Jürgen Wilke (Foto: privat)
Jürgen Wilke (Foto: privat)

Geschichte, quantitative Methoden und Theorie

Veröffentlicht am 24. März 2015

Jürgen Wilke hat zweieinhalb Jahrzehnte das Mainzer Institut für Publizistik geprägt. Michael Meyen hat mit ihm am 16. Januar 2015 in Hamburg über seine Karriere gesprochen und natürlich auch über die Neubesetzungen an seinem Heimat-Institut.

Stationen

Geboren am 19. Dezember 1943 in Goldap (Ostpreußen). Vater Beamter. 1963 Studium in Mainz und Münster (Germanistik, Publizistik, Kunstgeschichte). 1971 Promotion (Germanistik). Journalistische Tätigkeit. 1972 Mitarbeiter am Institut für Publizistik der Universität Mainz. 1983 Habilitation. 1984 Lehrstuhl für Journalistik I, Katholische Universität Eichstätt. 1985 Ruf nach München (abgelehnt), 1988 Nachfolger von Elisabeth Noelle-Neumann am Institut für Publizistik in Mainz (bis 2012). 1986 bis 1988 DGPuK-Vorsitzender. 1996 bis 2000 Leiter der History Section und Mitglied des International Council der IAMCR. 1998 bis 2003 Dekan des Fachbereichs Sozialwissenschaften. 2004 Professor honoris causa, Fakultät für Journalistik, Lomonossow-Universität Moskau. 2005 korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Verheiratet, ein Sohn.

Könnten Sie zu Beginn etwas über Ihr Elternhaus erzählen, Ihre Kindheit, Ihre Jugend?

Ich bin in Ostpreußen geboren, als jüngster von drei Söhnen. Ich komme aus einem Beamtenhaushalt. Wir waren keine eingeborenen Ostpreußen. Mein Vater ist dorthin versetzt worden.

Was hat er gemacht?

Er hat ein Hochbauamt geleitet, in Goldap. Mitte 1944 haben sich meine Eltern auf die Flucht begeben, vor der heranrollenden russischen Front. Ein langer Weg bis Trier, woher meine Mutter stammte und wo wir Verwandte hatten. Ich habe erst dort die Schule besucht und dann in Mainz. Mein Vater hat dort das Hochschulbauamt geleitet.

Eine frühe Verbindung zur Universität Mainz.

Ja. Das Abitur habe ich dann allerdings in Speyer gemacht, nach einer weiteren Versetzung meines Vaters.

Weiter im Hochbau?

Ja. Er ist später noch einmal zurück nach Trier.

Hat Ihre Mutter auch gearbeitet?

Sie war zu Hause, da waren drei Söhne. Ihre Ausbildung hatte sie als Apothekerin gemacht. Sie hat mir die Leselust vermittelt. Mein Vater und auch die beiden Brüder, die Ingenieure wurden, waren Techniker. Ich bin in der Familie etwas aus der Art geschlagen.

Hat Politik im Elternhaus eine Rolle gespielt?

Keine übermäßige. Vielleicht war das typisch für die Nachkriegszeit. Meine Eltern haben mir auch nie mitgeteilt, was sie gewählt haben. Ich war trotzdem schon früh stark politisch interessiert, zunächst als Zeitungsleser und Fernsehzuschauer.

Gab es Kontakt nach Ostpreußen?

Wir hatten ja keine Verwandten dort. Meine Eltern waren auch nicht in den Vertriebenenverbänden. Für die Familie war die Zeit dort trotzdem wichtig. Die drei Kinder sind dort zur Welt gekommen.

Waren Sie später noch einmal in Goldap?

Natürlich. Zum ersten Mal 1978, als die IAMCR in Warschau war. Mit einem Taxi. Ich wollte wissen, wie der Ort aussieht, der in meinen Papieren steht. Für meine Identität war das wichtig, auch wenn ich dort nur ein halbes Jahr gelebt habe und nur die dramatischen Erzählungen vom Fluchtbeginn kannte. Später, nach der politischen Wende, kam ich dann wieder hin und habe dann auch die Masuren und Danzig besucht.

Zum Studium sind Sie im Sommer 1963 nach Mainz gegangen, obwohl es dort noch keine Publizistik gab.

Es gab ein Angebot in Zeitungswissenschaft. Heinrich Tötter, Chefredakteur der Allgemeinen Zeitung in Mainz, hielt ein Vorlesung und ein Begleitseminar, in der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Ein bescheidenes Angebot.

Haben Sie sich dafür eingeschrieben?

Ja. Ich wollte Journalist werden. Münster und Berlin waren damals für mich weit weg. Ich habe mir auch Heidelberg angeschaut, aber dort war das Fach abgeschafft worden (vgl. Bohrmann 2002). Als Student wusste man damals gar nicht, was in Mainz vorbereitet wurde (vgl. Wilke 2005).

Wissen Sie noch, warum Sie damals Journalist werden wollten?

Ganz klassisch. Ich war ein leidenschaftlicher Leser und Schreiber. Schon als Kind habe ich Zeitschriften zerschnitten und daraus etwas Eigenes gemacht. Diese Produkte habe ich bis heute aufgehoben.

Dann haben Sie vermutlich auch an einer Schülerzeitung mitgearbeitet?

Auch das.

Wie sind Sie zu Ihren drei Studienfächern gekommen: Germanistik, Publizistik und Kunstgeschichte?

Ein klassisches Hauptfach war damals der natürliche Weg in den Journalismus. Die Germanistik hatte mit meiner Vorliebe für Literatur zu tun. Da ich nicht Lehrer werden wollte, brauchte ich keine lehrfähige Fächerkombination. Damit konnte man kein Staatsexamen machen. Der Weg führte direkt zur Promotion. Den Magister gab es ja noch nicht.

Riskant.

Ja. Man wusste nicht, ob man dafür qualifiziert war. Andererseits war ich so mit 27 Jahren promoviert.

Zurück zu den drei Fächern.

An Kunst war ich schon vorher sehr interessiert. Und die Zeitungswissenschaft mutierte zur Publizistik. Es ist ja schon oft geschildert worden, welcher Schock das damals für uns Studenten war. Frau Noelle-Neumann und ihr empirisch-sozialwissenschaftlich ausgerichtetes Lehrangebot. Quantitative Methoden. Inhaltsanalyse, Befragung. Davon hatten wir keine Ahnung.

