studenten haben fast nicht demonstriert bei den ersten Montagsdemonstration. Das muss irgendwann auch mal deutlich gesagt werden.

Horst Pöttker: Haben wir so viel über das DDR-System gesagt? Eigentlich relativ wenig, denke ich. Das war doch gar nicht das Thema. Ich will das ja gar nicht bestreiten, aber noch einmal eine etwas andere Seite schildern. Dieses Fach Journalistik, über das wir hier sprechen, die Wissenschaft, die den Journalistenberuf begleitet und auf rationale und empirische Füße stellt, ist in Deutschland ein ganz, ganz zartes Pflänzchen. Sehr jung, Mitte der 1970er Jahre entstanden. Kurt Koszyk, mein Vorgänger und dein Evaluator, Hans, war der Gründer in Dortmund. Dann hat es noch eine Gründung an der Katholischen Universität in Eichstätt gegeben. Auch in München hat es so etwas gegeben. In Westdeutschland ist das eher eine Folge von 1968.

Ganz anders in den Vereinigten Staaten. Da ist dieses Fach in den 1920er Jahren entstanden, weil die amerikanischen Verleger und Chefredakteure sich von der Politik gelöst und entdeckt hatten, dass man mit Fakten und gut erzählten Geschichten mehr Geld verdienen kann. Da stecken durchaus kommerzielle Motive dahinter, aber die wollten nicht nur Geld sparen, sondern konnten auch gut begründen, dass dieser Beruf mit der öffentlichen Aufgabe auch in öffentlichen Institutionen Ausbildungsgänge braucht. An fast allen amerikanischen Universitäten gibt es Journalistikstudiengänge. Auch in Russland, heute noch. In der Sowjetunion und dann im Anschluss in Russland, aus völlig anderen Gründen.

In Deutschland ist das damals in den 1920er Jahren gescheitert, weil die Verleger und Chefredakteure Politiker waren und der Universität nicht die Ausbildung ihrer Leute überlassen wollten. Sie hätten dort ja etwas Falsches lernen können. In der Sowjetunion hat das geklappt, weil Universität und Medien in einer Hand waren, in der Hand der staatstragenden Einheitspartei. Heute gibt es an fast allen russischen Universitäten dieses Fach. Ich habe hauptsächlich Auslandskontakte in die USA und nach Russland. Ich glaube, das ist kein Zufall.

Das hat sich irgendwie auch auf die DDR übertragen, auch wenn es da noch andere Gründungsmotive gegeben hat. Michael Meyen (2019) ist dem in den letzten Jahren systematisch nachgegangen. Da haben auch Praxisgesichtspunkte eine Rolle gespielt. Was Sie sagen (in Richtung Reinhard Bohse), war nicht das Einzige, was zu diesem Fach hier in der DDR geführt hat.

Journalistikstudenten in der Rübenernte, Anfang der 1950er (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Jedenfalls: Da war etwas übrig geblieben. Da konnte man etwas machen, wenn man dieses Fach wollte. Ich bin jemand, der das gerne möchte. Der das anschieben möchte und der es ganz traurig findet, dass dieses Fach auch bei uns im Moment ziemlich den Bach runtergeht. Wenn man das wollte, dann hatte man hier etwas, das man umwandeln konnte und wo man sich fragen sollte: Gab es da etwas, mit dem man etwas anfangen kann? Ich denke an den Bereich Sprache und Stil. Da gab es sehr viel. Unsere Stilbücher im Westen waren alles subjektive Vorlieben einzelner Personen. Was die hier gemacht hatten, das hatte eine sprachwissenschaftliche Grundlage. Man musste allerdings die Ideologie und den Lenin (ausblenden). Womit beginnen? Das haben Sie (in Richtung Reinhard Bohse) richtig geschildert. Der Journalist als Propagandist, als Agitator und als kollektiver Organisator. Damit konnten wir natürlich nicht viel anfangen. Aber es gab eine ganze Menge, mit dem man etwas anfangen konnte, zum Beispiel in der journalistischen Methodik, in den Arbeitsweisen, in dem, was hier als das Schöpferische bezeichnet wurde. Da gab es die Frau Hoyer, die das intensiv betrieb. Das war wichtig. Das wäre auch heute noch für das Fach wichtig. Ich fand, davon sollte man in überarbeiteter Form auch das bewahren, mit dem man etwas anfangen konnte.

Michael Haller: Da würde ich doch ein paar Einschränkungen machen wollen. Das sind ja nur Etiketten. Schöpferisches Arbeiten, Methodik. Die Frage ist ja: Was verbirgt sich dahinter? Ich glaube, in der Journalistik ist es uns sehr wohl im Laufe der 1990er Jahre gelungen, das tatsächlich zu transferieren, weil die Rolle und das berufliche Selbstverständnis des Journalisten in einem demokratischen Rechtsstaat nun mal anders sind. Es hat keinen Sinn, museale Arbeit zu machen. Das gilt auch für die Stilistik. Wir haben eine andere Tradition in der Art und Weise, wie journalistische Stilformen sich entwickeln und auch immer weiterentwickeln. Nicht eine so stark deduktive, strukturierte, sozusagen germanistische Sicht. Du (in Richtung Horst Pöttker) hast zu Recht die USA angesprochen. Wir haben in der westlichen Tradition ein anderes Stilistikverständnis. Es kommt darauf an, Transformationsarbeit zu leisten und nicht museale Arbeit. Das ist uns in den 1990er Jahren relativ gut geglückt, jedenfalls dem Feedback nach zu urteilen. Die Absolventen waren in der Medienwelt anerkannt und galten als hochqualifiziert. Heute nicht mehr, würde ich sagen.

