Winfried B. Lerg (Quelle: Kutsch et al. 1992)

Winfried B. Lerg

23. August 1932 bis 15. April 1995

Lexikoneintrag von Stefanie Averbeck-Lietz am 11. Oktober 2016

Winfried B. Lerg führte die historische und systematische Kommunikationswissenschaft zusammen. Er bearbeitete viele Forschungsfelder als Pionier und steht für die Publizistikwissenschaft der 1970er- und 1980er-Jahre, die sich mit Begleitforschung zu Bildschirmtext und Kabelfernsehen aktiv dem technologischen Wandel zuwandte.

Stationen

Geboren in Frankfurt/Main. 1952 Abitur in Linz am Rhein und Studium der Staats- und Sozialwissenschaften sowie der Geschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 1953 Wechsel an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster (WWU) und Studium der Publizistik, Sozialwissenschaften und Neueren Geschichte. Am Institut für Publizistik der WWU studentischer Mitarbeiter von Walter Hagemann (1955 bis 1958) und wissenschaftlicher Assistent bei dessen Nachfolger Henk Prakke (1960 bis 1968). 1964 Promotion, 1969 Habilitation (jeweils betreut von Henk Prakke). 1969 Vertretung des Lehrstuhls für Publizistik und kommissarischer Direktor des Instituts für Publizistik an der Universität Münster (nachdem Prakke das Institut verlassen hatte). 1971 Berufung auf den Lehrstuhl für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der WWU, verbunden mit einer 25-jährigen Amtszeit als Direktor des Instituts für Publizistik. 1973 bis 1975 Erster Vorsitzender der DGPuK, 1974 Mitbegründer und Vorstandsmitglied des Studienkreises Rundfunk und Geschichte. 1975 Mitglied der Planungskommission Modellversuch für eine hochschulgebundene Journalistenausbildung in Dortmund. 1980 bis 1983 Mitglied des Beraterkreises Feldversuch Bildschirmtext des Landes Nordrhein-Westfalen. 1984 bis 1988 Mitglied der wissenschaftlichen Kommission des Landes Nordrhein-Westfalen zur Begleitforschung Breitbandkabel (Kabelpilotprojekt Dortmund). 1987 bis 1988 Gastdozent an der Universität Iowa, USA. 1993 Mitbegründer des bis heute bestehenden Freien Russisch-Deutschen Instituts für Publizistik an der Lomonossow-Universität Moskau. Gestorben in Münster.

Publikationen

  • Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland. Herkunft und Entwicklung eines publizistischen Mittels. Frankfurt/Main: Knecht 1965 (= Dissertation).
  • Kommunikation der Gesellschaft: Einführung in die funktionale Publizistik. Münster: Regensberg 1968 (gemeinsam mit Henk Prakke, Franz W. Dröge und Michael Schmolke).
  • Das Gespräch. Theorie und Praxis der unvermittelten Kommunikation. Düsseldorf: Bertelsmann 1970 (= Habilitation).
  • Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980.
  • Sowjetische Publizistik zwischen Öffnung und Umgestaltung. Die Medien im Zeichen von Glasnost und Perestroika. Münster: Lit 1991 (gemeinsam mit Marianne Ravenstein und Sabine Schiller-Lerg).
  • Deutschsprachige Kolonialpublizistik am Vorabend der amerikanischen Revolution. Fünf Beiträge zur Funktion deutscher Drucker und ihrer Periodika. Mit einer Einleitung von Manfred Rühl. Münster: Lit 1999, postum.

