Lutz Erbring

Lutz Erbring: Ausbildung ist Pflicht und keine Kür

Veröffentlicht am 13. Juli 2022

Lutz Erbring (1938 bis 2021) hat das Berliner Institut von 1986 weit über seine Pensionierung hinaus geprägt. Nach einer Würdigung von Gerhard Vowe veröffentlicht BlexKom hier ein Interview, das Maria Löblich und Michael Meyen am 23. März 2006 in Berlin mit Erbring geführt haben (vgl. Meyen/Löblich 2007: 246-261).

Stationen

Geboren am 26. Mai 1938 in Leipzig. 1957 Studium der Rechtswissenschaften in München, 1958 in Berlin. 1958/59 Politikwissenschaften in Princeton. 1961 bis 1965 Rechts- und Sozialwissenschaften in Köln. 1964 Erstes juristisches Staatsexamen in Köln. 1966 bis 1975 Studium der Politischen Wissenschaft an der University of Michigan. Parallel dazu Dozent und Studienleiter am Institute for Social Research (ISR). 1969 bis 1971 Dozent an der Summer School der University of Essex. 1972 bis 1978 Direktor des Ausbildungsprogramms für quantitative Methoden des Inter-University Consortium for Political and Social Research (ICPSR). 1975 Ph.D. Titel der Dissertation: The Impact of Political Events on Mass Publics (Erbring 1975). 1975 Assistant Professor im Department of Political Science der University of Michigan. 1979 Associate Professor im Department of Political Science der University of Chicago und Senior Study Director am National Opinion Research Center (NORC). 1980 „Front-Page News and Real World Cues: Another Look at Agenda-Setting by the Media“ (mit Edie Goldenberg und Arthur Miller). 1986 bis 2005 Lehrstuhl für Publizistik mit dem Schwerpunkt Theorie und Methoden der empirischen Kommunikationsforschung an der Freien Universität Berlin, in dieser Zeit mehrfach Visiting Professor an der University of Chicago und der Stanford University. Gestorben am 20. September 2021 (vgl. Vowe 2022).

Vielleicht können Sie zu Beginn etwas erzählen über Ihr Elternhaus, Ihre Kindheit, die Zeit bis zum Beginn des Studiums.
Mein Vater war Chemiker. Er hatte sich in Leipzig habilitiert und war dann einem Ruf an die TH in München gefolgt. Die erste Zeit ist er gependelt. Als ich drei Jahre alt war, sind wir vorübergehend zur Großmutter gezogen, nach Naumburg. Das war gut, denn die Leipziger Wohnung ist beim ersten Bombenangriff platt gemacht worden. Eigentlich wollten wir dann nach München, die Stadt wurde aber schon evakuiert, und wir sind in einem Bauernhof in Moosburg untergekommen, auf halber Strecke zwischen Freising und Landshut. Dort bin ich zur Grundschule gegangen, als „Zuagroaster“. Sehr ländlich. Ende 1948 sind wir dann nach Köln gezogen. Dort war ich auf dem Gymnasium. Mein Vater hatte das Angebot bekommen, Forschungschef einer großen Pharmafirma zu werden.

Also kein Karriereknick nach Kriegsende.
Nein. 1945 waren die Universitäten erst einmal geschlossen. Die ersten beiden Jahre hat mein Vater für die Amerikaner gearbeitet und dort deutsche Patente ausgewertet. Dann kam das Angebot aus Köln. Die Firma war früher in Dresden und hat Leute gesucht für den Neuaufbau. Vater war dann an der Kölner Universität Honorarprofessor. Er war politisch nicht belastet, aber auch kein Widerständler.

Hat Parteipolitik zu Hause eine Rolle gespielt?
Überhaupt nicht. Meine Mutter war weitgehend apolitisch und mein Vater ein typischer Naturwissenschaftler. Die interessieren sich eher für ihr Labor als für das, was in der Gesellschaft passiert. Er war kein Vorbild für politisches Engagement. Als Jugendlicher habe ich eine Gruppe im Christlichen Verein Junger Männer geleitet. Mit Zeltlagern und allem, was dazu gehört. Das fand ich interessant. Zu Hause gab es aber einen Medienbezug. Meine Mutter hat mich ermuntert, an den NWDR zu schreiben und mich als Kindersprecher zu bewerben. Ich habe dort ziemlich regelmäßig Hörspiele und Schulfunk gemacht, später auch Filme synchronisiert. Damit habe ich richtig Geld verdient.