(Frau aus dem Publikum): Herr Poerschke, mich würde interessieren, ob es auch schon vor der Wende Austausch mit westdeutschen Kollegen gab und wie das nach der Wende verlaufen ist. Hätte man die ostdeutschen Kollegen zum Beispiel in die DGPuK aufgenommen ohne Widersprüche?

Hans Poerschke: Das kann ich nicht so recht beantworten, was mit meinem persönlichen Werdegang zu tun hat. 1992 hatte ich meinen letzten Arbeitsvertrag an der Universität. Ich hatte das Glück, nicht wie viele meiner Kollegen mich irgendwie durchwurschteln zu müssen, um weiter zu existieren, weil ich alt genug war. Das ist das Einzige, wofür man nichts kann. Ich rechne mir das nicht als Verdienst an. Um Himmels willen. Ich hatte diese Sorgen nicht. Wir haben zunächst versucht, auf den Ruinen der Sektion einen Verein zu gründen, um die Selbstverständigung unter den Hinterbliebenen in Gang zu bringen. Das war eine Weile interessant und ist dann eingeschlafen aus dem einfachen Grund, dass das Leben die Leute in alle Winde zerstreut hat und jeder erst mal sehen musste, wie er das nächste Monatsende erreicht.

Was die eigentlich schwierigen Fragen anbelangt, die ideologischen Urgründe und den Charakter des gesellschaftlichen politischen Systems: Es ist bis heute nicht gelungen, das befriedigend aufzuarbeiten, auch weil sich nur sehr wenige Leute damit befassen. Das nehme ich niemandem übel. Die meisten haben das hinter sich lassen können, sich in der neuen Welt zurechtgefunden und ihr Leben gefristet, mehr oder weniger erfolgreich.

Michael Haller: Die DGPuK war 1990, 1991, 1992 noch fest in der ideologischen Hand der eher neoliberal geprägten Wissenschafts-Community mit einer ausgeprägten Abwehr gegenüber allem, was aus der ehemaligen DDR kam. Ich sage das zugespitzt und etwas polemisch. Wir haben das erlebt am Beispiel von Herrn Tiedke. Das sagt ihnen etwas. Wir, also Siegfried Weischenberg und ich, wollten, dass Herr Tiedke aufgenommen wird in die DGPuK. Es gab ein Jahr lang Kommissionssitzungen hinter verschlossenen Türen. Einige werden sich erinnern, dass Herr Tiedke hier als ein profilierter, unabhängiger Geist wahrgenommen wurde, auch wegen entsprechender Auftritte in der Leipziger Volkszeitung (3). Über diesen Mann wurde ein Jahr lang verhandelt, bis er dann selbst gesagt hat, er finde das eigentlich nicht mehr angemessen.

Es war auch nicht leicht, meinen Leipziger Kollegen Siegfried Schmidt als Mitglied in die DGPuK aufnehmen zu lassen. Dort spielen auch Tradierungen und Milieus eine Rolle. Die Tradierung zeigt sich etwa an der Publikationsliste. Was hat der denn publiziert? Da können Sie das Herrschaftsverhalten der westdeutschen Wissenschafts-Community studieren. Man sagt: Ja, das ist doch im Sinne unserer Methodologien nicht ernst zu nehmen. Eine Art von Abqualifizierung den aus der DDR kommenden Kolleginnen und Kollegen gegenüber, die natürlich ganz vornehm und subkutan stattfand, aber im Ergebnis immer relativ klar war. Das war ein Spirit in der DGPuK, den man bedenken muss, wenn man sich fragt, warum das so schwierig war. Das hat sich zum Glück verändert.

Steffen Grimberg: Vielleicht als kleine Vorbemerkung zu Michael Haller: Es ging auch um knallharte Machtfragen. Ich habe die ganze Geschichte ab 1989 aus der Dortmunder Perspektive mitbekommen. Ich hatte damals dort angefangen im Diplomstudiengang Journalistik, der ja nach dem „Leipziger Modell“ aufgezogen war (4). Diese Einflüsse gab es schon. Das integrierte Volontariat sozusagen als Erfindung der Leipziger. In Dortmund erfolgte eine sehr, sehr enge Verzahnung von theoretisch-wissenschaftlicher Ausbildung und tatsächlicher Praxis. Das ging klar aufs Leipziger Konto, was damals keiner wissen durfte. Wir hatten in Dortmund auch das Methodik-Lehrbuch aus Leipzig (vgl. Autorenkollektiv 1988). Schon vor Weihnachten 1989 war dann eine Delegation der Sektion in Dortmund. Ich weiß nicht, ob Sie dabei waren, Frau Schüler. Vom Roten Kloster hat damals übrigens zumindest in Leipzig keiner gesprochen. Das kam dann nur, weil das Buch von Brigitte Klump mal wieder die Runde machte (vgl. Klump 1978, 1991). Irgendwann standen die Leipziger jedenfalls bei uns auf der Matte.

Ich muss allerdings auch den Herrn, der vorhin gesprochen hat (Reinhard Bohse), in einem unterstützen und verstehen. Natürlich war die Sektion Journalistik auch ein ganz klares Herrschaftsinstrument. Wir hatten in dieser Delegation einen Typ, der bei mir gepennt hat und der Offizier im besonderen Einsatz der Staatssicherheit war. Den würde ich gerne wieder treffen. Das ist nichts ganz Triviales. Wir sehen ja gerade am Fall Berliner Zeitung, dass diese Problematik immer noch virulent ist, um das mal ganz vorsichtig zu sagen, wobei Herr Friedrich absolut ein anderes Kaliber ist als ein hauptamtlicher OiBE.

Dortmund war ja der geborene Partner auch für die Evaluation in Leipzig. Nachdem dann allerdings die Wahlen in Sachsen und vorher schon die ersten freien Volkskammerwahlen im März 1990 so ausgegangen waren, wie sie ausgingen, war das „rote Dortmund“ aus dem SPD-regierten NRW logischerweise nicht mehr in der Lage, in Leipzig Einzug zu halten. Dann kam eben Reimers von der HFF in München. Eine ehrenwerte Geschichte, aber ein ganz anderes Modell.