Unterschied sich die Atmosphäre in den drei Fächern?

Die Publizistik war klein. Es gab intensive persönliche Bekanntschaften. Eine richtige Familie, wozu auch die räumliche Unterbringung in einer ehemaligen Privatwohnung beitrug. Kein Vergleich mit der Germanistik, die schon damals relativ groß war. Ich wohnte auf dem Campus in einem Studentenwohnheim. Ich konnte also zwischen den Lehrveranstaltungen nach Hause gehen. Deshalb war ich in den anderen beiden Fächern nicht so vernetzt. Man hatte zudem die Freiheit, auch andere Fächer zu hören. Bei mir waren das Vorlesungen in Philosophie, Soziologie, Rechtswissenschaften.

Haben Sie damals journalistisch gearbeitet?

Das war meine zweite Ader, ja. Die Vorbereitung auf den Beruf. Ab Mitte der 1960er-Jahre habe ich regelmäßig beim Trierschen Volksfreund gearbeitet, immer mehrere Monate in den Semesterferien. Das wurde dann als Volontariat anerkannt. Kann ich noch mal zum Studium kommen?

Bitte.

Ich muss natürlich meinen Wechsel nach Münster erwähnen, 1966/67. Ich wollte etwas anderes sehen. Im Grunde war das aber schon zu spät. Ich hatte in Mainz alle Scheine, die man für ein Promotionsprojekt brauchte. In Münster hätte ich mich erst mal bei den Professoren mit eigenen Hausarbeiten bekannt machen müssen. Das hätte Zeit gekostet. Deshalb bin ich nach einem Semester zurück. Trotzdem war es eine interessante Erfahrung.

Haben Sie in Münster Veranstaltungen bei Henk Prakke besucht?

Ja. In der Sprechstunde hat er mir geraten, in Richtung Hermeneutik zu gehen. Empirie würde ich ja schon kennen.

Also zu Michael Schmolke.

Schmolke und Winfried Lerg waren seine Assistenten (vgl. Hemels et al. 2000). Ich erinnere mich an eine Veranstaltung bei Lerg. Es gab außerdem renommierte Lehrbeauftragte vom WDR. Hörfunk und Fernsehen. Die praktische Komponente war damals in Mainz unterrepräsentiert.

Wie sind Sie in Mainz zu Ihrem Dissertationsthema gekommen (vgl. Wilke 1974)?

Es war klar, dass ich in Germanistik promoviere. Uns wurde gesagt, dass sich die Philosophische Fakultät mehrfach geweigert habe, die Publizistik als Prüfungsfach anzuerkennen. Frau Noelle-Neumann gehörte zur Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät.

Also gab es formal gar keinen Weg zu einer Promotion in Publizistik.

Ja, so war das. Ich wollte aber auch inhaltlich in der Germanistik abschließen. Mein Thema betrachte ich immer noch als Glücksfall. Das Zeitgedicht hat etwas mit Öffentlichkeit zu tun und gehört zur politischen Lyrik. Ich habe untersucht, wo der Begriff herkommt, und dann im frühen 19. Jahrhundert einen konservativen und einen progressiven Typ unterschieden (vgl. Wilke 1974). Frau Noelle-Neumann hat diesen Bezug zur Publizistik gesehen und sogar eine Rezension in der Publizistik geschrieben (vgl. Noelle-Neumann 1976).

Welchen Platz hat die Studentenbewegung in Ihrer Erinnerung?

Mich hat das erst spät im Studium erreicht. Ich habe schon recht zurückgezogen an meiner Dissertation gearbeitet und hatte einen sehr organisierten Tagesablauf. Die heißen Aktionen habe ich miterlebt, auch die Besetzung des Instituts. Ich kannte Wolfgang Donsbach oder Manfred Knoche, war aber nicht aktiv dabei. In meine erste Lehrveranstaltung kamen dann Besucher, die gar nicht dafür eingeschrieben waren und mich zu politischen Diskussionen herausforderten. Sie wollten wissen, ob ich eine Ahnung von Hochschuldidaktik hätte.

Wann haben Sie gewusst, dass Sie Wissenschaftler werden wollen?

Nach der Promotion wollte ich immer noch Journalist werden. Mit „summa cum laude“ war Wissenschaft schon eine Option, aber Paul Requadt, mein Doktorvater, war schon emeritiert. Er hatte keine Stellen anzubieten. Frau Noelle-Neumann hat mir dann ein Stipendium der Fazit-Stiftung verschafft. Damit konnte ich die Dissertation für den Druck vorbereiten und anfangen, für die FAZ zu arbeiten.

Was haben Sie dort gemacht?

Zunächst vor allem Termine wahrgenommen, zu denen ich geschickt wurde. Dann gab es auch eigene Vorschläge und Produkte. Nach vier oder fünf Monaten rief Frau Noelle-Neumann an und lud mich ein, sie aufzusuchen. Das war damals nicht ungewöhnlich. Sie erzählte, dass die Universitätsverwaltung viel zu viele Studierende zugelassen habe. Ein Versehen, das nicht mehr rückgängig zu machen war. Zur Kompensation gab es eine Mitarbeiterstelle für das Institut. Für mich war das ein Glücksfall. Jetzt öffnete sich plötzlich und unerwartet ein Weg in die Wissenschaft.

Eine Kompensation auf Dauer?

Zuerst nur semesterweise. Eine sogenannte Springerstelle, die immer neu beantragt werden musste. Einen längerfristigen Vertrag gab es erst nach zwei Jahren. Für den Fall, dass es in Mainz nicht weitergehen würde, hatte Noelle-Neumann davon gesprochen, Wilmont Haacke in Göttingen suche einen Assistenten. Zum Glück kam es dazu nicht. Mainz besaß natürlich die besseren Perspektiven.

Übergabe der Festschrift an Jürgen Wilke mit Wolfgang Donsbach, Carsten Reinemann und Rudolf Stöber (Foto: privat)

Übergabe der Festschrift an Jürgen Wilke mit Wolfgang Donsbach, Carsten Reinemann und Rudolf Stöber (Foto: privat)

Carsten Reinemann und Rudolf Stöber (2010: 9) schreiben in Ihrer Festschrift, dass es sehr mutig gewesen sei, 1972 aus dem Journalismus als Mitarbeiter zu Elisabeth Noelle-Neumann zu gehen. Empfanden Sie das damals auch so?

