Stationen
Geboren am 24. November 1925 in Leipzig. 1943 Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht. US-Kriegsgefangenschaft. Eintritt in die KPD. 1946 Studium in Leipzig (Pädagogik, Germanistik, Anglistik). 1950 Lehrer. Stellvertretender Schuldirektor. 1953 Dozent in der Lehrerweiterbildung, Gastlektor für Deutsche Sprache und Stilistik an der Universität Leipzig. 1954 wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter für Deutsche Sprache und Journalistik. 1959 Oberassistent. 1968 Prodekan der Fakultät für Journalistik, 1969 stellvertretender Sektionsdirektor (bis 1973). 1972 außerordentlicher Professor für Stilistik. 1986 Invalidisierung. Verwitwet.
Publikationen
- Franz Mehring als Polemiker. Ein Beitrag zur journalistischen Meisterschaft. Dargestellt an ausgewählten literaturkritischen Arbeiten. Karl-Marx-Universität Leipzig: Fakultät für Journalistik 1964 (Dissertation).
- Wörterbuch der Sprach- und Stilkunde. Ein Nachschlagewerk für Journalisten. Zwei Teile. Karl-Marx-Universität Leipzig: Fakultät für Journalistik 1968 (mit Siegfried Krahl).
- Sprachliche Gesichtspunkte des journalistischen Argumentierens. 5. Auflage. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1988.
Könnten Sie zu Beginn etwas über Ihr Elternhaus erzählen, Ihre Kindheit, Ihre Jugend?
Ich hatte eine sehr schöne Jugend. Mein Vater war Volksschullehrer und meine Mutter hat in einer Fabrik gearbeitet. Nach der Hochzeit war sie zu Hause. Bei uns wurde sehr viel Wert auf Literatur gelegt. Der gehörte meinem Vater (zeigt auf einen riesigen schwarzen Bücherschrank). Flämischer Barock, nachgemacht. Auch die jährliche Sommerreise musste sein.
An die Ostsee.
Von Leipzig fuhren Sonderzüge, zum Beispiel nach Stettin. Kurz vor Kriegsausbruch waren wir noch auf Rügen. Geld war aber immer knapp. Wir sind auch mit dem Rad gefahren. An den Bodensee und auch nach Rügen, mit dem Zelt, schwer bepackt.
Das ist weit.
Meine Eltern waren sportlich. Das hat Spaß gemacht.
Musste man als Volksschullehrer damals studieren?
Nein. Mein Vater hat ein Lehrerseminar besucht. Das war aber nicht schlecht. Latein, Orgelspielen. Mein Vater war immer links.
War er in einer der Arbeiterparteien?
Dazu war er zu individualistisch. Der Parteibetrieb war ihm ein Gräuel. Das hat ihm 1933 geholfen, seinen Beruf zu behalten.
Wie das?
Sein Kollegium wurde nach der Machtübernahme aufgelöst. Wer in der KPD war, wurde entlassen. Die anderen sind auf Leipzig verteilt worden.
Wie lief Ihre eigene Schulkarriere?
Ich kam im vierten Schuljahr auf die Petri-Schule am Floßplatz. Das war ein Reform-Realgymnasium. Wir fingen mit Latein an. Es gab dann auch Englisch und wahlweise Französisch. Nicht Griechisch. Darauf legte mein Vater Wert. Dort war ich bis zur Unterprima.
Und dann kam der Krieg.
Wir sind von der Schule weg eingezogen worden. Nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen. Ich war noch nicht einmal 18.
Wann war das?
Im Mai 1943. Ich kam zum Arbeitsdienst in die besetzte Tschechoslowakei. Dort mussten wir Lidice einebnen. Das Dorf, das die SS zerstört hatte. Schlimm. Wir erfuhren nach und nach, was da passiert war. Fast jeden Morgen lagen frische Blumen dort, wo sie die Männer erschossen hatten.
Wie lange waren Sie im Arbeitsdienst?
Von Mai bis Oktober 1943. Ich war kurz zu Hause, und dann kam im Herbst die Einberufung zur Infanterie. Zuerst Zittau und dann Krakau. Wir Oberschüler wurden nach der Grundausbildung gefragt, ob wir Reserveoffizier werden wollen. Wir hatten ja keinen Beruf. Ich habe mich natürlich gemeldet.
Warum das?
Auf Rat meines Vaters. Er war Weltkriegssoldat und hatte gesagt: Melde dich, wenn es Lehrgänge gibt. Aber nicht zur SS. Dafür wurde dauernd geworben, und das nicht mit sehr feinen Methoden. Alle zusammenpferchen und fragen, wer hier ein Feigling sei.