Sigrid Hoyer in einem Seminar, um 1975 (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, Herr Poerschke. Wir waren mit einem anderen Kommilitonen im März 1990 an der Sektion und haben Studienarbeiten geschrieben über den Wandel an der Sektion. Auch über den journalistischen Wandel in Leipzig und in der DDR insgesamt. Ich kann mich erinnern, dass uns der letzte Parteisekretär der Sektion die Schulungshefte übergab, von denen auch einige im Umlauf sind, wie ich gerade gesehen habe, mit den schönen Worten: Bitte betreiben sie keine Leichenfledderei. Ich glaube, der Sektion war schon relativ klar, was ihr bevorstand, auch wenn wir aus Dortmunder Sicht alle sehr glücklich waren, dass sie nicht abgewickelt wurde, sondern dass da etwas Neues aufgebaut werden konnte. Ob das mit dem Phoenix so ein super Bild ist, weiß ich nicht, Herr Haller. Das haben sie ja eben schon selbst eingeschränkt.

Ich glaube, es geht tatsächlich auch um Machtfragen, um sehr praktische Anwendungsfragen. Ich kann niemandem übelnehmen, sich damals schnell auf die Seite von Habermas oder Luhmann geschlagen zu haben, weil er gemerkt hat, dass man damit sowohl wissenschaftlich als auch persönlich besser reüssiert als mit den alten Theorien, von denen ja viele auch nicht wirklich überzeugt waren. Herr Poerschke: no disrespect ihnen gegenüber. Wir haben damals aber auch mit vielen Leuten aus dem Mittelbau gesprochen, die uns auch sehr deutlich gemacht haben, was sie sagen und schreiben mussten und wie sie vielleicht tatsächlich ticken. Insbesondere die Praktiker wie Grubitzsch oder Tiedke.

Man kann sagen, es sei ungerecht, dass der Westen sich durchgesetzt hat. Das liegt dann eben an den Machtverhältnissen. Hier waren auf einmal neue Pfründe offen. In Leipzig, an einem renommierten Standort. Herr Pöttker hat darauf hingewiesen, dass es für den akademischen Nachwuchs in Westdeutschland nicht so viele Stellen gab. Da war Leipzig ein gefundenes Fressen. Der halbe Westen, der gerade auf Jobsuche war, hat sich nachher hier in Leipzig gefunden. Mit einem eher tragischen Ausgang, wenn man sich das von heute aus anguckt. Damit meine ich niemanden, der auf dem Podium sitzt.

Horst Pöttker: Ich würde gern zur DGPuK noch eine kleine Bemerkung machen. Das Ganze wurde noch abgemildert durch einen historischen Zufall. Also das, was Michael Haller geschildert hat. Im Frühjahr 1989 wurde völlig überraschend Wolfgang Hoffmann-Riem zum Vorsitzenden gewählt, ein Jurist aus Hamburg, später Bundesverfassungsrichter. Das lag daran, dass plötzlich jemand aus dieser konservativen und wenig liberalen Riege sagte: Ich mache das nicht. Er war schon gewählt und sagte, ich nehme die Wahl nicht an. Da mussten wir an dem Nachmittag schnell noch jemand anderen finden. Das war Wolfgang Hoffmann-Riem, der nun wirklich liberal ist (5). Er hat dafür gesorgt, dass es zumindest in der DGPuK keinen grundsätzlichen Ausschließungsvorgang gab. Es gab die Fälle, die Du (zu Michael Haller) geschildert hast, aber es gab keinen grundsätzlichen Ausschlussbeschluss. Es konnten auch frühere DDR-Kollegen reinkommen. Konnten.

(Mann aus dem Publikum): Die zarte Pflanze Journalistik war ja immer auch stark von der Praxis abhängig. Von Verlegern, von Rundfunkanstalten. Wir haben vorhin das Schlagwort „Delegieren aus den Redaktionen“ gehört. Mich würde deshalb interessieren, wie das in Leipzig funktioniert hat.

Michael Haller: Nach der Wende?

(Mann aus dem Publikum): Nein. In der DDR.

Heike Schüler: Es gab EINE Journalistenausbildung. Wie alles in der DDR war das zentralisiert. Man hatte eine Heimatredaktion, in der man ein Volontariat gemacht hat. Journalisten wollen immer was verändern. Sie (zu Reinhard Bohse) haben ja gesagt, dass die Journalisten Systemstütze waren. Ich habe mit 17 in Potsdam im Märkischen Viertel auf dem Bau gearbeitet. Das mussten wir. Es gab ja die praktische Arbeit. Wir mussten drei Wochen auf dem Bau arbeiten. Wir mussten um sieben anfangen. Ich habe mich gewundert, dass um neun schon die Bierflaschen aufgemacht wurden und erst mal zwei Stunden Pause war. Ich habe mich wahnsinnig geärgert. Wir wollten doch jetzt endlich dieses 250 Jahre alte holländische Viertel aufbauen. Wieso weiß das keiner? Darüber muss man noch schreiben! Das war damals mein Impuls, Journalistin zu werden.

Sicher wird es auch Journalisten gegeben haben, die nur Bewahrer waren. Ich kann das nur aus meiner Sicht sagen. Ich wollte die Gesellschaft verbessern. Den Sozialismus verbessern. Etwas verändern, zum Guten. Dass das die Journalisten, die durch die Leipziger Journalistenschule gegangen sind, auch konnten, hat man ja 1989 gesehen. Auch die sind alle entfesselt worden. Ich habe plötzlich sehr gerne Elf99 gesehen, ich habe den DFF verfolgt. Der Mitteldeutsche Rundfunk ist nicht nur von Westjournalisten aufgebaut worden, sondern es sind viele Ostjournalisten aus Berlin gekommen. Aus Adlershof. Auch beim ORB. Das journalistische Handwerk konnte man in Leipzig gut lernen.