Ja und nein. Ich habe mich auch später häufiger gefragt, wo mich der Weg im Journalismus hingeführt hätte. Da ist die letzte Probe nicht gemacht worden. Mutig war es vielleicht trotzdem, weil dazu gehörte, sich wissenschaftlich zu qualifizieren. Publizistik war ja nur mein Nebenfach. Die Sozialwissenschaften musste ich mir erst noch stärker aneignen. Dazu gehörte, dass ich zweimal nach Allensbach musste.

Zum Praktikum?

Ja, jeweils drei Monate in den Semesterferien. Frau Noelle-Neumann verstand das auch als Talentprobe. Man konnte in dieser Zeit nichts anderes arbeiten. Das erklärt auch, warum es bis zur Habilitation einige Jahre gedauert hat.

Im Rückblick sieht Ihre Karriere ganz klassisch aus: Promotion mit knapp 30, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Habilitation mit knapp 40, die ersten Rufe. Hatten Sie je Zweifel auf diesem Weg?

Bis zum Schluss. Wer weiß schon, ob er die Hürden überwinden kann, die vor einer wissenschaftlichen Karriere stehen? Die Habilitation war damals notwendig. Allein über Veröffentlichungen konnte man nicht berufen werden. Und diese Habilitation schien zunächst ganz weit weg.

Wie meinen Sie das?

Einer der ersten Aufträge von Frau Noelle-Neumann war die Neubearbeitung der Zeitungslehre von Emil Dovifat (vgl. Wilke 1976). Der Verlag war an sie herangetreten. Wie wollte ich das ablehnen?

Ein zwiespältiges Unterfangen.

Die Reaktionen waren ja auch entsprechend. Ich habe das verstanden. Das Projekt hat mich ein Jahr beschäftigt. Dazu kam ein Zweibänder zu den literarischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (vgl. Wilke 1978). Eine Spätfolge des Germanistik-Studiums. Und Ende der 1970er-Jahre dann Massenmedien und Journalismus im Schulunterricht. Ein Projekt, das Frau Noelle-Neumann akquiriert hatte. Ursprünglich war nur eine Analyse von Schulbüchern geplant. Wir haben das ausgeweitet und auch Lehrpläne untersucht und Lehrer befragt (vgl. Wilke/Eschenauer 1981).

Medienpädagogik war damals in.

Das stimmt schon, aber all das führte mich trotzdem nicht zur Habilitation. Ich wollte ja schon früher nicht Lehrer werden. Medienpädagogik war nicht das Feld, in das ich wollte.

Wie hat der Germanist und Kunsthistoriker Jürgen Wilke zu quantifizierenden Methoden in der Kommunikationsgeschichtsschreibung gefunden (vgl. Wilke 1984)?

Über Frau Noelle-Neumann natürlich. Für mich war es ein großes Glück, dass ich diese beiden Dimensionen verbinden konnte. Methodisches Know-how und historische Quellenarbeit. Meine Habilitation gehört ja zur Rezeption der Nachrichtenwerttheorie in Deutschland.

Wieder Elisabeth Noelle-Neumann.

In den 1970er-Jahren entdeckte sie die Studie Demonstrations and Communication von James Halloran, über die Proteste gegen den Vietnamkrieg in London (vgl. Halloran et al. 1970). Sie hielt die Studie für paradigmatisch. Dort wurde Johan Galtung zitiert (vgl. Galtung/Ruge 1965). Ich erinnere mich auch an einen Gastvortrag von ihm in Mainz. Winfried Schulz (1976) hat diese Idee dann genutzt und darauf aufgebaut. Mit einem gewissen Zeitabstand kam meine historische Studie. Also nicht nur Quantifizierung, sondern auch ein theoretischer Ansatz. Das war meine Idee.

Wolfgang Donsbach (2005: 158) hat zum 40. Geburtstag des Instituts sieben Tugenden genannt, die ihm in Mainz vermittelt worden seien: Interesse am Gegenstand, Relevanzkriterien, Methodenkompetenz, Aussagenkritik, Internationalität, Stil und Managementfähigkeiten. Was würde auf Ihrer Liste stehen?

Ich könnte das alles unterschreiben. Wenn ich nur das Management nehme: Das hatte ja auch damit zu tun, dass Frau Noelle-Neumann nicht permanent präsent war. Dadurch war der Mittelbau gefordert.

War es für Sie eher ein Ansporn oder eher eine Bürde, zur Mainzer Schule und zu Elisabeth Noelle-Neumann zu gehören?

Auf jeden Fall ein Ansporn. Ich habe mich immer dazu gezählt, obwohl ich keine zentrale Position habe. Ich bewunderte Frau Noelle-Neumann als Wissenschaftlerin, stand ihr aber nie thematisch so nahe wie Herr Kepplinger. Sie hat uns Internationalität eröffnet und die Anerkennung, die von ihr auf das Institut ausstrahlte.

Wie ist der Kommunikationshistoriker Jürgen Wilke auf einen Lehrstuhl für Journalistik gekommen?

Das ging ja sehr schnell. Im Juni 1983 habe ich das Habilitationsverfahren abgeschlossen, und ein halbes Jahr später kam schon der Ruf auf eine C4-Stelle. Das Reservoir an berufungsfähigen Kandidaten war damals begrenzt. Die Konkurrenz war nicht groß. Durch mein Volontariat hatte ich außerdem einen Bezug zum Beruf. Ich habe das gar nicht als so ungewöhnlich betrachtet. Eine gewisse Rolle bei der Berufung nach Eichstätt spielte wohl, dass ich katholisch bin.

Den Studiengang hat Franz Ronneberger konzipiert.

Und ich war der erste Professor, der berufen wurde, ja. Wie schwierig das war, kann man auch daran sehen, dass der zweite Lehrstuhl in den nächsten vier Jahren nicht besetzt werden konnte. Mehrere Verfahren sind gescheitert. Wir mussten uns mit Vertretern behelfen. Als ich den Ruf nach Mainz hatte, habe ich die Annahme hinausgeschoben, weil ich die Zukunft in Eichstätt nicht gefährden wollte. Schon kurz nach meiner Berufung hatte es eine Konferenz mit dem neuen Präsidenten Nikolaus Lobkowicz gegeben, wo die Journalistik infrage gestellt wurde. Wenn ich nicht schon berufen gewesen wäre, wer weiß, was geschehen wäre.