Aber Sie wurden trotzdem nicht erwischt.
Ich hatte einen Reifevermerk und mich für Medizin eingeschrieben. So konnte ich immer sagen, dass ich Marineoffizier werde. Da haben sie mich in Ruhe gelassen.
Wollten Sie als Schüler tatsächlich Arzt werden?
Ja. Ich weiß gar nicht mehr warum. Nach dem Krieg ist dieser Wunsch jäh verschwunden. Die Universität war noch zu, als ich aus der Gefangenschaft kam. Die medizinische Fakultät schickte mich nach Dösen, in die Heilanstalt zur Krankenpflege. Jeden Tag zwölf Stunden. Diese Zustände. Leichen, die nicht abtransportiert wurden. Bombenkinder, psychisch geschädigt. Und Simulanten. Irgendwelche Nazis, die in die Psychiatrie geflohen waren. Das war kein Beruf für mich.
Dann lieber Pädagoge wie der Vater.
Das lag nahe, ja.
Musste Ihr Vater auch wieder in den Krieg?
Im Ersten Weltkrieg war er Feldwebel gewesen und ist dann ziemlich schnell zur Landwehr eingezogen worden. 1941, glaube ich. Später kam er zur Feuerwehr bei der Luftwaffe, als Verwaltungsfeldwebel. Er ist kurz vor Schluss desertiert und mit dem Rad nach Leipzig durchgekommen.
Und Sie?
Ich war im Lazarett in Dresden. Ich bin ja zweimal getroffen worden. Ein Durchschuss im Unterschenkel und der Oberschenkel ziemlich zerfleischt von einer Handgranate. Alles zum Glück ohne lange Folgen. Der Stabsarzt war ganz vernünftig. Er hat jeden gefragt, wo er hin will, und einen Marschbefehl ausgestellt. So kamen wir durch die Sperren der SS.
Erinnern Sie sich noch an Ihre Leipziger Professoren?
Theodor Litt. Geschichte der Pädagogik seit der Reformation. Er hatte nur einen winzigen Zettel und sprach zwei Stunden. Seine Sprachkultur hat mich fasziniert. Hermann August Korff las dagegen ab, aus einem eigenen Buch. Inhaltlich war das aber nicht schlecht. Er wurde sehr geachtet. Und dann kam Hans Mayer. Ich habe ihn leider nur ein Jahr erlebt.
Wie ging es nach dem Studium weiter?
Es gab eine Kampagne. Absolventen auf das Land. Ich war schon verheiratet und durfte in der Nähe bleiben. In Podelwitz, nördlich von Leipzig. Dort gab es nur vier Klassen. Immer zwei Jahrgänge zusammen. Mit meinem Englisch konnte ich dort nichts anfangen. Ich habe aber immerhin einen Freiwilligenkurs angeboten, der auch sehr gut besucht war. Nach kurzer Zeit wurde das untersagt, und es kam ein Russischlehrer.
Waren Sie dort auch stellvertretender Direktor?
Nein. Das war dann in Wiederitzsch, wo ich auch wohnte. Die Schule in Podelwitz haben wir abgeschafft. Das war dort alles viel zu beengt.
Wie ist es zu dem Lehrauftrag für Journalistik gekommen?
Der reine Zufall. Der Journalistenverband bot im Sommer Weiterbildungskurse an, die vom Institut für Publizistik und Zeitungswissenschaft bedient wurden. Der Dozent für den Deutschkurs war mein Vater.
Ihr Vater?
Ja. Er hatte einen Urlaubsplatz an der Ostsee und fragte, ob ich ihn nicht vertreten könne. Ich hatte ja Sommerferien. Hinterher wurde ich zu Wilhelm Eildermann bestellt.
Der Institutsdirektor.
Genau. Eildermann sagte mir, die Studenten seien begeistert gewesen. Ob ich nicht Lust habe, an das Institut zu kommen.
Wie war Ihr Vater dort hingekommen?
Auch wieder ein Zufall. Er war eigentlich Deutschdozent am Lehrerbildungsinstitut in der Karl-Heine-Straße. Bei einem Lehrgang war er nach Hause gefahren, weil ihm die Zimmeraufteilung nicht gefiel und der Leiter auf stur schaltete. Er flog aus der Partei und verlor seinen Arbeitsplatz. Es war hanebüchen. Auf der Quästur traf er Heinrich Bruhn.
Auch Professor am Institut.