Auch im Westen darf man nicht alles machen. Das ist einfach so. Das tut mir leid. Nein, das ist nicht zum Lachen. Das ist schlimm, was Sie (zu Reinhard Bohse) geschildert haben mit den Leserbriefen und der Stasi und mit den hauptamtlichen Stasi-Mitarbeitern an der Universität. Damit bin ich auch nicht einverstanden. Ich weiß nicht, warum sie sich so entschieden haben, aber es gab sicher auch Zwangslagen. Das ist nicht in Ordnung. Das darf dann auch nicht so weitergeführt werden. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass 90 Prozent aller Hochschuldozenten Stasi-Mitarbeiter waren. Ich habe journalistisches Handwerk gelernt.

Ich muss noch eins sagen. Ich habe das Studium in Leipzig nur abgeschlossen, weil ich mich zwei Semester dünne gemacht habe. Ich bin zweimal ins Ausland gegangen. Ich habe 1994 meinen Abschluss gemacht. Ich hatte jedes Jahr einen komplett neuen Studienplan. Ich musste mich jedes Jahr komplett umstellen, komplett neu einarbeiten. Irgendwann hat sich das gelegt, aber es war schwer auszuhalten. Ich habe ein halbes Jahr in London bei der BBC gearbeitet und meine Diplomarbeit in Kanada geschrieben, übrigens betreut von einem DDR-Dozenten. Da war eine große Offenheit. Man kann nicht alles über einen Kamm scheren. Ich wusste nicht, dass sogar in Dortmund nach dem Leipziger Ausbildungsmodell versucht wurde, irgendetwas aufzubauen.

Horst Pöttker: Das war sehr vereinfacht. Das lief in beide Richtungen. In Dortmund wurde etwas aus Leipzig übernommen und später dann umgekehrt. Die Namen sind ja genannt worden. Koszyk und Rager. Als die Wende hier 1990 war, haben die ja schon viel aus Dortmund wieder hierhergebracht, aber ursprünglich kam auch eine Menge davon aus Leipzig.

Heike Schüler: Also war das Credo: das Beste mischen. Da haben wir uns hier in Leipzig erst einmal ein bisschen was verschenkt.

Manfred Knoche: Ich muss mich zunächst einmal outen. Ich bin von dem Kollegen Poerschke positiv evaluiert worden Anfang der 1990er Jahre. Ich hatte hier eine Gastprofessur, für ein Semester (6). Das geht dann auch auf Ihre Wortmeldung ein (zu Horst Pöttker): Im Westen gab es ja gar keine Marxisten. Die waren schon längst den Berufsverboten zum Opfer gefallen. Es gab nur so halbe Marxisten wie mich, die sich durchgewurschtelt hatten (vgl. Knoche 2017).

Und jetzt kommt der nächste Widerspruch. Ich habe mich gefreut. Poerschke und die anderen, die noch da waren, haben ja Ausschau gehalten: Wen könnten wir aus dem Westen holen, der einigermaßen mit uns übereinstimmt. Dann habe ich das Semester gemacht. Unter anderem war der Kollege Meyen bei mir Student. Mein Fach war Kritik der politischen Ökonomie der Medien. Ein marxistischer Ansatz. Ich habe sehr schnell gemerkt: Das wollen die Studis nicht hören. Ich habe das sofort verstanden. Was sollen sie damit anfangen? So ein Verrückter aus dem Westen, der meint, hier ist er jetzt im Paradies und kann ihnen beibringen, was Marx gesagt hat. Die Studis mussten ja auch sehen, wo sie bleiben, gerade in dieser Übergangszeit (7). Ich habe mich da schon ein bisschen zurückgenommen, aber doch gehofft, dass sie in ihrem zukünftigen Leben im Kapitalismus doch antikapitalistisch werden. Sie waren es ja vielleicht vorher kurz. Ich weiß es nicht.

Damit ich nicht ins Plaudern komme: Fakt war, dass ein ganz eigenartiger Typ hier eingesetzt wurde. Der Her Reimers, der mit Publizistik- und Kommunikationswissenschaft überhaupt nichts zu tun hatte. Seine einzige Qualität war, dass er aus Bayern kam und konservativ war, und zwar erzkonservativ, von der Film- und Fernsehhochschule. Dieser Herr Reimers hat so ziemlich alles bestimmt. Er musste natürlich noch Berufungskommissionen zusammensetzen.

Manfred Knoche (links) und Wolfgang Donsbach (rechts) im Assistentenbüro des Instituts für Publizistik Mainz während der Institutsbesetzung Januar 1971 (Foto: privat)

Der erste Skandal war: Für Medienökonomie wurde bewusst keine Professur geschaffen. Da wo Karl Bücher doch war. Die Erste und alles Mögliche. Man hätte keine Bewerber gehabt außer mir oder vielleicht noch meinem Kollegen Zerdick, der damals vielleicht auch noch gekommen wäre. Ich hätte die Professur kriegen müssen. Ich bin so frei, das zu behaupten. Es geht aber noch weiter. Ich hatte eine Zusatzqualifikation. Ich bin Empiriker. Ich habe bei Noelle-Neumann gelernt. Das ist doch was (vgl. Knoche 2017). Dann habe ich mich auf die Professur für Empirie beworben. Ein ganz seltsames Spiel. Ich war auf Platz zwei. Es gab auch wenige Empiriker im Westen. Ich war ja Mainzer Schule. Ich war qualifiziert. Erster war eine Frau aus Landau (8). Die hat dann abgesagt, und ich war auf Platz zwei. Eigentlich hätte ich schon wieder berufen werden müssen. Ist doch klar. Es geht nach der Liste. War aber nicht so. Sie haben das einfach hinter dem Rücken neu aufgerollt, ohne Berufungskommission. Ein lieber Mainzer Kollege hat dann die Stelle bekommen. Das ist der Punkt. Hier wurde Politik gemacht, mit Gewalt unter dem Deckmantel der Wissenschaft.