Woher kam der Widerstand?

Aus der Universität und aus dem katholischen Milieu, aus dem sie erwachsen ist. Das Verhältnis der Kirche zum Journalismus ist ja zwiespältig gewesen. Man wollte etwas für die Ausbildung tun, hatte aber gleichzeitig Sorge vor der akademischen Konkurrenz.

Hatten Sie damals schon die Rückkehr nach Mainz im Blick?

Jürgen Wilke am Schreibtisch 19XX (Foto: Y)

Jürgen Wilke am Schreibtisch Mitte der 1970er-Jahre (Foto: privat)

Überhaupt nicht. Später ist das vermutet worden, aber es gab keine Rückversicherung. Wir sind auch gleich umgezogen. Ich musste in Eichstätt präsent sein, Lehrbeauftragte suchen, die Studios aufbauen. Walter Hömberg als Akademischer Rat war dabei am Anfang eine große Hilfe. Er kannte sich in Bayern besser aus.

Haben Sie auf die anderen Journalistikstudiengänge geschaut? Dortmund, München?

Der Studienplan war ja gemacht. Wir mussten ihn ausfüllen. Das interne Praktikum in der Universität zum Beispiel, in den Semesterferien. Dafür brauchte man Lehrbeauftragte. Bis heute ist das ein Alleinstellungsmerkmal von Eichstätt.

Ihre Berufung als Nachfolger von Elisabeth Noelle-Neumann hat sehr lange gedauert.

Sie hat sich ja sehr plötzlich emeritieren lassen. Für uns unerwartet. Sie wollte wohl meine Habilitation im Sommersemester 1983 noch abwarten. Vielleicht hatte ihr Rückzug auch politische Gründe. Das ist jetzt Spekulation. Der Regierungswechsel in Bonn. Wie genau das dann war, weiß ich nicht. An den Nachfolgeverfahren habe ich ja nicht teilgenommen.

Haben Sie sich nicht beworben?

Nein. Man hat wohl auch versucht, international renommierte Kollegen zu finden. Das ist dann aber gescheitert. Ich selbst bekam ja schon im Sommersemester 1985 einen Ruf nach München.

Nach einem Jahr in Eichstätt.

Die Verfahren sind parallel gelaufen. In München stand Kurt Koszyk auf Platz eins. Er hat abgesagt, und man kam auf mich zu.

War das eine ernste Option?

Ja, unbedingt. Hans Mathias Kepplinger hat mich dann gefragt, ob ich mir vorstellen könne, nach Mainz zurückzukommen.

Und? Konnten Sie?

Natürlich. Ich wollte mich aber nicht bewerben, um meine Chancen in den Berufungsverhandlungen in München nicht zu gefährden. Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Gespräch mit Heinz Laufer.

Langzeit-Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät in München.

Ich wusste, dass am Abend vorher in Mainz eine Unico-loco-Liste gemacht worden war, mit nur mir allein. So eine schwierige Situation habe ich dann nie wieder erlebt. Es gab Druck von beiden Seiten. Otto B. Roegele lag daran, dass ich den Ruf nach München annehme, und Frau Noelle-Neumann wollte, dass ich nach Mainz gehe. Ich habe die Entscheidung lange aufgeschoben.

Hat Mainz am Ende mehr geboten?

Rein formal gar nicht einmal. Das schriftliche Angebot ist dann sogar von dem abgewichen, was man mir mündlich zugesagt hatte. So stark, dass ich gesagt habe: Jetzt bleibe ich in Eichstätt. Dann hat man das in Mainz korrigiert.

Warum haben Sie München abgelehnt?

Ich habe das Institut besucht und dort auch Gespräche geführt. Mir und meiner Familie hat es in Bayern sehr gut gefallen. Das Institut war aber in einem desolaten Zustand.

Die Studentenmenge (vgl. Meyen/Löblich 2004).

Wohl über 3000, ja. Dazu ein aufgeblähter Mittelbau, der nur damit zu tun hatte, Magisterarbeiten zu betreuen. Es gab kaum Spielraum für Forschung. Die Unterbringung in der Schellingstraße war außerdem trostlos.

War das in Mainz besser?

Natürlich. Das Institut war in einem geordneten Zustand. Der NC hat funktioniert, und die Reputation war groß. Außerdem ging es um die Nachfolge Noelle-Neumann. Wie hätte man das ablehnen wollen?

Haben Sie die Entscheidung je bereut?

Nein. Die Verhältnisse in München sind dann zwar besser geworden, aber ich hätte dort sicher nie so viel publizieren können.

Hans Bohrmann (2003) hat zu Ihrem 60. Geburtstag neben dem Umfang auch die Breite Ihres Werkes hervorgehoben – vor allem mit Blick auf die „heute übliche Spezialisierung“. Haben Sie ein Lieblingsgebiet?

Wahrscheinlich die Mediengeschichte. Das ist das Gebiet, in dem ich mich zu Hause gefühlt habe (vgl. Wilke 1999a, 2000). Das ergab sich durch den historischen Bezug meiner anderen beiden Fächer. In der Publizistik kann man aber mit Geschichte allein nicht bestehen. Damals war es noch möglich, sich zu verbreitern.

Wie schafft man es, angesichts der Publikationsflut in so unterschiedlichen Gebieten wie Mediengeschichte, Nachrichtenagenturen oder Wahlkampfberichterstattung zu Hause zu sein?

Ich habe ja schon gesagt, wie ich Geschichte und quantitative Methoden in der Habilitation verbunden habe. Das war das Programm, mit dem ich nach Mainz zurückgegangen bin. Das spiegelt sich in den Studien zum Wahlkampf (vgl. Wilke/Reinemann 2000) oder zu den Presseanweisungen (vgl. Wilke 2007).

Dabei ist es aber nicht geblieben.

Vom Wahlkampf ist es nicht weit bis zur politischen Kommunikation. Aus dem Habilitationsstoff ergab sich der Bezug zu Nachrichtenagenturen, die Anfang der 1990er-Jahre völlig unterforscht waren (vgl. Wilke/Rosenberger 1991, Wilke 1993a, 1997). Es gab praktisch nur die Vorarbeiten von Höhne (1984). Ich habe jedes dieser Gebiete systematisch abgearbeitet. Das hat mir zugleich den Weg in die Internationalität geebnet.