Das war gerade gegründet worden, ja. 1951 muss das gewesen sein. Bruhn hörte, was passiert war, und sagte, er brauche einen Deutschdozenten.
So kam Ihr Vater zur Journalistik.
Er sagte, er sei sicher nicht der Richtige mit seinem Parteirausschmiss. Bruhn war das egal. Hauptsache ein guter Deutschdozent. Mein Vater war der erste. Zwei Jahre als Einzelkämpfer. Vorher gab es gar keinen Deutschunterricht. Die Institutsleitung war wirklich daran interessiert.
Wann wurde Ihr Vater geboren?
1896. Er war also Mitte, Ende 50. Ich kam 1953. Und Siegfried Krahl kam aus Halle von der Arbeiter- und Bauernfakultät.
Dann haben Sie noch mit Ihrem Vater zusammengearbeitet.
Das ging besser, als ich befürchtet hatte. Ich übernahm das erste Studienjahr und er das zweite. So kamen wir uns nicht in die Quere. Krahl machte das Fernstudium. Dann kamen bald andere, etwa 20 insgesamt. In den besten Zeiten waren wir zehn bis zwölf Leute in der Stilistik.
War Siegfried Krahl Journalist?
Seiteneinsteiger, genau wie wir. Wir haben überlegt, was wir den Studenten mitgeben wollen. Was braucht ein Journalist? Die drei Punkte galten eigentlich bis zum Schluss: Sprachwissen, Sprachbeurteilungsvermögen, Sprachgestaltungsfähigkeiten. Der Journalist muss seine Sprache kennen. Er muss begründen können, was er warum redigiert. Und er muss überzeugend schreiben.
Sie kannten den Beruf aber gar nicht.
Ich habe mich deshalb in eine Redaktion delegieren lassen. Das muss 1955 gewesen sein. Die Freie Presse in Zwickau. Ich kam an und sollte gleich den Leitartikel für den nächsten Tag schreiben.
Soll der Klugscheißer von der Universität doch mal zeigen, was er kann.
Ich saß die halbe Nacht. Es ging um die Wiederbewaffnung der Bundeswehr. Meine Überschrift hieß dann „Helm ab zum Gebet“. Da war das Eis gebrochen. Mir haben die paar Wochen geholfen, den Betrieb zu verstehen. Ich bekam zum Beispiel Manuskripte mit orthografischen Fehlern und wusste nicht, ob ich das den Autoren sagen sollte. Die haben dann nur gelacht und gemeint, dass das die Setzer machen.
Joachim Pötschke (1997: 142) hat berichtet, dass vor allem Kollegen aus der Sowjetunion die Frage beantwortet hätten, was das Fach Stilistik in der Journalistenausbildung zu leisten habe.
Das kam dann dazu. Die Bücher von Wladimir Ruban (1954) und Elise Riesel (1959). Das war eine gute Ergänzung zu dem, was wir selbst schon wussten. Wir haben uns vor allem gefragt, wie wir diesen Stoff lehrbar machen. Das ging eigentlich nur in Übungen. Wir haben das zunächst allein gemacht. Darstellungsformen, Beschreibungen, Schilderungen. Das war schon ganz nützlich, es fehlte aber der journalistische Pfiff. Gelöst wurde das erst mit dem Übungssystem.
Die Erfindung von Emil Dusiska.
Von Dusiska angeregt und von Karl-Heinz Röhr gestaltet und mit Leben gefüllt. Vorher gab es natürlich auch schon Praktika. Zeitweise zum Beispiel ein Zwischenpraktikum, in Redaktionen. Wir reisten hinterher und schauten uns die Sachen an. Im Übungssystem konnten wir dann selbst Aufgaben stellen, die ein praktisches Ziel hatten und wo die Studenten das anwenden konnten, was sie vorher in der Theorieausbildung hatten. Bis das perfekt lief, hat es gedauert. Ich glaube aber, dass das in Deutschland einmalig war.
Wussten Sie, was im Westen lief?
Groß herumgekommen bin ich nicht. Einmal war ich in Münster, bei Winfried B. Lerg. Er wollte über Exilzeitschriften sprechen. Arnulf Kutsch war damals noch Student. Mit Sprache hatte man in Münster nicht viel im Sinn. Lerg sagte, dafür könne man doch zu den Germanisten gehen. Immerhin lagen in der Handbibliothek unsere Lehrmaterialien aus. Große Anerkennung bekommen haben wir aus Mainz.
Von Elisabeth Noelle-Neumann?