Noch ein Punkt, dann bin ich fertig. Ich muss ein Bekenntnis machen. Ich habe mich teilweise geschämt. Ich habe genauso wie alle anderen nicht gekämpft, dass die Kollegen, die hier rausevaluiert wurden, weitermachen konnten. Es ist gut, dass ich hier erstens noch eine Selbstbezichtigung habe. Zweitens: Ich habe mich selbst beworben. Das heißt: Ich war genauso einer, der kolonisieren wollte, wie das dann ja auch geschehen ist. Es wurden ja dann nur Westler berufen.

Michael Haller: So hat jeder seine Geschichte. Es gibt eben auch viele andere Geschichten in jenen wilden Jahren 1991 bis 1993 und auch ganz andere Berufungsverfahren. Vielleicht muss man schon auch noch berücksichtigen, dass, anders als es von Steffen Grimberg vorhin angesprochen wurde, zeitgleich an den westdeutschen Universitäten das Fach Kommunikations- und Medienwissenschaft und Journalistik boomte. Das war eine Entdeckung in den Universitäten und Hochschulen, weil man hier aus Marktbesetzungsgründen erkannt hat, dass mit dem Medienboom sehr viele Arbeitsplätze entstehen, für die man qualifiziert Hochschulabgänger bereitstellen wollte. Das spielt zweifellos auch eine Rolle.

Ich würde zu Reimers einen etwas anderen Touch setzen, obwohl ich mit ihm nun wirklich nicht das Heu auf der gleichen Bühne habe. Ich fand das jetzt etwas zu despektierlich. Reimers ist schon ein in der Wolle gefärbter Liberaler und kein Erzkonservativer, wie das jetzt dargestellt wurde. Er hat viele Erwägungen angestellt, wenn ich das von ihm richtig verstanden habe. Ich kam ja erst später dazu, als diese fünf Säulen schon etabliert waren und die Ausschreibung für die Journalistik stattfand. Es waren nicht nur machtpolitische, sondern auch pragmatische Gründe, die da eine Rolle gespielt haben, die sicher auch mit Präferenzen zu tun haben. Wir haben das ja heute Abend mit der Buchwissenschaft gehört. Das sind Dinge, die zu Leipzig gehören und die tradiert sind in der Bücherstadt Leipzig (9). Auf der anderen Seite gab es eben doch nur ein überschaubares Budget für dieses Institut, von dem aus dann entsprechende Schwerpunkte gesetzt werden mussten. Das sind schon kompliziertere Prozesse gewesen, die diese Gruppe rund um Herrn Reimers bewältigen und in einem Konzept umsetzen musste. Also ganz so holzschnittartig war es nicht, auch wenn immer schön ist, wenn man das schwarz und weiß darstellen und dann noch dialektisch drehen kann. Ganz so war es nicht.

Armin Scholl: Ich möchte mich gerne an den Herrn aus Sachsen anschließen (Reinhard Bohse). Ich bin auch etwas enttäuscht, dass die Runde die Antworten nicht gegeben hat auf die Fragen, die Sie gestellt haben. Ich habe den Eindruck, dass der Sprengstoff, der in der Frage oder dem Kommentar drin war, gar nicht erkannt wurde. Sie haben nämlich gesagt, dass da zwar Sektion für Journalistik draufstand, aber eigentlich reine Propaganda gelehrt wurde. Deswegen möchte ich Herrn Pöttker auch widersprechen und auch Frau Schüler. Was in der Praxislehrbüchern drinsteht als Handwerkszeug, kann noch lange nicht für Journalismus angewendet werden. Kann man mit denselben Methoden und dem Handwerkszeug, mit dem man Journalismus macht, auch Propaganda machen? Ich möchte ganz gern noch eine Antwort hören auf das, was Sie gesagt haben (zu Reinhard Bohse): Was war das eigentlich für eine Art von Ausbildung, die damals gemacht wurde?

Hans Poerschke: Es steht außer Zweifel, dass das eine Ausbildung war, die Journalisten zu Propagandisten der Politik der SED machen wollte. Das Problem fängt dort für mich an, wo man fragt, was das für einen bedeutet. Wie versteht der Mensch das? Ich sehe nicht den absoluten Gegensatz zwischen Propaganda und Journalismus. Ich kann kaum glauben, dass irgendwo in der Welt journalistische Produkte sich frei halten davon, eine Idee zu propagieren, selbst dann, wenn sie der Meinung sind, sie täten das nicht und wollten das gar nicht.

Ich bin sehr dafür, alles zu verurteilen, was zu verurteilen ist, und zwar klar und deutlich. Aber ich bin auch dafür, dass das Leben in seinen wirklichen Widersprüchen betrachtet wird. Es wäre also durchaus möglich, den Gedanken zuzulassen, dass jemand, der an der Sektion Journalistik gelehrt und das ehrlich gemeint hat, auch ernst zu nehmende Gründe dafür gehabt haben kann, die ihn veranlasst haben, bei der Fahne zu bleiben. Möglicherweise auch bis zuletzt. Ich wiederhole noch einmal: Ich bin nicht dafür, dass irgendetwas unter den Tisch gekehrt wird.