Dann will man doch Schauspieler werden.
Sie haben völlig Recht. Der Stimmbruch kam relativ spät, und die Regisseure fanden es natürlich prima, Kinderrollen mit einem 16-Jährigen besetzen zu können. Ich fand das auch gut, weil ich so im Geschäft blieb. Eine solche Karriere war mir dann aber doch nicht ganz geheuer. In diesem Beruf ist man völlig abhängig vom Wohlwollen anderer. Dass das nicht steuerbar ist, merkt man schon als Jugendlicher. Eine Zeitlang wollte ich dann Pilot werden. Sozusagen der bessere Lokomotivführer. Vielleicht auch Flugzeugbauingenieur. Ich habe mich sehr für Physik interessiert. Wir hatten in der Oberstufe damals selbstverständlich Integral- und Differentialrechnung, auch an einem neusprachlichen Gymnasium. Meine Begeisterung für das Fliegen war in England entstanden. Mit 17 Jahren war ich ein Semester als Austauschschüler in London. Dort gab es am Kiosk mindestens ein halbes Dutzend Flugmagazine. Alles Dinge, die ich in Deutschland damals überhaupt nicht kannte. Ich bin dann als einer der ersten Lufthansa-Passagiere von London nach Köln zurückgeflogen.

Warum haben Sie die naturwissenschaftliche Schiene verlassen?
Das hat viel mit einem Geschichtslehrer zu tun. Ein ehemaliger Journalist, der sehr engagiert politische und zeitgeschichtliche Kontexte vermitteln konnte und deshalb sehr wichtig für mich war. Dieser Mann hat mein Interesse für Politik geweckt. Vor allem das Interesse für internationale Politik. Nach dem Abitur habe ich beschlossen, in den Auswärtigen Dienst zu gehen, und deshalb angefangen, Jura zu studieren. Erst zwei Semester in München und dann ein Semester an der FU, dort mit Politikwissenschaft im Nebenfach. Damals noch an der Deutschen Hochschule für Politik, dem Vorläufer des Otto-Suhr-Instituts. Mit von der Gablentz und Fraenkel. Nach dem Berliner Semester war ich mit einem Fulbright-Stipendium in den USA und habe in Princeton an der Woodrow Wilson School of Public and International Affairs ein Jahr Political Science studiert. Das war für mich außerordentlich prägend. Ich habe bis heute Freunde aus dieser Zeit. Über die deutsche Beobachtermission in New York bekam ich anschließend Gelegenheit zur Teilnahme am UN Internship Programm, im Political and Security Council Affairs Department. Das hat mein diplomatisches Interesse unterfüttert. Ich habe außerdem Spaß an Sprachen und hatte in Princeton ein Jahr lang Arabisch studiert, irgendwann auch mal ein bisschen Spanisch oder Schwedisch, eine Zeitlang sogar Thai.

Haben Ihnen diese Erfahrungen beim Jura-Studium etwas genützt?
Beim Jura-Studium sicher nicht. Außer vielleicht bei meinem Dissertationsthema über den völkerrechtlichen Status der indirekten Aggression. Dieses Thema ist aber bei meinem Aufbruch in die USA auf der Strecke geblieben. Ich habe dann in Köln weiter studiert und mich dort in der studentischen Selbstverwaltung engagiert. Gleich im ersten Semester wurde ich Präsident des Studentenparlaments und auf dem Jahreskongress des Verbandes Deutscher Studentenschaften sogar stellvertretender Vorsitzender für Internationales. Das war ein Fulltimejob und für mich natürlich besonders interessant, weil man damit viel in der Welt herumkam. Es war die Zeit des Algerien-Krieges. In Deutschland gab es damals an fast allen Universitäten Aktionen zur Unterstützung der algerischen Exilstudenten. Wir hatten intensive Kontakte zum algerischen Studentenverband. Es wurden Stipendien organisiert, Sponsoren gesucht und Sammelaktionen koordiniert.

Emil Dovifat 1949 (Foto: Gerd-Victor Krau/Fotoarchiv der Deutschen Kinemathek)

In Berlin waren Sie 1958 auch in der Dovifat-Vorlesung. Warum sind Sie dort hingegangen?
Zu Dovifat musste man einfach hingehen. Als Attraktion. Dovifat hatte rhetorische Qualitäten. Er brachte es fertig, dass die Leute im großen Hörsaal bis zum Podium auf dem Fußboden saßen. Dabei waren die Universitäten damals noch nicht so überfüllt wie heute. Aber alle Welt ging zu Dovifat. Er erzählte irgendwelche Geschichten über das Tagesgeschehen oder über die Zeitung. Das war politisch interessant, und ich habe Politik studiert. Mit Medien hatte ich damals noch nichts am Hut.