Auf Ihrer Webseite nennen Sie auch internationale Kommunikation als Thema.

Das hat einmal mit den Nachrichtenagenturen zu tun. Man interessiert sich dann auch für die anderen Länder. Und dann kam der Schwerpunkt Lateinamerika.

Wie ist es dazu gekommen?

Das war eine Frucht des Eichstätter Studiengangs. Einer der drei Spezialisierungsmöglichkeiten der Studierenden war dort Lateinamerika. Die Universität hat ein eigenes Lateinamerika-Institut. In deutscher Sprache gab es damals so gut wie keine Literatur über die Mediensysteme des Subkontinents. Ich habe deshalb eine ganze Reihe von Diplomarbeiten betreut, die als Buchkapitel erschienen sind (vgl. Wilke 1992, 1994, 1996a). Zweimal war ich selbst in Uruguay, um auch eine eigene Anschauung zu haben (vgl. Wilke 1996b).

Es gibt auch eine Beziehung zu Israel.

In den 1980er-Jahren habe ich Akiba Cohen kennengelernt, ja (vgl. Cohen 2012). Wir hatten ein Projekt über die Berichterstattung über NS-Kriegsverbrecherprozesse in beiden Ländern. Von Nürnberg bis Demjanjuk (vgl. Wilke et al. 1995, Cohen et al. 2002). Ich war mehrfach in Israel. Mit Akiba bin ich bis heute befreundet. Er hat auch das letzte DFG-Projekt zur TV-Berichterstattung in 17 Ländern initiiert (vgl. Quandt et al. 2014).

Hans Bohrmann (2003) hat Sie in seinem Geburtstagsartikel als „forschenden Lehrer“ charakterisiert. Trifft das Ihr Selbstverständnis?

Wie soll man diese Formel verstehen?

Bohrmann (2003) bezieht sie auf die vielen Forschungsarbeiten, die zusammen mit Studierenden entstanden sind.

Dann trifft das absolut zu. Ich habe immer gern unterrichtet. Die Beziehung zu Studierenden war für mich ein wichtiges Lebenselement. Auch zu den Mitarbeitern. Das war eine Mainzer Besonderheit. Viele Magisterarbeiten stützten sich auf Daten, die selbst erhoben worden waren. Vieles davon ist zu Publikationen geworden.

Warum haben Sie sich den DGPuK-Vorsitz angetan?

Auch das ging wieder schnell.

Anfang 40. Die Rush-Hour des Wissenschaftler-Lebens.

Ich war gerade Professor in Eichstätt geworden. In der DGPuK bin ich seit den 1970er-Jahren. Der Kontakt zu den Fachkollegen war mir wichtig. Ich habe nur ganz wenige Jahrestagungen versäumt.

Deshalb muss man nicht gleich Vorsitzender werden.

Ich dachte, das gehört dazu. Ich war der erste Vorsitzende, der drei Jahre amtiert hat. Vorher war eine Verlängerung auf ein zweites Jahr üblich. Man wollte etwas Kontinuität sichern. Inzwischen ist man ja bei vier Jahren Amtszeit.

Die erste Jahrestagung nach Ihrer Wahl war dann gleich in Eichstätt.

Ich wollte den neuen Standort im Fach etablieren. Auch die Thematik passte: Zwischenbilanz der Journalistenausbildung (vgl. Wilke 1987). Die Gesellschaft war ja noch klein. Der Organisationsaufwand hielt sich in Grenzen. Ich habe 1998 in Mainz noch eine Jahrestagung organisiert. Massenmedien und Zeitgeschichte, im Vorfeld des 50. Gründungstages der Bundesrepublik (vgl. Wilke 1999b).

Würden Sie etwas ändern, wenn Sie die Fachgesellschaft heute leiten müssten?

Eine Grundsatzfrage stellt sich mir: Wie sichert man wissenschaftliche Qualität in einer solchen Gesellschaft? Die Expansion war natürlich unvermeidlich. Trotzdem frage ich mich, ob man das Aufnahmeverfahren so offen gestalten muss.

Man will, dass alle dazu gehören.

Sicher. Das ist ja auch gut. Jeder, der Mitglied ist, wirkt dann aber auch schnell als Gutachter mit, zum Beispiel bei der Gestaltung von Tagungsprogrammen. Wenn ich manche Bewertungen in den Reviews lese, fragt man sich schon, wie sich das legitimiert.

Warum haben Sie sich international in der IAMCR engagiert und nicht in der ICA?

Ich bin in beiden Gesellschaften Mitglied und war dort immer wieder auf Tagungen. Die IAMCR hat mir einfach einen institutionellen Rahmen geboten. In den 1980er-Jahren habe ich versucht, in der ICA eine Historikergruppe zu etablieren, zusammen mit Hazel Dicken Garcia, die gerade ein Buch Communication History publiziert hatte (Garcia/Stevens 1980). Steven Chaffee, damals Präsident der ICA, hat uns auch ermuntert, die Resonanz war aber gering. Die US-Medienhistoriker waren damals woanders aktiv.

Jetzt gibt es eine History Division.

Zum Glück. Die IAMCR hatte von Anfang an eine History Section. Das erste Mal war ich da schon 1978, in Warschau, und dann auch 1980 wieder, in Caracas. Damals dominierten dort die Ideologen. Geleitet wurde die Gruppe von Günter Heidorn aus der DDR. Seit 1970, glaube ich. Er gab das auch nicht wieder ab. Das änderte sich dann aber nach der politischen Wende.

James Halloran war auch ewig Präsident der IAMCR (vgl. Meyen 2014).

Genau. Nach 1990 wechselte das stärker, und ich bin den üblichen Weg gegangen. Erst Stellvertreter und dann vier Jahre Head. Alle Sektionsköpfe waren automatisch im International Council. Ein heiliges Gremium. Ich wollte da mal reinhören.

Und?

Es war enttäuschend. Viel Bürokratie. Man lernte aber Kollegen kennen und einschätzen. Einer der Oberbürokraten war Kaarle Nordenstreng. Ohne diese Arbeit und ohne die ICA hätte ich für Wolfgang Donsbachs Enzyklopädie gar nicht das Gebiet Media Systems in the World betreuen können (vgl. Donsbach 2008).