Ja. Sie kam ja nach Leipzig zur Tagung der AIERI (vgl. Meyen 2014, 2016). Emil Dusiska gab mir den Auftrag, ihr alles zu zeigen. Ich habe sie eine Woche lang mit meinem Trabi von ihrem Hotel am Karl-Marx-Platz abgeholt. Das Auto hat sie köstlich amüsiert. Und vom Übungssystem war sie begeistert. Sie meinte, so etwas würde sie in Mainz auch gern machen. Ihr würden aber die Lehrkräfte fehlen. Ich wurde nach Mainz eingeladen.
Durften Sie annehmen?
Es war schwierig. Ich bin dann von Münster aus gefahren, mit dem Vorwand, die Sache in Leicester vorzubereiten.
Die AIERI-Tagung 1976.
Ja. Elisabeth Noelle-Neumann hat mich sehr zuvorkommend in ihrer Wohnung empfangen. Sie hatte Pasteten gebacken.
Sie hatte auch ein größeres Auto.
Der Chauffeur hatte viel von meinem Trabant gehört. Noelle-Neumann hat mir auch ihr kleines Institut gezeigt. Das war ganz eindrucksvoll, aber nicht vergleichbar mit Leipzig.
Das klingt nach einer guten Beziehung.
Ideologisch waren wir weit voneinander entfernt. Darüber haben wir aber überhaupt nicht gesprochen. Ihr ging es um die professionelle Ausbildung von Journalisten. Sie hat mir erzählt, dass sie unser Übungssystem unter Kollegen propagiert habe und dafür schwer kritisiert worden sei. Wussten Sie, dass sie mir 1978 in Warschau gegen die Polen geholfen hat?
Nein.
Die Tagung ging ja schon gut los. Dass wir uns freundlich begrüßten, löste Verwunderung aus. Sowohl in ihrer Delegation als auch in meiner. Ich musste dann ein Referat zur Kulturpolitik halten, gegen Hamid Mowlana. Ich war noch nicht bei der Hälfte, als mich der Vorsitzende aus Polen unterbrach und meinte, die Redezeit sei abgelaufen. Noelle-Neumann saß im Präsidium und hat das verhindert. Sie wurde ganz grundsätzlich. Professor Michaelis hat noch acht Minuten. Die Polen waren schon über Kreuz mit uns und mit der Sowjetunion.
Gab es noch weitere Begegnungen?
Danach hatten wir keinen Kontakt mehr. In der Wendezeit wollte sie dann ja, dass die Sektion abgewickelt wird. Das war wie ein Tick. Sie dachte wohl, dass die Leipziger Schuld seien an den Schwierigkeiten, die sie in Mainz mit ihren Studenten hatte (vgl. Noelle-Neumann 2006: 265-276). Ich kann mir das nicht vorstellen. Ganz im Gegenteil. Dusiska wollte, dass wir sie mit Samthandschuhen behandeln.
Gab es noch andere Kontakte zu westdeutschen Kollegen?
Aus Münster kam Josef Hackforth einmal nach Leipzig. Eine Art Gegenbesuch. Er war bei mir zu Hause und hat Lehrmaterial abgeholt.
Welche Position hatte die Abteilung für Stilistik der deutschen Sprache an Fakultät und Sektion?
Wir wurden schon für voll genommen. Das ist ein Fach, das wir brauchen. Hermann Budzislawski hat uns einmal mit den Farbenreibern im Mittelalter verglichen. Die Künstler machten damals ihre Farben nicht selbst. Erst dachten wir, er will uns verspotten, so ganz abwegig war das aber nicht. Die journalistische Ausbildung war wichtiger, aber ohne Farbe entsteht kein Bild.
Warum sind Sie bei den Farbenreibern geblieben?
Mir hat das Spaß gemacht. Wir hatten immer guten Kontakt zu den Studenten. Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals ernsthafte Differenzen gab. Ich wollte mich eigentlich um eine Stelle als Lektor bewerben. Ich hatte Familie, und das Gehalt als Assistent reichte nicht richtig. Josef Kurz war zum Beispiel als Lektor eingestellt worden. Budzislawski hat mir aber abgeraten. Der Lektor bleibe Lektor, ein Assistent aber könne Professor werden.
Wie kam der Dekan dazu, Ihnen solche persönlichen Ratschläge zu geben?
Er war ja mein Doktorvater. Mit ihm konnte ich auch über so etwas sprechen. Ich habe seinen Rat befolgt, und es hat funktioniert.
Würden Sie Hermann Budzislawski als Ihren akademischen Lehrer bezeichnen?