Winfried B. Lergs Leben und Werk sind vor etwas mehr als 20 Jahren von Arnulf Kutsch in der Fachzeitschrift Publizistik anlässlich des Nachrufs ausführlich gewürdigt worden. Kutsch (1995) betont: „Die Spuren der wissenschaftlichen Ansätze seiner beiden Lehrer [Walter Hagemann und Henk Prakke] blieben in Lergs historischen, systematischen und prognostischen Forschungsarbeiten unverkennbar − und wie seine beiden Vorgänger hat Lerg sich die Pflicht auferlegt, das Fach in Lehre und Forschung, bei der Vergabe von Magister- und Dissertationsthemen in seiner ganzen Breite zur berücksichtigen. Er wollte dadurch einen Beitrag zur ‚kognitiven Identität‘ der Disziplin leisten.“

Winfried B. Lerg am Schreibtisch (Hanno Hardt, 1993)

Winfried B. Lerg am Schreibtisch (Hanno Hardt, 1993)

Dies hat Lerg mit seiner historisch-systematischen Orientierung, der internationalen Öffnung der Publizistikwissenschaft und der Erforschung interpersonaler Kommunikation erfolgreich getan. Es ist ertragreich, Lerg heute zu lesen, insbesondere Das Gespräch (1970), ein Buch von hohem fachhistorischen Wert, das einen Forschungsgegenstand systematisch darlegt und auf der Basis internationaler Literatur historisch entwickelt. Das Thema war in Münster nicht kontextfrei, bereits Franz Dröge und Henk Prakke hatten sich mit Gerüchtekommunikation sowie mit (interkultureller) interpersonaler Kommunikation befasst (vgl. Lerg 1970: 10; Averbeck-Lietz/Klein 2009). Manfred Rühl fasst das entsprechende Forschungsanliegen rückblickend so zusammen: „War traditionell die vermittelte Kommunikation durch organisierte publizistische Einrichtungen (Presse, Film und Funk) Gegenstand der Publizistikwissenschaft im deutschen Sprachraum, dann beabsichtigte man in Münster Ende der 60er Jahre, die unvermittelte Kommunikation aus ihrer publizistikwissenschaftlichen Nebenrolle herauszuheben“ (Rühl 2002: 265). Heute sind mit computervermittelter interpersonaler Kommunikation und Social Media die verschiedenen Kommunikationsformen längst medienübergreifend als interdependente Phänomene Forschungsgegenstand der Kommunikationswissenschaft. Rühl (2002: 266) schreibt außerdem: „Das Gespräch hätte eine Paradigmenwende werden können, wäre die den dinghaften Medien verhaftete Kommunikationswissenschaft [damals] bereit gewesen, den Kommunikationsbegriff, der ihr die Bezeichnung als Disziplin verschafft, als Elementarbegriff ernst zu nehmen.“ Eben aus dieser Erwägung heraus ist Lergs Buch zum „Gespräch“ als genuin kommunikationswissenschaftlichem Forschungsgegenstand von Arnulf Kutsch und Christina Holtz-Bacha (mit einer Besprechung durch Manfred Rühl) genauso wie Lergs bis heute viel beachtete Dissertationsschrift von 1965 zur „Entstehung des Rundfunks“ (mit einer Besprechung seitens Edgar Lersch) in die „Schlüsselwerke für die Kommunikationswissenschaft“ aufgenommen worden (vgl. Kutsch/Holtz-Bacha 2002).

Im Forschungsfeld Rundfunkgeschichte brachte Lerg neben dem eigenen, international relevanten Standardwerk zahlreiche Dissertationen auf den Weg (vgl. Lersch 2002: 264). Friedrich P. Kahlenberg hat zum 60. Geburtstag von Winfried B. Lerg über dessen tragenden Beitrag zur Arbeit des 1969 gegründeten Studienkreises Rundfunk und Geschichte berichtet. Zu dessen noch heute als Fachzeitschrift Rundfunk und Geschichte bestehenden „Mitteilungen“ hatte er bis 1992 mehr als 200 Einzelveröffentlichungen beigesteuert, ein unvergleichbares „rundfunkgeschichtliches Engagement“ des ausgebildeten Historikers Lerg ( Kahlenberg 1992: 10-11). Dabei hatte Lerg aber nie nur das Einzelmedium Rundfunk im Blick, übergreifendes Ziel kommunikationsgeschichtlicher Forschung war für Lerg eine „Theorie des publizistischen Wandels“ (Kahlenberg 1992: 12). Diese wiederum ist eingebettet zu denken in das „Primat der Kommunikationsgeschichte gegenüber den ‚traditionellen‘ Mediengeschichten“ (Dröge 1992: 32) − wie es zu einem Verständnis von Kommunikation als sozialem Prozess, ausgehend vom Gespräch bis zur technisch-medial vermittelten Kommunikation, passt.