Wie ist es zu der Beziehung nach Moskau und zu der Auszeichnung dort gekommen?

Anfang der 1990er-Jahre haben sich viele engagiert, den Systemwechsel in Osteuropa zu fördern. Ich kam dabei zusammen mit Winfried B. Lerg und Dietrich Ratzke, damals Chef vom Dienst der FAZ. Wir gründeten 1994 das Freie Russisch-Deutsche Institut für Publizistik an der Lomonossow-Universität. Partner auf russischer Seite waren Yassen Sassursky, Dekan der Fakultät für Journalistik, und Galina Woronenkowa. Sie war Korrespondentin in Ost-Berlin gewesen.

Was war das Ziel?

Deutsch sprechenden Studierenden ein zusätzliches Lehrangebot machen (vgl. Wilke 1995). Hinzu kamen Praktika in Deutschland. Als ich 1995 zu meinem ersten Kurs nach Moskau kam, stand noch die Kolossalstatue von Lenin im Treppenhaus des Fakultätsgebäudes. Sie verschwand dann nach ein paar Jahren, für ein Lomonossow-Bild. Danach bin ich fast jedes Jahr in Moskau gewesen. Zum zehnjährigen Instituts-Jubiläum hat mich die Fakultät für Journalistik zum Honorarprofessor ernannt.

Woher stammt Ihr Interesse für die DDR?

Wahrscheinlich hängt das mit dem Ostelement in meiner Biografie zusammen. Die Frage stand immer im Raum: Wo wäre ich aufgewachsen, wenn die Flucht meiner Eltern nicht geglückt wäre? In den 1970er-Jahren bemühte ich mich, eine Einladung an die Leipziger Sektion Journalistik zu bekommen. Doch dort wurde gemauert. Angeblich wollte man einen günstigeren Moment abwarten. 1989, noch vor der Wende, habe ich dann einen Lexikonartikel über das Mediensystem der DDR verfasst, einer der ersten in der Bundesrepublik.

Im Fischer-Lexikon Publizistik, Massenkommunikation.

Elisabeth Noelle-Neumann und Winfried Schulz haben mich ab der zweiten Auflage als Mitherausgeber heranzogen (vgl. Noelle-Neumann/Schulz/Wilke 1989).

Kam es noch zu persönlichen Kontakten?

Im Sommer 1989 war ich zu einer internationalen Konferenz in Ost-Berlin eingeladen, in dem Ausbildungszentrum, das die DDR für Journalisten in den Entwicklungsländern betrieb.

Das Internationale Institut für Journalistik.

Nordenstreng, Sassursky und andere Leute von der linken Fraktion der IAMCR waren da. Ein jüngerer DDR-Kollege hatte Interesse an mir. Bemerkenswert offen wurde von DDR-Teilnehmern über die Urlaubspläne für Ungarn gesprochen. Die Sonderstellung von Sassursky zeigte sich darin, dass er als Einziger über die Grenze nach West-Berlin konnte, um dort die Internationale Funkausstellung zu besuchen. Ein paar Jahre später hinterbrachte mir die Mainzer Fachschaft das Gerücht, von mir existiere eine Stasi-Akte. Ich bin der Sache nachgegangen, die Gauck-Behörde hat damals aber nichts gefunden. Darauf habe ich es beruhen lassen. So wichtig war ich nun doch nicht gewesen.

Und nach der Wende?

Da wurde Forschung über die DDR ja erst richtig möglich. Wir wurden sehr schnell auch nach Leipzig eingeladen. Wie sollte es dort weitergehen? Bei einer Führung durch die Räume der Sektion wurde uns auch die „Giftküche“ nicht vorenthalten.

Westliteratur.

Neben der Schweigespirale fand sich dort auch das Fischer-Lexikon, aber keine Originale. Nur Fotokopien. Ich gehörte auch einer ersten Kommission an, die Vorüberlegungen zur Gründung einer Universität Erfurt anstellte, unter Leitung von Hartmut Schiedermair, dem Vorsitzenden des Hochschulverbandes. Ich wollte dort etwas für die Etablierung der Publizistik und der Journalistenausbildung tun. So haben wir in Mainz mit Studierenden einen Film über unser Lehrangebot gedreht und in Erfurt bei einer Podiumsdiskussion vorgeführt. Das verlief sich dann aber, als Peter Glotz die Sache in die Hand bekam.

Jetzt fehlen noch die USA.

Ich war zweimal länger in Seattle, an der University of Washington. Zum ersten Mal im Wintersemester 1992/93, in einem Forschungsfreisemester, und dann noch einmal 1999. Eingeladen hatte mich Tony Giffard, der auch in Mainz zu Gast war. Ich habe in Seattle unterrichtet, aber von dort auch andere US-Universitäten besucht und Kontakte geknüpft. Für die Publizistik habe ich einen Reisebericht geschrieben (Wilke 1993b).

Und wie kam es zu der Beziehung zu Lugano?

Die haben wir Ulrich Saxer zu verdanken. Als er die Kommunikationswissenschaft in Lugano mit aufgebaut hat, wollten die Kollegen dort einen Partner in Deutschland. Saxer empfahl Mainz. Er hatte Frau Noelle-Neumann in einem Forschungsfreisemester vertreten und dabei das Institut auch von innen kennengelernt. Ich war ihm als Mitarbeiter zugeordnet. In Lugano habe ich zehn Jahre immer einen Kurs unterrichtet. Dort traf ich auch Peter Schulz, den ich von Eichstätt kannte, wo er Pressereferent des Präsidenten gewesen war. Ich habe Peter Schulz auch dazu bewegt, die DGPuK 2008 nach Lugano einzuladen.

Haben Sie nach der Mainzer Berufung noch einmal über einen Wechsel nachgedacht?

Was hätte das sein sollen?

Eins der Institute im Osten zum Beispiel.

Beworben habe ich mich nicht. Mehr als in Mainz hätte man mir nicht bieten können. Mit der Entscheidung gegen München und für Mainz war es vorbei.

Sie sind jetzt 71 Jahre alt und halten hier in Hamburg den Eröffnungsvortrag auf einer DGPuK-Fachgruppentagung. Was treibt Sie an?