Das wäre zu viel gesagt, obwohl ich ihn als gestandenen Journalisten verehrt habe. Als Doktorvater hat er sich nicht allzu viel mit mir abgegeben. Vielleicht gab es mal einen Literaturtipp. Im Rigorosum war er dann aber ziemlich genau. Die Fakultät hatte angeregt, dass Seiteneinsteiger wie ich im Haus promovieren durften, mit einer Prüfung in allen journalistischen Fächern. Letztlich haben das aus der Stilistik-Abteilung nur Wolfgang Böttger und ich genutzt.
Und die anderen? Joachim Pötschke zum Beispiel oder Siegfried Krahl?
Die fanden den Dr. phil. besser. An der Journalistik-Fakultät gab es den Dr. rer. pol.
Wie sind Sie zu Ihrem Promotionsthema gekommen (vgl. Michaelis 1964)?
Das habe ich mir selbst gesucht. Budzislawski fand das gut.
Gibt es andere akademische Lehrer?
An der Fakultät nicht. Ich hatte guten Kontakt zu vielen, kann aber nicht sagen, dass sie mich direkt beeinflusst hätten.
Sie wurden dann sogar Prodekan.
Emil Dusiska hat mich gefragt, als wir einmal in der Mensa saßen. Ich hatte eine pädagogische Ausbildung und sollte für Studienangelegenheiten zuständig sein.
Was haben Sie geantwortet?
Ich war überrascht und erbat mir einen Tag Bedenkzeit. Ich war Seiteneinsteiger und aus der Stilistik, also ohne Hausmacht. Dusiska hat seine Wahl dann mit meiner Kaderakte begründet. Er hatte dort gesehen, dass ich einen Beruf aufgegeben habe, den ich bis zum Sarg hätte ausführen können, ohne mich verbiegen zu müssen. Wer in einer solchen Situation etwas völlig Neues mache, den könne er gebrauchen.
Wie lief die Zusammenarbeit?
Gut. Ich war ja fünfeinhalb Jahre auf dem Posten. Emil Dusiska war ein Hardliner, aber ohne Holzhammer. Er war eloquent und konnte aus dem Stegreif eine Rede halten. Darf ich eine Anekdote einwerfen?
Gern.
In Berlin hatte er ja nicht nur Freunde. Hin und wieder kamen Leute aus dem ZK oder von der Abteilung Agitation, um den Laden in Leipzig zu kontrollieren. Meist unangemeldet. Eines Tages stürzte Emil in mein Büro und wollte einen Stoß Papier. Weißes Papier.
Wozu das?
Er hatte für seine Vorlesung kein Manuskript. In Berlin galt jemand ohne Manuskript als schlecht vorbereitet. Er hat dann einfach den Packen auf das Pult gelegt und hin und wieder hingeschaut.
Wie hat er das auf den AIERI-Tagungen gemacht?
Er hat das klug verteilt. In Warschau: Ich auf Englisch, Willy Walther auf Russisch. Mit Fremdsprachen ist Dusiska nicht aufgefallen. Günter Heidorn zum Beispiel war ein Autodidakt. Er hatte nie richtig Englisch gelernt. So sprach er auch, aber die Leute haben ihn trotzdem verstanden.
Wie hat Ihnen der Text von Joachim Pötschke (1997) über die Leipziger Stilistik gefallen?
Als der Text erschien, gab es keine Stilistik-Lehrgruppe mehr und auch Wolfgang Böttger war seit mehreren Jahren invalidisiert. Wir empfanden das als stark geschönte Selbstdarstellung.
Hat Sie das gewundert?
Nein. Wir kannten ihn ja lange genug. In der großen Linie kann man ihm dabei durchaus folgen, aber im Detail war die Darstellung stellenweise unsachlich, besonders auch gegen seinen Nachfolger Böttger.
Wollen Sie diese Passagen heute korrigieren?
Nein. Das ist 18 Jahre her. Damals haben wir überlegt, ob wir dagegen polemisieren sollen, hielten das dann aber doch für überflüssig. Mit dem Gedanken: Lassen wir ihm seinen Spaß.
Wie haben Sie den Streit um das Lehrbuch der Stilistik für Journalisten erlebt (Pötschke 1997: 148-152)?
Hier bin ich ja nur bis Dezember 1985 Zeitzeuge. Danach war ich krank und wurde invalidisiert. Hauptproblem war, dass die Konzeption nicht ausdiskutiert war. Da hinein platzte die Forderung, der Wissenschaftsbereich Stilistik möge sich vorrangig mit aktuellen Problemen der „Sprache der Politik“ befassen.