Hat man nur Dovifat gesehen oder auch das Fach?
Überhaupt nicht. Von dem Fach hatte ich weder etwas gehört noch etwas gewusst. Keiner meiner Kommilitonen hatte etwas mit Publizistik zu tun. Es ging nur um Politik und um das Phänomen Dovifat.

Warum sind Sie nicht Diplomat geworden, sondern Politikwissenschaftler?
Als Studentenvertreter war ich sehr viel international unterwegs. In Griechenland, in Tunesien, später in Algerien, in West-Afrika, in Asien. Ich habe ein gutes Dutzend deutsche Botschaften gesehen, habe mit den Leuten dort reden können und Berichte geschrieben. Normalerweise hat man ja vorher nicht die Chance, so einen Verein von innen kennen zu lernen, bevor man Mitglied ist. Es war frustrierend zu sehen, wie gute Leute sich abrackerten, verschlissen wurden und am Ende nur noch auf Cocktail-Partys gegangen sind. Mein Interesse war danach weg. Ich habe trotzdem noch das Jura-Examen gemacht. Aus Prinzip. Was man angefangen hat, das sollte man zu Ende machen. Auch wenn man nicht Anwalt oder Richter werden will. Ich habe mich auch weiter für internationale Politik interessiert. Dann aber nicht mehr für die Praxis im Auswärtigen Dienst, sondern für das Forschungsfeld.

Sie haben dann in Köln Sozialwissenschaften studiert.
Im Zweitstudium. Damals war Erwin Scheuch gerade aus Harvard zurück und von René König als große Hoffnung für die empirische Sozialforschung in Deutschland an Bord geholt worden. Scheuch war der erste modern ausgebildete Sozialwissenschaftler. Ich hatte relativ schnell Anschluss an seine Gruppe. Junge Leute, die man bis heute kennt. Hans-Dieter Klingemann, Max Kaase, Burkhard Strümpel. Der intellektuelle Austausch war sehr intensiv. Fast jede Woche war irgendein Seminar mit irgendeinem durchreisenden Amerikaner. Das war ungeheuer animierend und motivierend. Mir wurde allerdings bald klar, dass man nach Amerika gehen musste, wenn man wirklich moderne sozialwissenschaftliche Methoden lernen wollte.

Hatten Sie das nicht schon in Princeton erlebt?
Princeton war ganz traditionell, und außerdem ein paar Jahre früher. Dort gab es keine empirisch- sozialwissenschaftliche Abteilung. An der Woodrow Wilson School wurde Politikberatung gemacht. In Köln habe ich mich dann bemüht, irgendwie nach Amerika zu kommen, um dort Sozialforschung zu studieren.

Weil dort die Wurzeln lagen?
Weil es in Deutschland keine vergleichbare Möglichkeit gab. In Köln bei Erwin Scheuch ein bisschen, aber das war es dann auch schon. Dort wurden zwar auch angewandte Methoden gelehrt, und es gab auch schon einige Forschungsprojekte, aber es wurde vor allem diskutiert. Eher ein Salon-Umfeld. Immerhin hat René König ein ganzes Handbuch geschrieben über empirische Sozialforschung (König 1962) und die Richtung sehr gefördert. Aber diese Leute standen nicht in den Gräben der täglichen Forschungsroutine. Meinen Statistik-Schein habe ich bei einem ganz normalen, mathematisch orientierten Statistiker gemacht.

Haben Sie in Köln noch etwas von der Studentenbewegung mitbekommen?
Später aus der Ferne, aus Amerika. Man hat aber schon gemerkt, was in der Universität läuft. Die erste Zeit war ich noch öfter in Köln und ab 1970 dann für die Dissertation mindestens einmal im Jahr in Berlin. Mein Projekt wurde vom Berliner Senat gefördert. Es ging um die politische Moral der West-Berliner im Kalten Krieg: Wie verändern sich die Einstellungen zu den Alliierten, zu den Politikern, zur Zukunft unter Druck von außen? Der Senat hatte regelmäßig Umfragen in Auftrag gegeben und so ganz nebenbei eine wunderbare Daten-Zeitreihe produziert. 30, 35 Umfragen aus zehn Jahren. Ich konnte dort all meine Interessen verbinden: internationale Politik, komplexe Methoden, öffentliche Meinung. Ich hatte sogar einmal Kontakt zum Institut für Publizistik. Der erste Kontakt zum Fach überhaupt. Eher schockierend.