Das ist die Sozialisation als Wissenschaftler. Man eignet sich einen bestimmten Arbeitsstil an und bestimmte Interessen. Auch das Schreiben ist ein gewisser Automatismus. Ohne Schreiben fehlt einem etwas. Ich kann natürlich keine Detailstudien mehr durchführen. Dazu fehlen mir auch die Ressourcen.

Sie waren drei Jahre über das reguläre Pensionsalter hinaus als Professor aktiv.

Jetzt bin ich trotzdem froh, dass ich nicht mehr lehren muss. Mit den Bachelorstudiengängen ist das nicht mehr die Universität, in der ich zu Hause war.

Gibt es Wissenschaftler, die für Sie eine Vorbildfunktion hatten oder haben?

Jürgen Wilke mit Elisabeth Noelle-Neumann und Heinz Maier Leibnitz (Foto: Y)

Jürgen Wilke 1992 mit Elisabeth Noelle-Neumann und Heinz Maier Leibnitz (Foto: privat)

Direkt Vorbilder kann ich schwer nennen. Natürlich haben mich meine akademischen Lehrer geprägt. Paul Requadt und seine Art, über Literatur zu sprechen. Und Frau Noelle-Neumann mit ihrer sozialwissenschaftlichen Orientierung. Für das, was ich dann gemacht habe, gab es kein Vorbild. Das Zusammenbringen von Geschichte, quantitativen Methoden und theoretischen Ansätzen. Das ist in Deutschland auch in der Geschichtswissenschaft ein Randphänomen gewesen.

Also haben Sie sich selbst als Vorbild konstruiert.

Das war nicht meine Absicht, ich habe aber schon einen eigenen Weg beschritten.

Zu welchen Kollegen hatten oder haben Sie einen besonders guten Draht?

Zunächst Kollegen aus dem Mainzer Institut. Winfried Schulz, Wolfgang Donsbach, Hans Mathias Kepplinger, Erich Lamp, Michael Kunczik. Dann vor allem diejenigen, die eine historische Ader haben. Walter Hömberg, Rudolf Stöber, Arnulf Kutsch.

Und umgekehrt: Gibt es Gegner, Konkurrenten, Feinde?

Ich sehe keine Feinde. Ein Gegner ist Jörg Becker.

Wegen der Biografie über Noelle-Neumann?

Nein, das hat das jetzt nur auf die Spitze getrieben. Das geht in die 1980er-Jahre zurück. Becker hat einen Aufsatz von Birgit Schenk über den internationalen Nachrichtenfluss unflätig kommentiert (vgl. Becker 1988). Basis für den Aufsatz war eine sehr sorgfältige und fundierte Mainzer Magisterarbeit (vgl. Schenk 1987). Die Ergebnisse von Schenk widersprachen einfach den Überzeugungen von Becker. Das hat mich gegen ihn aufgebracht. So behandelt man eine junge Wissenschaftlerin nicht. Sie war meine erste Mitarbeiterin in Eichstätt. Ich mag keine Ideologen, die sich von empirischen Studien nicht irritieren lassen und an ihrem vorgefassten Bild festhalten.

Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

Auf die Vielfalt meiner wissenschaftlichen Arbeiten und dass ich der Mainzer Schule eine historische Komponente hinzugefügt habe, die auch über die Grenzen des Fachs ausstrahlte. Das hat für mich natürlich psychische Funktionen erfüllt. Ich konnte Dinge machen, die ich interessant fand, und habe dafür Anerkennung bekommen, auch von Studierenden. Dafür ist ein akademischer Lehrer da. Er soll seine Forschung an junge Menschen vermitteln.

Andererseits: Gibt es etwas, was Sie heute anders machen würden?

Wenn man so positiv über das spricht, was man gemacht hat, fällt das schwer. Es bleibt aber immer die Frage, was passiert wäre, wenn ich nach München gegangen wäre. Ich bin bis heute gern in Bayern. Ich habe dort noch Skifahren gelernt, mit 40 Jahren. Die Familie ist ja auch erst 1993 nach Mainz zurückgezogen.

Was soll eines Tages von Jürgen Wilke in der Kommunikationswissenschaft bleiben?

Ich hoffe, dass die Verbindung von Geschichte und quantitativen Methoden bleiben wird. Mich betrübt, dass die Mediengeschichte bei den Neubesetzungen in Mainz nicht mehr berücksichtigt wurde. Damit ist diese Dimension des Instituts praktisch tot. Ich hoffe, dass das woanders weitergeht und man sich dort auch für die Anregungen interessiert, die ich gegeben habe. In der Geschichtswissenschaft hat sich ja einiges getan.