Winfried B. Lerg (ganz rechts) mit Michael Schmolke, Henk Prakke und Franz Dröge (v.l.n.r.; Quelle: Privatarchiv Joachim Westerbarkey)

Eine Schule im engeren Sinne hat Lerg nicht begründet: „Lerg, Dröge und Schmolke waren damals davon überzeugt, dass wir weg müssen vom Schulenbilden. Wir wollten das bewusst nicht“ (Schmolke 2014). Zudem gerieten gemeinsame Absichten und Interessen bald nach dem Erscheinen des Buches „Funktionale Publizistik“ in den Hintergrund: Lerg und Dröge konkurrierten in Münster um die Prakke-Nachfolge, berufen wurde Lerg (vgl. Scheu 2012: 174). Die „Münsteraner Schule“ der funktionalen Publizistik konnte keine Nachhaltigkeit entfalten (vgl. Klein 2006). Nachhaltiger war indes das Konzept, eine historisch-systematische Kommunikationswissenschaft zu betreiben, die quellen- und zugleich theoriegeleitet denkt (vgl. Schmolke 2004: 242-244). Dafür standen Lerg und Schmolke sowie später Arnulf Kutsch, der 1985 bei Lerg zu einem rundfunk- und fachhistorischen Thema promovierte. Historische und systematische Kommunikationswissenschaft gleichzeitig auf die Agenda zu setzen, dieses Anliegen begleitet die deutschsprachige Kommunikations- und Medienwissenschaft bis heute (vgl. Averbeck-Lietz et al. 2009). Systematisch meint dabei, von der „leidigen Medienfixierung“ (Lerg 1977: 13) wegzukommen, und richtet sich auf die transmediale Geschichte der öffentlichen Kommunikation insgesamt, einschließlich Rezipienten- und Rezeptionsgeschichte (vgl. Schmolke 2004: 243; Averbeck-Lietz 2015: 252-255).

Winfried B. Lerg (Hanno Hardt, 1982)

Winfried B. Lerg (Hanno Hardt, 1982)

Als einer der Köpfe der funktionalen Publizistik zählte Lerg zur sogenannten „Jungtürkengeneration“ (Meyen 2007: 313), der Veränderergeneration im Fach, die die „empirisch-sozialwissenschaftliche Wende“ einläutete (Löblich 2010). Dies nicht nur über die Forschung, sondern auch über die Lehre, die begann, die US-amerikanische Kommunikationsforschung dezidiert aufzugreifen und exklusiv Seminare dazu zu veranstalten (etwa schon 1963 ein mehrsemestriges Münsteraner Oberseminar Prakkes und seiner Assistenten, darunter Lerg, mit englischsprachiger Lektüre und darauffolgenden Exkursionen in die USA sowie Besuchen von dort − so kam unter anderem Paul F. Lazarsfeld auf Einladung von Prakke; vgl. Klein 2006: 237-238; Löblich 2010: 156-166). Dabei nahm Lerg selbst nie nur englischsprachige Literatur wahr, sondern − was bisher wenig gewürdigt wurde − auch französisch- und spanischsprachige, bisweilen italienische und polnische, was sich auch in seinen Rezensionen niederschlug.