Warum schockierend?
Ich wollte eine Presseauswertung machen lassen, vielleicht von einem Studenten, der sich so seine Magisterarbeit finanziert. Ich habe deshalb beim Institutsdirektor angerufen. Der hat eine halbe Minute gestottert und mich dann mit der studentischen Vertretung verbunden. Als ich die University of Michigan erwähnte, sprach die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung gleich von CIA-Forschungen. Ich habe sie beruhigt und gesagt, dass sie das wohl mit der Michigan State University verwechsle und dass der Berliner Senat das Projekt finanziere. Die Reaktion: Ich wisse doch sicher, dass man mit dem Senat auf Kriegsfuß stehe. In meiner Naivität habe ich geantwortet, dass uns dort niemand hineinrede. Außerdem sei es doch auch für die Studenten sicher interessant zu sehen, wie viel Einfluss die Springer-Presse tatsächlich auf die politische Moral der Bevölkerung hat. Was dann kam, war für mich ein Schock: Dass die Springer-Presse hetzt, das wisse man doch, das müsse man nicht erst erforschen. Sie hat mir dann zugesagt, mein Anliegen im Institutsrat vorzubringen und mir zu melden, wenn es einen Studenten geben sollte, der bereit sei, sich für so etwas zu „prostituieren“. Ich habe natürlich nie wieder etwas von ihr gehört. Als ich 1986 nach Berlin kam, fiel mir der Vorfall wieder ein, und mir wurde klar, wer damals Institutsdirektor gewesen sein muss. Sozusagen einer meiner Vorgänger.

Hätten Sie sich Anfang der 1970er Jahre vorstellen können, als Professor nach Deutschland zurückzukommen?
Das war ursprünglich der Plan. Ich wollte drei Jahre in die USA, dort promovieren und dann hier als junger Wilder mit amerikanischer Ausbildung und quantitativen Methoden der Sozialforschung groß wieder einsteigen. So schnell ging es dann aber doch nicht. Dafür habe ich neben dem Studium zu viele Sachen gemacht. Forschung, Programmleitung, Finanzen organisieren, Lehre. In Michigan habe ich schon im zweiten Jahr Methodenkurse gegeben und dann jahrelang das Sommerprogramm für quantitative Methoden geleitet. Da kamen jedes Jahr 120, 130 Leute von Universitäten aus dem ganzen Land und auch aus Europa. Auch in den USA war es bis in die 1970er Jahre keineswegs selbstverständlich, eine fundierte Methodenausbildung anzubieten. Es gab gar nicht genug Professoren, die das hätten lehren können. In Europa erst recht nicht. Deshalb kamen die künftigen Dozenten zu uns nach Michigan. Als Leiter eines solchen Sommerprogramms war man weithin sichtbar und vielen bekannt. In Michigan ist dann etwas passiert, was auch in Amerika unüblich ist: Als ich mit meinem PhD fertig war und eigentlich nach Deutschland hätte zurückgehen sollen, wurde mir angeboten, mich auf eine Professur zu bewerben.

Gab es damals schon Kontakt zur deutschen Publizistikwissenschaft?
Das Fach hatte ich noch gar nicht auf dem Radarschirm. Es gab aber Kontakte zu den Nachwuchsleuten aus anderen Sozialwissenschaften, zu Max Kaase, Hans-Dieter Klingemann, Franz-Urban Pappi, Jürgen Falter, Fritz Scharpf, Klaus Allerbeck. Die waren alle in Michigan oder in Essex. Eine ganze Generation von Sozialwissenschaftlern, die hier dann später die Lehrstühle bevölkert hat. Dort ist auch ein persönliches Netzwerk entstanden.

Noelle-Neumann mit Hans Mathias Kepplinger (Foto: privat).

Haben Sie Elisabeth Noelle-Neumann erst in Chicago kennen gelernt?
Ich hatte sie schon vorher getroffen. Das erste Mal, glaube ich, 1973 auf einem WAPOR-Kongress in Budapest. Danach auch manchmal bei anderen Gelegenheiten. In Chicago war sie ab und zu als Gastdozentin. Wenn Sie auf den Link zur Publizistikwissenschaft hinauswollen: Ich hatte schon in Michigan an Wahlstudien mitgearbeitet. Wenn man fragt, wie politische Einstellungen zustande kommen und wie Meinungsbildung funktioniert, dann braucht man nicht lange, um auf die Medien zu stoßen. Für Lazarsfeld waren diese Fragen ganz zentral. Danach sind sie in der Wahlforschung aber verschüttet worden. Ich habe mich immer weniger für internationale Beziehungen interessiert und immer mehr für politische Einstellungen und die öffentliche Meinung und damit für Medienwirkungen. In Chicago habe ich bis zum letzten Tag Medienwirkungsforschung betrieben – als Politologe im Department of Political Science.