Wer hat das gefordert?
Soweit ich mich erinnere, hat das Sektionsdirektor Fuchs aus einer zentralen Anleitung mitgebracht. Wahrscheinlich eine Chefredakteurskonferenz. Das hat er jedenfalls gesagt. So entstand zunächst ausdrücklich als Vorstufe des Lehrbuchs unsere Schrift zu dem Thema (vgl. Böttger 1985).
Und Pötschkes Einwand, Sprache der Politik könne nicht identisch sein mit der Sprache des Journalismus?
Das ist richtig. Aber das meinte er nicht allein. Wir alle in der Lehrgruppe waren dieser Meinung. Wir wollten eine kulturvolle, mitreißende Sprache und keine vorgestanzten Parolen. Von zentraler Stelle der Parteiführung hat uns da keiner hineingeredet.
Die Parteiführung?
Die Abteilung Agitation. Ich muss Albert Norden loben, Werner Lamberz und Hans Modrow. Von diesen dreien hatten wir volle Unterstützung bei unserer Kritik an der Presse. Norden hat uns sogar aufgefordert, das aufzuschreiben. Er hat das wortwörtlich in eine seiner Pressekonferenzen übernommen. Lamberz und Modrow haben uns angehört. Alle anderen waren völlig desinteressiert. Heinz Geggel zum Beispiel.
Haben Sie sich an der Sektion eher als Wissenschaftler gefühlt oder als Lehrer und Erzieher?
Hauptsächlich als Lehrer, der den Studenten hilft, sich auf ihren Beruf vorzubereiten. Als Wissenschaftler nur begrenzt. Wir haben die spezifischen Anforderungen des Journalismus an die Sprache untersucht und das aufgeschrieben. Das war schon Wissenschaft. Wir waren trotzdem froh, als der Fleischer erschien (vgl. Fleischer/Michel 1975). Da konnten wir das auswählen, was wir für wichtig hielten, und das den Studenten zum Selbststudium anbieten.
Sie haben sechs Dekane bzw. Direktoren erlebt. Wenn Sie die sechs vergleichen müssten: Wie würden Sie das machen?
Das ist schwierig, weil es sehr unterschiedliche Leute waren.
Vielleicht fangen wir einfach mit Wilhelm Eildermann an.
Das war ein ganz solider Parteipropagandist. Im politischen Gespräch ein angenehmer Mensch. Kein Holzhacker. Er war mir sympathisch. Budzislawski haben wir dann alle verehrt. Wir kannten ja seine Vergangenheit. Er war auch als Mensch sympathisch. Einmal war ich bei ihm in seiner Wohnung in Berlin. Da war er angenehm, aber schon zurückhaltend. Er hatte Angst vor dem Regierungskrankenhaus.
Dann kam Wolfgang Rödel.
Ich weiß nicht, ob er als Dekan allzu viel erreicht hat. Er war ja auch mein Institutsdirektor. Wir sind gut miteinander ausgekommen. Franz Knipping war auch sympathisch. Er war aber nur kurz da. Allzu viel ist mir da nicht hängengeblieben. Emil Dusiska war bedeutender, auch wenn er Schwächen hatte. Wenn er einmal jemanden auf dem Kieker hatte, dann ließ er sich kaum noch umstimmen.
Haben Sie ein Beispiel?
Am unangenehmsten war sein Umgang mit Budzislawski. Er hat den emeritierten Dekan 1969 nicht einmal zur Sektionsgründung eingeladen. Das hat nicht nur an der Sektion Befremden ausgelöst. Dusiska hat aber zwei große Verdienste.
Das Übungssystem.
Ja. Es war sein Glück, dass er solche Gestalter bekam wie Karl-Heinz Röhr oder Siegfried Schmidt. Dusiska hat Wert darauf gelegt, dass etwas Verwertbares gelehrt wurde, und zwar praktisch und theoretisch. Er hat die Abteilung Stilistik nie als Schreibschule gesehen. Der theoretische Hintergrund war ihm wichtig. Damit hat er unsere Auffassung gestärkt.
Und Verdienst Nummer zwei?
Er hat uns die westliche Welt geöffnet. Bei den Tagungen der AIERI ist zwar meist nicht viel rausgekommen, aber wir konnten Kontakte knüpfen. Ich war auch in Jugoslawien, in Belgrad und Ljubljana.
Fehlt noch Gerhard Fuchs.