Das ist nicht bloß in Bezug auf die Journalistik im Moment ein Problem. Es ist ja geradezu Mode geworden, die geringgeschätzte Lebensleistung der Ostdeutschen zu beseufzen. Das tun die am lautesten, die hier nach meinem Empfinden die größten Versäumnisse haben. Es ist ein ganz tiefer Widerspruch, den man erst einmal verstehen muss. Das, was zu verurteilen ist, ist gewachsen auf dem Boden einer Organisation, die im Zeichen der Emanzipation angetreten ist. Und zwar nicht als propagandistische Idee, sondern ganz tief empfunden und ernst gemeint. Dass davon nicht sehr viel übrig geblieben ist, das hat die Geschichte nun gezeigt. Dennoch wirkt das in jedem, der seine Arbeit ernst gemeint hat, der also, wenn er von Wahrheit gesprochen hat, auch Wahrheit gemeint hat (ob er in dem Moment Recht hatte und das richtig gesehen hat oder nicht, das steht auf einem anderen Blatt). Dieser Widerspruch, ein zutiefst emanzipatorisches Anliegen zu vertreten und das zugleich in einer Form tun zu müssen, die diktatorisch auftritt, dieser Widerspruch ist im Kopf eines jeden vorhanden, der es ernst gemeint hat. Genau dieser Widerspruch ist es auch, der es vielen schwer gemacht hat, aus diesem Gehäuse herauszufinden.

Solange ich hier für die Theorie des Journalismus zuständig war, hat mich im Grunde immer die Frage bewegt, weshalb die Gesellschaft und die Menschen eigentlich den Journalismus brauchen. Was muss er der Gesellschaft bieten, damit er seine Aufgabe erfüllt? Ich habe zunächst die Antwort darauf gesehen in dem theoretischen Gebäude, das ich vertreten habe. Ich hatte nicht die Absicht, ein anderes zu vertreten. Dass sich diese Überzeugung und, das sage ich unverhohlen, auch dieser Glaube allmählich relativiert haben, wird jeder verstehen. Wenn man das hinter sich lassen will, dann kann man das nicht, indem man einfach abschwört und sich vornimmt, von nun an ein ganz anderes geistiges Leben zu führen.

1952: Hermann Duncker (rechts) zu Gast im Roten Kloster (Quelle: Privatarchiv Michael Meyen)

Für mich war das Problem, dass man nicht nur zu der Einsicht und der Meinung kommen muss, dass das, was man vertreten hat, nicht in Ordnung war und dass es anderes, Besseres geben muss. Das Problem bestand für mich darin, dass ich mir selbst und anderen beweisen können muss, wo der Hase im Pfeffer lag. Das hat für mich dazu geführt, dass ich vom Feld der Journalistik weggekommen bin im Laufe dieser Jahre. Ich bin ein Anhänger Lenins gewesen. Wer von den Sektionsangehörigen hier ist, der weiß das noch sehr gut. Ich galt da (zu Unrecht freilich) als eine Art Papst. Eines Tages bin ich mit dem Anliegen konfrontiert worden, für das historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus den Artikel „Parteipresse“ zu schreiben. Das war Anfang der 1990er Jahre. In meinem jugendlichen Leichtsinn dachte ich mir: Wer hat sich mehr mit der Parteipresse beschäftigt als wir? Ich habe ohne Bedenken zugesagt. Der Artikel ist bis heute nicht geschrieben. Nachdem ich angefangen habe, mich damit zu beschäftigen, bin ich erst dahintergekommen, wie bescheiden meine eigene Position war. Was ich von dem, was unter dem liegt, was ich vertreten habe, weder kannte noch mir vorstellen konnte. Ich habe das erste Mal in meinem Leben Lenin tatsächlich gelesen, in einem Umfang, wie ich das vorher nie gedacht hätte. Ich habe gemerkt, dass das wenige, was wir hatten und was dazu noch über Stalin auf uns gekommen war, ein schwächlicher Aufguss war und in vielerlei Hinsicht eine Verfälschung. Ich habe lange gebraucht, um dahinterzukommen. Um es mit einer Formulierung von Wolfgang Ruge zu sagen, einem Historiker der DDR, der die erste große Lenin-Biografie nach der Wende geschrieben hat, leider viel zu spät. Die Überschrift dieses Buches lautet: Lenin – Vorgänger Stalins? Es war mühselig, über all die Jahre dahinterzukommen, dass dort die Wurzeln liegen und worin sie bestehen.

Das ist ein Arbeitsprozess, der die dumme Folge hat, dass er einen in die Einsamkeit führt, denn welcher vernünftige Mensch wird sich mit solchen weltfernen Dingen freiwillig beschäftigen, noch dazu, wenn man keine Organisation hinter sich hat, keinen Apparat und nichts? Wenn man zu Hause sitzt wie ich heute, in der Provinz, und versuchen muss, das zu machen? Das ist ein langer Prozess geistiger Arbeit. Das ist genau der Prozess, der heute am allerwenigsten auch nur in Angriff genommen worden ist. Damit meine ich die Struktur weltanschaulich-politischer Überzeugung. Das ist ein strukturelles Problem, das nicht nur diese Spielart des Denkens, die der Marxismus-Leninismus dargestellt hat, betrifft, sondern alle Denksysteme. Wer hinter sich selbst kommen will, der muss sich auf diesen Weg machen. So wild es im Moment zugeht und so viel heutzutage Dinge passieren, die einen das Gruseln lehren können, bin ich doch froh, dass die Umstände und die Widersprüche des Lebens selbst dazu zwingen, sich heute stärker als früher genau damit zu beschäftigen. Um aus der Perspektive des früheren DDR-Bürgers zu sprechen: die Lebensweise, das Denken, die alltägliche Praxis der DDR in all der Widersprüchlichkeit nicht nur zu erkennen, sondern auch anzuerkennen als das, was sie war. Dass sie die Welt war, in der die Menschen gelebt haben, und nicht einfach nur ein System, das sich irgendein finsterer Diktator oben ausgedacht hat.