Warum sind Sie nach Deutschland zurückgegangen?
Reiner Zufall. Ich wollte das eigentlich schon längst nicht mehr.

Warum verlässt man nach 20 Jahren Amerika, wo man etwas erreicht hat, wo man eine Position hat, und geht dann ausgerechnet nach Berlin, an den Rand der Republik?
Für mich war Berlin überhaupt nicht am Rand. Außerdem läuft in Amerika eine wissenschaftliche Karriere etwas anders. Man beschäftigt sich etliche Jahre mit Forschungsprojekten und Publikationen und überlegt dann mit 45, was als nächstes kommt. Noch ein Projekt, noch ein Buch und am Ende die Pension? Oder eine institutionelle Karriere: Leiter eines Instituts, Uni-Präsident, Dekan. Das Angebot aus Berlin kam für mich eigentlich fünf oder zehn Jahre zu früh. Ich hatte relativ viel Zeit in Lehre und Organisation gesteckt und zu wenig in die Forschung und wollte jetzt endlich einmal zwei oder drei Projekte zu Ende bringen und publizieren. Berlin hat diese Lebensplanung umgestoßen.

Warum haben Sie Ihre Planung umstoßen lassen?
Grundsätzlich war ich ja nicht abgeneigt, ein Institut aufzubauen. In Berlin gab es damals praktisch nichts, das Institut war mehr oder weniger am Ende. Ich habe mir dann gesagt, dass man sich bei solchen Aufgaben das Timing nicht aussuchen kann. Ich habe auch eine Gestaltungsmöglichkeit gesehen. Und natürlich die Hoffnung, anschließend doch wieder forschen zu können. Berlin hat mich ohnehin schon immer gereizt. Schon seit meiner Studienzeit. Ich hätte mir die Rückkehr allerdings nie zugetraut ohne das Netzwerk aus Kölner Zeiten und ohne die transatlantischen Kontakte aus der Michigan-Zeit. Wenn ich diese Kollegen nicht gekannt hätte, wäre ich hier sicher verloren gewesen. Sie haben mich ermuntert und mir versichert, das sei alles schon nicht so schlimm. Im Fach hatte ich nur einige zufällige Kontakte. Klaus Schönbach zum Beispiel. Wolfgang Donsbach hatte mich einmal in Chicago besucht.

Haben Sie sich in Berlin beworben?
Ich bin angesprochen worden. Das ist auch in Amerika üblich. Wenn Sie erst einmal in einer Disziplin etabliert sind, dann werden Sie sich nicht mehr unaufgefordert bewerben. Dann wird Sie jemand bitten.

Wer hat Sie angesprochen?
Elisabeth Noelle-Neumann. Man hat mir gesagt, dass das Berliner Institut ziemlich herunter-gekommen sei. Die Folgen von 68 hatten voll durchgeschlagen. Die Wissenschaftsverwaltung wollte die Berliner Publizistik aber erhalten und das Institut auf internationalem Niveau neu aufbauen. Es gab eine Experten-Kommission, mit Elisabeth Noelle-Neumann, Ulrich Saxer, Joachim Fest. Diese Kommission hat eine Blockberufung empfohlen, am besten aus dem Ausland. Mit solchen Blockberufungen gab es an der Freien Universität Erfahrungen. Peter Glotz hatte als Wissenschaftssenator so zum Beispiel die Philosophie neu belebt (vgl. Glotz 2005: 165-175). Sein Nachfolger Kewenig wollte sich wohl auch eine Feder an den Hut stecken und die Publizistik „sanieren“. Bei einem ihrer Chicago-Besuche kam Elisabeth Noelle-Neumann damals auf mich zu und fragte, ob ich nicht interessiert wäre. Ein modernes, international ausgerichtetes sozialwissenschaftliches Institut an der FU Berlin, das war natürlich reizvoll. Es hieß, dass erst drei Eckprofessuren im Block berufen werden sollten und dass dann im Bereich der empirisch-sozialwissenschaftlichen Publizistik noch zwei weitere Stellen zu besetzen wären, um alles auf die neue Schiene bringen zu können. Ich war damals zu naiv. Das hat sich so nicht realisieren lassen.