Er ist Dusiska vor die Nase gesetzt worden und war mit allem überfordert. Mit der wissenschaftlichen Arbeit, mit der Leitung der Sektion. Dusiska ist ja nicht ohne Bitterkeit abgegangen.
1978 war er noch nicht 65.
Es war erkennbar, dass er durch üble Nachrede abgesägt werden sollte. Ich weiß nicht, von wem das ausging. Es kamen Leute aus Berlin, die Negatives über ihn hören wollten. Die habe ich rausgeschmissen. Das letzte Drama spielte sich dann in Warschau auf der Tagung ab. Dort wurde er abgesetzt. Bei der Feier zu seinem 65. im Friedrichstadtpalast hat er sich dann gerächt.
Wie das?
Mit einer Abschiedsrede, in der er das Motto einfließen ließ: ‚Hast du dich im Dienst zerrissen, wird dir noch ins Grab geschissen’. Lange Gesichter.
Sie sind auch vor der Zeit gegangen.
Ich war Herzpatient. Plötzlich hieß es, ich sei nächstes Jahr tot, wenn ich so weiter mache. Der Arzt hat mir vorgeschlagen, die Invalidisierung zu versuchen. Ich lag gerade wieder mal im Clinch mit Fuchs und fand das außerdem gut wegen meiner Familie.
Wenn Sie selbst als Gründungsdekan die Möglichkeit für einen Neuaufbau gehabt hätten: Was hätten Sie beibehalten?
Die ideologische Indoktrinierung natürlich nicht. Aber sonst? Die theoretischen Überlegungen von Hans Poerschke hielt ich für tragfähig (vgl. Poerschke 2015). Und vor allem die Kombination von Übungssystem und Theorie. Der Ausbildungsgang war nicht schlecht und hätte auch unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen ausgebaut werden können. Das Fach Stilistik gibt es heute ja nicht mehr. Das bedaure ich.
Immerhin lehrt Elisabeth Fiedler noch am Leipziger Institut.
Sie hat meine Hochachtung. Elisabeth Fiedler wirkt mit großem Engagement und gutem Zuspruch der Studenten im sprachlich-stilistischen Fach. Sie ist am Institut aber allein. Wenn sie in den Ruhestand geht, endet dieses Fach in Leipzig.
Gibt es Wissenschaftler, die für Sie eine Vorbildfunktion hatten oder haben?
Jürgen Kuczynski.
Was hat Ihnen an Kuczynski imponiert?
Schon der Gegenstand. Und dann seine Art, das zu vermitteln. Er hat ja noch bis ins hohe Alter geschrieben (vgl. Kuczynski 1983). Hans Mayer auf alle Fälle, auch in seiner Methode. Und Henrik Becker.
Wer ist das?
Ein Germanist, der zuletzt in Jena war. Er war mein Methodiklehrer in der Pädagogik. Ich glaube, noch als Lektor. Er hatte in der Nazizeit Lehrbücher für die deutsche Sprache herausgebracht (vgl. Becker 1941, 1944) und dann später auch in der DDR publiziert (vgl. Becker 1958). Das war eine der Grundlagen, als wir anfingen.
Zu welchen Kollegen hatten oder haben Sie einen besonders guten Draht?
Mit Wolfgang Böttger habe ich seit 1956 zusammengearbeitet. Daraus ist eine lebenslange Freundschaft geworden. Leider ist er im Januar gestorben. In der Trauerrede konnte ich seine Verdienste um die sprachlich-stilistische Ausbildung noch einmal würdigen, besonders auch kreatives und konstruktives Wirken als Leiter des Wissenschaftsbereichs bis 1989. Erst als tatsächlicher und dann auch als dazu berufener Leiter.
Und die anderen Kolleginnen und Kollegen?
Zu den meisten hatte und habe ich bis heute ausgemacht gute und auch freundschaftliche Kontakte, zumal ich ja viele bereits als Studenten erlebt und schätzen gelernt habe.
Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?
Nein. Ich würde mich nicht besonders loben wollen.
Dann andersherum: Gibt es etwas, das Sie heute anders machen würden?
Sicher. Ich bin ja mit Leib und Seele in die KPD eingetreten. Mit der Überzeugung, dass wir das jetzt ganz anders machen müssen. Wir sahen ja, was im Westen lief. Alte Nazis, die das Sagen hatten. Ich denke immer noch, dass die sozialistische Idee eine gute Idee war. Wir haben es nur falsch gemacht. Der Personenkult, der Druck von oben nach unten, die Gängelei. Kennen Sie diesen Aufsatz (Michaelis 1983)?