Melanie Malcok: Frau Schüler, im Vorfeld hatten wir über die Ausbildung an sich gesprochen. Sie meinten, die eine Hälfte war gut. Die hätte man ruhig behalten können. Und die andere Hälfte, das Einschwören, das konnte weg. Wollen sie uns da noch reingucken lassen?

Heike Schüler: Ich bin Jahrgang 1970. Gnade der späten Geburt, aber auch Gnade des späten Studiums. Was ich da mitgenommen habe, ist die die Eigenverantwortlichkeit eines jeden einzelnen Journalisten. Ich kann kurz etwas aus meiner Diplomarbeit erzählen. Ich wollte Zeit in Kanada verbringen und habe mir dort ein Thema gesucht. Das Deutschlandbild in zwei kanadischen Zeitungen. Die eine erschien in Montreal und die andere in Toronto. Es war die Zeit, in der es um Rechtsradikalismus in Deutschland ging. Mölln, Solingen. Ich habe festgestellt, dass das Deutschlandbild, das dort geschildert wird, davon abhängt, wer dort schreibt. Dieselben Ereignisse, jeweils ganz anders dargestellt. Der Kollege vom Toronto Star hatte vorher sehr viel über Rassismus berichtet und ist jüdischer Abstammung. Der Toronto Star hat einen jüdischen Verleger. Die haben ganz präzise darauf geguckt, was in Deutschland in Sachen Rechtsradikalismus passiert. Das kann ich gut verstehen. Aber es passierte nichts anderes in Deutschland. Zumindest konnte man in diesem halben Jahr in Toronto nichts anderes lesen. Ein absolut rechtsradikaler Staat. Dann habe ich La Presse untersucht und mit dem Kollegen dort gesprochen. Er war Schweizer Abstammung und liebte die deutsche Kultur. Goethe. Er war zum SPD-Parteitag in Deutschland. Es gab dort auch Artikel über Mölln und Solingen, aber das Bild von Deutschland war differenzierter.

Meine Diplomarbeit habe ich 1994 abgegeben. Ich wusste: Ich bin verdammt noch mal ganz selbst verantwortlich für das, was ich berichte. Ich muss mich immer fragen, was ich darf. Ich habe das Privileg, für viele Leute zu berichten. Ich bin Fernsehjournalistin beim RBB. Berliner Abendschau. Wir haben jeden Tag 300.000 Zuschauer. Ich bin einfach sehr verantwortlich. Das habe ich hier an der Sektion Journalistik oder nachher am Institut gelernt. Dieser Individualismus.

Leipzig war großartig in der Zeit. Das war für uns alle wahnsinnig spannend. Es baute sich damals ganz viel auf. Ich habe beim Mitteldeutschen Rundfunk meine ersten Radioerfahrungen gesammelt. Ich habe dort das ganze Studium gearbeitet. Vorher beim Sachsenradio. Das beste von allem mitnehmen: Das ist das Wichtigste. Dass man hier so einvernehmlich miteinander spricht, Bekenntnis und Bedauern ausspricht und sagt: Ja, da ist vielleicht auch etwas verloren gegangen, da ist aber vielleicht auch etwas gerettet worden – das ist doch schon ein Ergebnis 30 Jahre danach. Das finde ich versöhnlich. Ich würde mich freuen, wenn man so miteinander im Gespräch ist, 30 Jahre, nachdem diese Konflikte waren.

Melanie Malczok: Frau Schüler, ich danke Ihnen für dieses wunderbare Schlusswort. Uns ist natürlich klar, dass wir hier ein Fass aufgemacht haben, das vielleicht hätte schon längst geöffnet werden sollen. Wir wissen aber auch, dass wir hier nur einen winzigen kleinen Ausschnitt haben beleuchten können.