Warum nicht?
Ich war gerade ein paar Tage hier in Berlin, als wieder einmal zwölf Millionen Mark im Haushalt gefehlt haben. Stellenstopp. Ich wurde beruhigt. Kewenig wolle einen Neuanfang, und das gehe zur Not auch am Stellenstopp vorbei. Kurz danach gab es die so genannte Antes-Krise. Eine Riesen-Korruptionsaffäre im Berliner Senat, mit Folgen: Kewenig wurde Innensenator. Für den neuen Wissenschaftssenator war die Publizistik ein Fach wie jedes andere. Und ich war plötzlich einer von vielen – ohne die besondere Unterstützung für einen personellen Neuaufbau. Es wäre eigentlich rational gewesen, das Experiment Berlin abzubrechen und nach einem Gastsemester wieder zurück zu gehen. In Chicago hatte ich mich ja vorerst nur beurlauben lassen. Ich habe mir dann aber wohl selbst in die Tasche gelogen und gedacht, na, es wird schon irgendwie werden. Wenn wir die nächste Berufung nicht sofort hinbekommen, dann eben ein Jahr später. Das Umfeld im Haus war allerdings absolut feindlich.

Gegenüber dem Amerikaner oder gegenüber dem Empiriker?
Vor allem gegenüber dem Empiriker. Absolute Ablehnung. Auch von den beiden Kollegen aus der Blockberufung. Die waren für mich ein zusätzliches Problem. In Amerika ist es trotz fehlender Hierarchietradition undenkbar, dass jemand von null auf hundert zum Full Professor wird. Erst wird man Assistant Professor, dann Associate Professor, und zwischendurch hat man sich bewährt. Die beiden Kollegen, die mit mir berufen wurden, sind von null auf hundert katapultiert worden. Das heißt nicht, dass die Leute schlecht sein müssen, aber aus amerikanischer Perspektive wäre eine solche Entscheidung vollkommen unverständlich. Die Leute müssen sich doch erst einmal bewähren. Die beiden haben in Berlin gegen die Empirie intrigiert. Der linke Mittelbau sowieso. In so einer Gremien-Universität hat es dann viel länger gedauert, etwas zu bewegen, als ich mir das in meiner Naivität vorgestellt hatte. Ursprünglich hatte ich für den Aufbau 18 Monate angesetzt. 18 Monate ohne wissenschaftliche Produktivität. Auf die dritte empirische Professur warten wir immer noch. Nach mehr als 19 Jahren. Obwohl sie seit je im Strukturplan steht.

Auch die Besetzung des zweiten Lehrstuhls hat sehr lange gedauert.
Ich wollte Schritt für Schritt vorgehen. Erst die zweite Stelle besetzen und dann gemeinsam schauen, wo es gute Leute für die dritte gibt. Nach der Verzögerung musste ich erst einmal die ursprüngliche C3-Stelle in eine C4-Stelle umgewandelt bekommen. Dann konnten wir sie 1988 endlich ausschreiben. Ich wollte gern Klaus Schönbach haben. Einen Kollegen, bei dem man nicht misstrauisch über die Schulter gucken muss, sondern der dem entsprach, wie ich es ich aus Amerika kannte, wo man normalerweise wissenschaftlich zusammenarbeitet und sich nicht politisch bekämpft. An guten amerikanischen Universitäten will man möglichst Top-Leute berufen, damit alle sagen, Mensch, das ist ja ein toller Laden. In letzter Minute hatte sich auch noch Winfried Schulz beworben. Ein mir genauso willkommener Kollege, an den ich gar nicht gedacht hatte. Schönbachs Lehrer. Er konnte auf der Liste ja schlecht hinter Schönbach stehen. Die Verwaltung der FU hat aber nicht verstanden, dass das eine einmalige Chance war, einen Senior des Fachs an Land zu ziehen. Die haben es schlicht verbockt. Das Bleibe-Angebot für Schulz aus Nürnberg war besser. Also zurück zu Plan A: Schönbach. Er wäre gern gekommen, und eigentlich war alles schon in trockenen Tüchern. Im letzten Moment wurde ihm aber in Hannover soviel geboten, dass er schlecht nein sagen konnte. Dann gab es noch Manfred Küchler aus New York, ein Soziologe, aber ein toller Methodologe. Auch er wollte auf jeden Fall kommen, ist dann aber im letzten Moment aufgrund einer persönlichen Krise geblieben. Es war wie im Kino.