Literaturangaben

  • Stefanie Averbeck-Lietz: Schnittstellen zwischen Kommunikationsgeschichte und Mediatisierungsforschung. Ein Beitrag zur theoretischen Fundierung kommunikationshistorischer Forschung. In: Susanne Kinnebrock/Christian Schwarzenegger/Thomas Birkner (Hrsg.): Theorien des Medienwandels. Köln: Herbert von Halem 2015, S. 250-276.
  • Stefanie Averbeck-Lietz/Petra Klein: Entwicklungs- und interkulturelle Kommunikation in der funktionalen Publizistikwissenschaft. In: Stefanie Averbeck-Lietz/Petra Klein/Michael Meyen (Hrsg.): Historische und systematische Kommunikationswissenschaft. Festschrift für Arnulf Kutsch. Bremen: Edition Lumière 2009, S. 215-238.
  • Stefanie Averbeck-Lietz/Petra Klein/Michael Meyen (Hrsg.): Historische und systematische Kommunikationswissenschaft. Festschrift für Arnulf Kutsch. Bremen: Edition Lumière 2009.
  • Franz Dröge: Über historische Modellkonstruktionen. In: Arnulf Kutsch/Christina Holtz-Bacha/Franz R. Stuke (Hrsg.): Rundfunk im Wandel. Beiträge zur Medienforschung. Berlin: Vistas 1992, S. 31-44.
  • Friedrich P. Kahlenberg: Ein Gruß zum 60. Geburtstag Winfried B. Lergs. In: Arnulf Kutsch/Christina Holtz-Bacha/Franz R. Stuke (Hrsg.): Rundfunk im Wandel. Beiträge zur Medienforschung. Berlin: Vistas 1992, S. 9-16.
  • Petra Klein: Henk Prakke und die funktionale Publizistik. Münster: Lit 2006.
  • Arnulf Kutsch/Christina Holtz-Bacha/Franz R. Stuke (Hrsg.): Rundfunk im Wandel. Beiträge zur Medienforschung. Festschrift für Winfried B. Lerg. Berlin: Vistas 1992.
  • Arnulf Kutsch: Winfried B. Lerg †. In: Publizistik 40. Jg. (1995), S. 361-364.
  • Arnulf Kutsch/Christina Holtz-Bacha (Hrsg.): Schlüsselwerke für die Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002.
  • Winfried B. Lerg: Das Gespräch. Theorie und Praxis der unvermittelten Kommunikation. Düsseldorf: Bertelsmann 1970.
  • Winfried B. Lerg: Pressegeschichte oder Kommunikationsgeschichte? In: Elger Blühm (Hrsg.): Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. Münster: Verlag Dokumentation 1977, S. 9-24.
  • Edgar Lersch: Winfried B. Lerg: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland. In: Arnulf Kutsch/Christina Holtz-Bacha (Hrsg.): Schlüsselwerke für die Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 262-265.
  • Maria Löblich: Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistik- und Zeitungswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2010.
  • Michael Meyen: Die „Jungtürken“ in der Kommunikationswissenschaft. Eine Kollektivbiographie. In: Publizistik 52. Jg.(2007), S. 308-328.
  • Manfred Rühl: Winfried B. Lerg: Das Gepräch. Theorie und Praxis der unvermittelten Kommunikation. In: Arnulf Kutsch/Christina Holtz-Bacha (Hrsg.): Schlüsselwerke für die Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 265-267.
  • Andreas M. Scheu: Adornos Erben in der Kommunikationswissenschaft. Eine Verdrängungsgeschichte? Köln: Herbert von Halem 2012.
  • Michael Schmolke: Theorie der Kommunikationsgeschichte. In: Roland Burkart/Walter Hömberg (Hrsg.): Kommunikationstheorien. Ein Textbuch zur Einführung. Wien: Braumüller 2004, S. 243-257.
  • Michael Schmolke: Am Ende war ich selbst ein „Großfürst”. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2014.

Weblinks

Empfohlene Zitierweise

Stefanie Averbeck-Lietz: Winfried B. Lerg. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2016. http://blexkom.halemverlag.de/winfried-b-lerg/ (Datum des Zugriffs).