Anmerkungen

  • 1 Diese Sicht findet sich zum Beispiel in den beiden Medien-Texten der Bundestags-Enquete-Kommissionen. Vgl. Gunter Holzweißig: Die Presse als Herrschaftsinstrument der SED. In: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Band II/3. Baden-Baden: Nomos 1995, S. 1689-1722; Andreas G. Graf: Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit in der geschlossenen Gesellschaft der DDR. Eine Annäherung. In: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Band IV/2. Bildung, Wissenschaft, Kultur. Baden-Baden: Nomos 1999, S. 1689-1744.
  • 2 Leserbriefe an die LVZ waren Thema der ersten Stasi-Ausstellung, die das Leipziger Bürgerkomitee Anfang 1990 organisiert hat – mit Beispielen, die die Ansicht von Reinhard Bohse bestätigen. Für einen differenzierteren Blick und weiterführende Literaturangaben vgl. Anke Fiedler/Michael Meyen: A Quasi Public Sphere. Letters to the editor in the German Democratic Republic. In: Javnost Vol. 22 (2015) No. 2, 181-195.
  • 3 Wolfgang Tiedke war ab 15. November 1989 auf Wunsch der Redaktion Chefredakteur der LVZ. Vgl. Tiedke 2011.
  • 4 Zur Geschichte der Dortmunder Journalistik vgl. mit einem etwas anderen Akzent Kopper 2010.
  • 5 Jürgen Wilke, von 1986 bis 1989 Vorsitzender der DGPuK (Stellvertreter im Vorstand damals: Klaus Schönbach und Winfried Schulz) schreibt dazu auf Nachfrage am 7. Februar 2020 in einer E-Mail: „Nach meiner Erinnerung war es wie folgt: Nach einer Satzungsänderung war ich der erste Vorsitzende gewesen, der drei Jahre amtierte. Eine Verlängerung der Amtszeit auf vier Jahre wurde erst später beschlossen. Es musste in Hamburg also ein neuer Vorsitzender gewählt werden. Der ‚natürliche‘ Nachfolger wäre Klaus Schönbach als einer der Stellvertreter gewesen, Schulz war ja schon Vorsitzender gewesen. Leider war Klaus Schönbach trotz Zuredens nicht zur Kandidatur bereit. In dieser offenen Situation, in der sich niemand sonst anbot, schlug Jan Tonnemacher Herrn Hoffmann-Riem vor, der dann auch gewählt wurde – obwohl er kein genuiner Publizistikwissenschaftler war. Das war schon eigentümlich.“
  • 6 Manfred Knoche hat im Sommersemester 1991 im Blockformat eine Veranstaltung zur Medienökonomie angeboten. Die Initiative ist dabei von ihm ausgegangen. Er schrieb am 6. März 1991 an Hans Poerschke und den Studentenrat, dass er erst jetzt von Günter Bentele vom Bedarf in Leipzig erfahren habe, und bot neben der genannten Veranstaltung auch „empirische Kommunikationsforschung (Inhaltsanalyse/Befragung)“ an. Dem Brief lagen eine Personalnotiz aus der Fachzeitschrift Publizistik zur Habilitation von Knoche sowie eine Zusammenfassung seines Forschungsprojekts zu den Grünen bei. Außerdem führt der Bewerber ins Feld, dass sein Hauptwohnsitz in Berlin sei und seine „Lehrverpflichtungen in Brüssel wegen des dort auslaufenden Studienjahres“ im Sommersemester reduziert wären. Vgl. Universitätsarchiv Leipzig, Sektion Journalistik 26, Bl. 85-89.
  • 7 Nach meiner Erinnerung war das Problem eher, dass die Studenten den marxistischen Ansatz in den ersten vier Semestern bereits ausführlich behandelt hatten und der Gast aus dem Westen mithin nicht sehr viel Neues bieten konnte.
  • 8 Gemeint ist Ulrike Six. Berufen wurde am Ende Werner Früh.
  • 9 Die Professur für Buchwissenschaft wurde 1995 mit Dietrich Kerlen besetzt, der zwar nichts mit Kommunikations- oder Medienwissenschaft zu tun hatte, aber fast 20 Jahre Praxiserfahrung und vor allem das Wohlwollen von Bertelsmann mitbrachte. Der Verlag unterstützte die Professur von 1995 bis 2001 mit insgesamt 60.000 Mark und war damit neben Holtzbrinck der größte Sponsor (Keiderling 2006: 6).

Literatur

  • Autorenkollektiv: Einführung in die journalistische Methodik. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1988.
  • Simone Barck/Martina Langermann/Siegfried Lokatis (Hrsg,): Zwischen „Mosaik“ und „Einheit“. Zeitschriften in der DDR. Berlin: Ch. Links 1999.
  • Rainer Geißler: Vom Kampf der Agitatoren mit einem widerspenstigen Publikum. Die Massenmedien der DDR im Überblick. In: medium 16. Jg. (1986), Heft 2, S. 20.
  • Michael Haller: Wir müssen Journalismus normativ fundieren. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2017.
  • Christoph Hein: Landnahme. Roman. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004.
  • Thomas Keiderling: Die Etablierung der Buchwissenschaft an der Universität Leipzig. Manuskript 2006.
  • Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Berlin: Aufbau-Verlag 1947.
  • Brigitte Klump: Das rote Kloster. Eine deutsche Erziehung. Hamburg: Hoffmann und Campe 1978.
  • Brigitte Klump: Das rote Kloster. Als Zögling in der Kaderschmiede der Stasi. Frankfurt/Main: Ullstein 1991.
  • Manfred Knoche: Kritik der Politischen Ökonomie der Medien. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2017.
  • Gerd Kopper: Strukturkrisen der Öffentlichkeit und das Fach Journalistik in Deutschland und Europa. In: Tobias Eberwein/Daniel Müller (Hrsg.): Journalismus und Öffentlichkeit. Wiesbaden: Springer VS 2010, S. 327-351.
  • Josef Kurz/Daniel Müller/Joachim Pötschke/Horst Pöttker/Martin Gehr: Stilistik für Journalisten. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2010.
  • Michael Meyen: Von der Sozialistischen Journalistik zum Viel-Felder-Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft. In: Erik Koenen (Hrsg.): Die Entdeckung der Kommunikationswissenschaft. 100 Jahre kommunikationswissenschaftliche Fachtradition in Leipzig: Von der Zeitungskunde zur Kommunikations- und Medienwissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2016, S. 246-274.
  • Michael Meyen: Die Erfindung der Journalistik in der DDR. Ein Beitrag zur Fachgeschichte der Nachkriegszeit. In: Journalistik 2. Jg. (2019), S. 3-32.
  • Michael Meyen/Anke Fiedler: Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR. Berlin: Panama Verlag 2011.
  • Hans Poerschke: Sozialistischer Journalismus. Ein Abriss seiner theoretischen Grundlagen. Manuskript, mehrere Teile. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1988/89.
  • Hans Poerschke: Ich habe gesucht. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.
  • Horst Pöttker: Massenmedien in der DDR. Einführung. In: medium 16. Jg. (1986), Heft 2, S. 17-18.
  • Horst Pöttker: Man muss konfliktbereit sein. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2018.
  • Heike Schüler: Weltzeituhr und Wartburg-Lenkrad: Erich John und das DDR-Design. Berlin: Jaron 2019.
  • Dolf Sternberger, Gerhard Storz, Wilhelm E. Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1962.
  • Hans-Jörg Stiehler: Ich bin ein Teamarbeiter. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2014.
  • Wolfgang Tiedke: Wir haben die richtigen Fragen gestellt. In: Michael Meyen/Anke Fiedler: Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR. Berlin: Panama Verlag 2011, S. 75-86.

Empfohlene Zitierweise

Michael Meyen: Landnahme, Verwestlichung oder Strukturwandel?. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2020. http://blexkom.halemverlag.de/landnahme/ (Datum des Zugriffs).

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