Und dann?
Ich war fünf Jahre da und immer noch nicht weiter. Wir haben dann einen letzten Versuch unternommen und beide Stellen gleichzeitig ausgeschrieben. Eine als C4-Professur für Methoden, eine als C3-Professur mit dem Schwerpunkt internationaler Vergleich. Es gab eine gemeinsame Kommission. Für die C3-Stelle war Wolfgang Donsbach prädestiniert. Er war damals schon hier als Gastdozent und sehr interessiert. Auf der C4-Liste stand Hans-Jürgen Weiß vorn. Aber es gab aber wieder Querschüsse im Haus. Von den Kollegen wurde sogar ein gemeinsamer Brief an den Wissenschaftssenator geschrieben mit dem Vorschlag, Donsbach auf die C4-MethodensteIle zu setzen, um Weiß rauszukegeln. Dadurch hat sich das Verfahren weiter verzögert. Als wir nach gut acht Monaten endlich so weit waren, hatte Donsbach ein Angebot für einen Lehrstuhl in Dresden. Es gab wieder einmal Haushaltssperren, und außerdem musste die FU schrumpfen wegen der Wiedervereinigung. Hans-Jürgen Weiß haben wir dann zwar endlich bekommen, Gott sei Dank. Aber die dritte Stelle ging den Bach hinunter. Das verdanke ich den lieben Kollegen hier im Hause.

Ging es bei diesen Kämpfen nur um solche Berufungen?
Als ich herkam, gab es keine Studienordnung. Wir haben anderthalb Jahre gebraucht, um diese lächerliche Ordnung zustande zu bringen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden von wie vielen Menschen dort vergeudet worden sind. 1988 ist die Studienordnung dann verabschiedet worden, unter meinem Vorsitz als Dekan. Ich hatte den Posten übernommen, zur Schadensbegrenzung. Außerdem war ich damals Vorsitzender der FU-Forschungskommission, um die Uni-Strukturen von innen kennen zu lernen. Nicht auszudenken, wenn jemand anders Dekan gewesen wäre. Ich habe damals sicher ein Drittel meiner Zeit verwendet, um ständig neue Flächenbrände auszutreten. Die Studienordnung habe ich am Ende nur durchbekommen, weil ich morgens im Fachbereichsrat darauf bestanden hatte, wir gehen hier erst raus, wenn der letzte Paragraph steht. Wir saßen bis nachts halb drei. Wenn ich so etwas meinen Kollegen in Amerika erzählt habe, hat mir keiner geglaubt.

Sie haben schon auf den linken Mittelbau hingewiesen. Waren Sie selbst parteipolitisch erkennbar?
Ich bin nie parteipolitisch gebunden gewesen. Bis heute nicht. Ich bin ja nicht beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Ihre Schüler loben vor allem Ihre Methodenveranstaltungen. Was machen Sie anders als andere?
Eigentlich gar nichts. Vielleicht habe ich mehr Erfahrungen, was funktioniert und was nicht. Ich mache solche Veranstaltungen ja seit dem Sommerprogramm in Michigan. Damals sind wir davon ausgegangen, dass Methoden keine trockene Materie sein dürfen. Eigentlich geht es dabei ja um die Anwendung, und auch bei der Statistik zum Beispiel nicht in erster Line um Statistik, sondern um logisches Denken und inhaltliche Modelle. Aber auch in meinen Statistikveranstaltungen springen Leute ab, egal was ich mache.

Sind Ihnen ein gelungenes Seminar, eine gelungene Abschlussarbeit oder ein Schüler, der das Handwerk beherrscht, wichtiger als ein Aufsatz?
Eigentlich nicht. Trotzdem ist mein Schriftenverzeichnis natürlich, um mit Loriot zu sprechen, sehr übersichtlich, jedenfalls was die Quantität angeht. Als ich jetzt pensioniert wurde, habe ich mich gefreut, demnächst endlich die Dinge tun und schreiben zu können, die ich viele Jahre lang nicht getan und geschrieben habe.