Nur aus Ihrer Literaturliste.
Ich will das nicht als Widerstand verstanden wissen. Ich habe hier über den jungen Marx geschrieben, über seinen Angriff gegen die preußische Zensurinstruktion in der Neuen Rheinischen Zeitung. Da war er 21. So alt wie die Studenten, die vor mir saßen. Der Text von Marx ist brillant und vernichtend. Das Echo auf meinen Aufsatz war ungewöhnlich stark. Ich hatte fast den Eindruck, ich bekomme Beifall von der falschen Seite. Das war letztlich eine Kritik aus den eigenen Reihen. Bei uns in der Sektion hat man das nicht so gemerkt, aber in den Redaktionen war der Druck schon groß.
Das erzählt auch Karl-Heinz Röhr.
Was in der Sektion stattfand, das kam nicht von außen. Das war selbstgemacht. Um ein an sich belangloses Beispiel zu nennen: Ich hatte einmal angeregt, dass es für die Übungen in jeder Gruppe genügend Exemplare vom Neuen Deutschland gab. Das war ja die journalistische Wirklichkeit, und wir wollten an aktuellen Beispielen diskutieren. Eine Weile ging das gut, aber dann hat Gerhard Fuchs mir das verboten. Bloß keinen Anlass für Kritik von oben schaffen.
Was soll eines Tages vom Journalistenausbilder und Stilistikdozenten Werner Michaelis bleiben, wenn Sie Einfluss darauf hätten, was bleibt?
Da sage ich ganz nüchtern, dass nichts bleibt. Was wir aufgeschrieben haben, endet im Orkus. Da kümmert sich keiner mehr drum. Werner Michaelis ist Geschichte. Ich sage das ohne Bitterkeit. Ich freue mich aber über das immer noch anhaltende Echo unserer Absolventen, die sich dankbar an ihre Stilistikausbildung erinnern.
Literaturangaben
- Henrik Becker: Sprachlehre. 2. Auflage. Leipzig: Philipp Reclam jr. 1941.
- Henrik Becker: Sprachgeschichte. Leipzig: Philipp Reclam jr. 1944.
- Henrik Becker: Öffentlich reden. Eine Anleitung für Redner und solche, die es werden wollen. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1958.
- Wolfgang Böttger (Leiter des Autorenkollektivs): Erfordernisse und Möglichkeiten des politischen Sprachgebrauchs im Journalismus. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1985.
- Wolfgang Fleischer/Georg Michel: Stilistik der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1975.
- Jürgen Kuczynski: Dialog mit meinem Urenkel. 19 Briefe und ein Tagebuch. Berlin: Aufbau 1983.
- Michael Meyen: IAMCR on the East-West Battlefield: A Study on the GDR’s Attempts to Use the Association for Diplomatic Purposes.In: International Journal of Communication Vol. 8 (2014), S. 2071-2089.
- Michael Meyen: The IAMCR Story: Communication and Media Research in a Global Perspective. In: Peter Simonson/David W. Park (Hrsg.): The International History of Communication Study. New York, London: Taylor & Francis 2016, S. 90-108.
- Werner Michaelis: Franz Mehring als Polemiker. Ein Beitrag zur journalistischen Meisterschaft. Dargestellt an ausgewählten literaturkritischen Arbeiten. Karl-Marx-Universität Leipzig: Fakultät für Journalistik 1964.
- Werner Michaelis: Ein Meister der Polemik. Die streitbare Sprache des jungen Publizisten Marx. In: Neue Deutsche Presse 37. Jg. (1983), Nr. 3, Beilage Theorie und Praxis.
- Elisabeth Noelle-Neumann: Die Erinnerungen. München: Herbig 2006.
- Hans Poerschke: Ich habe gesucht. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.
- Joachim Pötschke: Sprachkommunikation und Stilistik. Journalistischer Sprachgebrauch als Lehr- und Forschungsgegenstand an der Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig. In: Arnulf Kutsch/Horst Pöttker (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 139-160.
- Elise Riedel: Stilistik der deutschen Sprache. Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur 1959.
- Wladimir A. Ruban: Zu einigen Fragen der Sprache und der Stils publizistischer Werke. Leipzig: Institut für Publizistik und Zeitungswissenschaft 1954.
Weblink
- Werner Michaelis im Professorenkatalog der Universität Leipzig
Empfohlene Zitierweise
- Werner Michaelis: Journalismus braucht Sprache. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015. http://blexkom.halemverlag.de/werner-michaelis/ (Datum des Zugriffs).