Literaturangaben

  • Jörg Becker: Internationaler Nachrichtenfluß: Eine Stellungnahme zum Aufsatz von Birgit Schenk. In: Rundfunk und Fernsehen 36. Jg. (1988), Nr. 1, S. 45-55.
  • Hans Bohrmann: Als der Krieg zu Ende war. Von der Zeitungswissenschaft zur Publizistik. In: Medien & Zeit 17. Jg. (2002), Nr. 2-3, S. 12-33.
  • Hans Bohrmann: Jürgen Wilke 60 Jahre. In: Publizistik 48. Jg. (2003), S. 477.
  • Akiba Cohen: Cross-national context is almost an imperative. Interview conducted by Michael Meyen. International Journal of Communication Vol. 6 (2012), Feature, S. 1537-1543.
  • Akiba Cohen/Tamar Zemach-Marom/Jürgen Wilke/Birgit Schenk: The Holocaust and the Press. Nazi War Crime Trials in Germany and Israel. Cresskill, NJ: Hampton Press 2002.
  • Wolfgang Donsbach: International vergleichende Kommunikatorforschung. In: Jürgen Wilke (Hrsg.): Die Aktualität der Anfänge. 40 Jahre Publizistikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Köln: Herbert von Halem 2005, S. 158-175.
  • Wolfgang Donsbach (Hrsg.): The International Encyclopedia of Communication. Malden, Oxford: Blackwell Publishing 2008.
  • Johan Galtung/Mari Holmboe Ruge: The Structure of Foreign News. The Presentation of the Congo, Cuba and Cyprus Crisis in Four Norwegian Newspapers. In: Journal of Peace Research Vol. 2 (1965), S. 64-91.
  • Hazel Dicken Garcia/John D. Stevens: Communication History. Beverly Hills: Sage 1980.
  • James D. Halloran/Philip Elliott/Graham Murdock: Demonstrations and Communication. A Case Study. Harmondsworth: Penguin Books 1970.
  • Joan Hemels/Arnulf Kutsch/Michael Schmolke (Hrsg.): Entgrenzungen. Erinnerungen an Henk Prakke. Mit einer Bibliografie. Assen: Van Gorcum 2000.
  • Hansjoachim Höhne: Report über Nachrichtenagenturen. Baden-Baden: Nomos 1984.
  • Michael Meyen: IAMCR on the East-West Battlefield: A Study on the GDR’s Attempts to Use the Association for Diplomatic Purposes. In: International Journal of Communication Vol. 8 (2014), S. 2071-2089.
  • Michael Meyen/Maria Löblich (Hrsg.): 80 Jahre Zeitungs- und Kommunikationswissenschaft in München. Bausteine zu einer Institutsgeschichte. Köln: Herbert von Halem 2004.
  • Elisabeth Noelle-Neumann: Jürgen Wilke: Das Zeitgedicht. Seine Herkunft und frühe Ausbildung. Meisenheim: Hain 1974. Rezension. In: Publizistik 21. Jg. (1976), S. 389-391.
  • Elisabeth Noelle-Neumann/Winfried Schulz/Jürgen Wilke (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik/Massenkommunikation. 2. Auflage. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 1989.
  • Thorsten Quandt/Jürgen Wilke/Christine Heimprecht/Thilo von Pape: Fernsehwelten. Auslandsnachrichten im deutschen Fernsehen. Wiesbaden: Springer VS 2014.
  • Carsten Reinemann/Rudolf Stöber: Vorwort. In: Carsten Reinemann/Rudolf Stöber (Hrsg.): Wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft. Festschrift für Jürgen Wilke. Köln: Herbert von Halem 2010, S. 8-14.
  • Birgit Schenk: Die Struktur des internationalen Nachrichtenflusses: Analyse der empirischen Studien. In: Rundfunk und Fernsehen 35. Jg. (1987), Nr. 1, S. 36-54.
  • Winfried Schulz: Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Eine Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg: Alber 1976.
  • Jürgen Wilke: Das Zeitgedicht. Seine Herkunft und frühe Ausbildung. Meisenheim: Hain 1974.
  • Jürgen Wilke (Bearbeiter): Emil Dovifat: Zeitungslehre. 2 Bände. Berlin: de Gruyter 1976.
  • Jürgen Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688-1789). 2 Bände. Teil I: Grundlegung, Teil II: Repertorium. Stuttgart: Metzler 1978.
  • Jürgen Wilke: Nachrichten und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Berlin: de Gruyter 1984.
  • Jürgen Wilke (Hrsg.): Zwischenbilanz der Journalistenausbildung München: Ölschläger 1987.
  • Jürgen Wilke (Hrsg.): Massenmedien in Lateinamerika. Erster Band. Argentinien, Brasilien, Guatemala, Kolumbien, Mexiko. Frankfurt am Main: Vervuert 1992.
  • Jürgen Wilke (Hrsg.): Agenturen im Nachrichtenmarkt. Reuters, AFP, VWD/dpa, dpa-fwt, KNA, epd, Reuters Television, World Wide Television News, Dritte Welt-Agenturen. Köln: Böhlau 1993a.
  • Jürgen Wilke: Academia am Pugent Sound und anderswo. Zwei Monate als Visiting Scholar in den Vereinigten Staaten von Amerika. In: Publizistik 38. Jg. (1993b), S. 221-228.
  • Jürgen Wilke (Hrsg.): Massenmedien in Lateinamerika. Zweiter Band. Chile, Costa Rica, Ecuador, Paraguay. Frankfurt am Main: Vervuert 1994.
  • Jürgen Wilke: Lehrerfahrungen in Moskau. Freies Russisch-Deutsches Institut für Publizistik. In: Aviso Nr. 14/Juli 1995, S.1-2.
  • Jürgen Wilke (Hrsg.): Massenmedien in Lateinamerika. Dritter Band. Bolivien, Nicaragua, Peru, Uruguay, Venezuela. Frankfurt am Main: Vervuert 1996a.
  • Jürgen Wilke: Medien, Mate und Mesokratie. Eine Reise nach Uruguay. In: Aviso Nr. 16 (April 1996b), S. 15-16.
  • Jürgen Wilke (Hrsg.): Nachrichtenagenturen im Wettbewerb. Ursachen – Faktoren – Perspektiven. Konstanz: UVK 1997.
  • Jürgen Wilke (Hrsg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1999a (Buchhandelsausgabe Köln: Böhlau).
  • Jürgen Wilke (Hrsg.): Massenmedien und Zeitgeschichte. Konstanz: UVK 1999b.
  • Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Köln: Böhlau 2000. 2. Auflage 2008.
  • Jürgen Wilke (Hrsg.): Die Aktualität der Anfänge. 40 Jahre Publizistikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Köln: Herbert von Halem 2005.
  • Jürgen Wilke: Presseanweisungen im zwanzigsten Jahrhundert. Erster Weltkrieg – Drittes Reich – DDR. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2007.
  • Jürgen Wilke/Barbara Eschenauer: Massenmedien und Journalismus im Schulunterricht. Eine unbewältigte Herausforderung. Freiburg, München: Alber 1981.
  • Jürgen Wilke/Carsten Reinemann: Kanzlerkandidaten in der Wahlkampfberichterstattung. Eine vergleichende Studie zu den Bundestagswahlen 1949-1998. Köln: Böhlau 2000.
  • Jürgen Wilke/Bernhard Rosenberger: Die Nachrichten-Macher. Zu Strukturen und Arbeitsweisen von Nachrichtenagenturen am Beispiel von AP und dpa. Köln: Böhlau 1991.
  • Jürgen Wilke/Birgit Schenk/Akiba A. Cohen/Tamar Zemach-Marom: Holocaust und NS-Prozesse. Die Presseberichterstattung in Israel und Deutschland zwischen Aneignung und Abwehr. Köln: Böhlau 1995.

Empfohlene Zitierweise

    Jürgen Wilke: Geschichte, quantitative Methoden und Theorie. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015. http://blexkom.halemverlag.de/wilke-interview/ ‎(Datum des Zugriffs).