Lutz Erbring (ganz links) mit Hans-Bernd Brosius, Günter Bentele und Romy Fröhlich auf der DGPuK-Jahrestagung 2002 in Dresden (Foto: Michael Meyen)

Warum haben Sie dann trotzdem weiter gelehrt?
Ich bin durch meine Zeit in den USA anders sozialisiert. Ich kann nicht sagen, die Lehre ist mir eigentlich Wurst, ich mache meine Projekte, ich schreibe meine Artikel, und um den Rest sollen sich meine Assistenten kümmern. Auch an renommierten amerikanischen Forschungsuniversitäten wie Chicago, Michigan oder Stanford hat man eine Verantwortung für die Ausbildung. Man kann doch die Studenten nicht im Stich lassen. Ausbildung ist eine Pflicht und keine Kür. Ich habe diese Pflicht eher nach preußisch-amerikanischem Pflichtbewusstsein wahrgenommen, obwohl ich eigentlich lieber am Computer mit Daten arbeite. Nach Erreichen der Altersgrenze wurde meine Pensionierung auf Bitten des Instituts zweimal um ein Jahr hinausgeschoben, weil meine Stelle vakant geblieben war. Sie ist immer noch nicht besetzt. Ich hätte natürlich sagen können, die Universität hat es in den Sand gesetzt. Wenn die Stelle nicht ausgeschrieben wird, dann ist das nicht mein Problem, sollen die Studenten sehen, wie sie zurechtkommen. Es war schließlich seit Jahren bekannt, wann ich pensioniert werde. Das habe ich aber nicht über das Herz gebracht.

Viele Empiriker im Fach haben eigene kommerzielle Institute gegründet. Hat Sie die angewandte Forschung nie gereizt?
Sie hat mich sehr gereizt. Ich habe ja auch als Berater gearbeitet, für SPSS, Forsa, Burda. Ich habe auch kleinere Projekte für Medienunternehmen gemacht. Für mehr hat mir meine Situation an der Universität einfach keine Zeit gelassen.

Bereuen Sie im Rückblick den Schritt nach Berlin?
Eigentlich nicht. Meine Frau würde sagen, sonst hätten wir uns gar nicht kennen gelernt. Natürlich hat mich bekümmert, dass ich viele Sachen nicht machen konnte, gerade im wissenschaftlichen Bereich. Ich war allerdings auch nie besonders gut im Delegieren. Vielleicht auch ein Erbe aus Amerika. Dort arbeitet der Professor noch selbst am Computer. In Amerika gibt es weder Mittelbau noch deutsche Hochschulgesetze oder Verwaltungsapparate. Ich kam hierher in dem Glauben, eine Universität sei eine Stätte für Forschung und Lehre. In Berlin habe ich gelernt: eine Universität ist zunächst einmal eine Behörde.

Gibt es im Rückblick etwas, worauf Sie besonders stolz sind?
Ich freue mich schon sehr, dass ich es zusammen mit Hans-Jürgen Weiß geschafft habe, in Berlin die Basis für eine sozialwissenschaftlich orientierte Publizistikwissenschaft zu legen. Wenn auch längst nicht alle Träume in Erfüllung gegangen sind. Ich hätte mir zum Beispiel gewünscht, dass dieser Bereich im Profil des Hauses ein stärkeres Gewicht bekommt.

Was bleibt von Lutz Erbring in der Kommunikationswissenschaft? Was sollte bleiben, wenn Sie Einfluss darauf hätten?
Das kann ich so nicht beantworten. Ich hoffe, dass die Infrastruktur überlebt, die wir hier in Berlin geschaffen haben. Einschließlich der besonderen Methodenkompetenz. Und dann freut mich natürlich, Mitarbeiter und Absolventen zu haben, die im Fach Karriere machen und so auch meinen Namen weitertragen, indem sie selbst etwas zustande bringen.

Literaturangaben

  • Lutz Erbring: The Impact of Political Events on Mass Publics. University of Michigan: Ph.D. 1975.
  • Lutz Erbring/Edie N. Goldenberg/Arthur H. Miller: Front-Page News and Real World Cues: A New Look at Agenda-Setting by the Media. In: American Journal of Political Science 24. Jg. (1980), Nr. 1, S. 16-49.
  • Peter Glotz: Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers. München: Econ 2005.
  • René König (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band 1. Stuttgart: Enke 1962.
  • Michael Meyen/Maria Löblich: “Ich habe dieses Fach erfunden“. Wie die Kommunikationswissenschaft an die deutschen Universitäten kam. 19 biografische Interviews. Köln: Herbert von Halem 2007.
  • Gerhard Vowe: Lutz Erbring: Eine Würdigung. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2022.

Empfohlene Zitierweise

Lutz Erbring: Ausbildung ist Pflicht und keine Kür. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2022. http://blexkom.halemverlag.de/erbring-interview/ ‎(Datum des Zugriffs).