Fritz Beckert: Der Mensch kommt in der Theorie zu kurz

Fritz Beckert war an der Sektion Journalistik nur eine Randfigur. Er hat hier ab 1975 Psychologie unterrichtet. Sein Lebensweg ist aber exemplarisch für die DDR-Professoren der ersten Stunde. Das Arbeiterkind Beckert hat sich sein Wissen als Autodidakt angeeignet und stieß dabei früh auf die Medienrezeptionsforschung. Michael Meyen hat ihn am 23. Juni in Chemnitz interviewt.


Stationen

Geboren am 5. April 1925 in Reichenhain. 1941 Abschluss der Mittelschule, Reichsarbeitsdienst. 1945 Lehrer und Schulleiter in Reichenhain. 1952 Lehrauftrag für Pädagogische Psychologie am Institut für Lehrerbildung in Chemnitz. 1954 Oberassistent am Pädagogischen Institut in Dresden. 1955 bis 1957 Aspirantur am Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut in Berlin. 1958 Promotion A, 1962 Promotion B (jeweils in Pädagogischer Psychologie, Universität Leipzig). 1965 Professor für Pädagogische Psychologie an der TH Karl-Marx-Stadt. 1965 bis 1970 Prorektor. 1972/73 Gastvorlesungen an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam. 1975 Wechsel an die Sektion Journalistik in Leipzig. 1990 Ruhestand. Verheiratet, zwei Kinder.

Publikationen

  • Untersuchungen über die Auffassung von Hörspielen durch Kinder und Jugendliche. Ein Beitrag zur Psychologie der Lehrmittel im Geschichtsunterricht. Leipzig: Karl-Marx-Universität 1958 (Dissertation).
  • Kinder am Bildschirm. Berlin: Volk und Wissen 1962.
  • Fernsehspiel-Erleben und Persönlichkeit. Beitrag zu einer psychologischen Grundlegung. Berlin: Filmwissenschaftliche Bibliothek 1967 (Promotion B).
  • Die Persönlichkeit als psychologisches Problemfeld im journalistischen Schaffen. Studienmaterial. Berlin: Betriebsakademie des Fernsehens der DDR 1979.
  • Psychologie der journalistischen Kommunikation. Zwei Lehrhefte. Leipzig: Sektion Journalistik 1985-87.
Könnten Sie zu Beginn etwas über Ihr Elternhaus erzählen, Ihre Kindheit, Ihre Jugend?
Fritz Beckert 2015 in Chemnitz (Foto: Michael Meyen)

Fritz Beckert 2015 in Chemnitz (Foto: Michael Meyen)

Mein Vater war Dreher bei der Firma Schubert & Salzer hier in Chemnitz. Dort war auch mein Großvater 65 Jahre beschäftigt. Meine Mutter musste dazuverdienen. Sie strickte Handschuhe, oft bis in die späten Abendstunden. Das Geräusch der Strickmaschine lag mir täglich in den Ohren. Komfort hatte die Wohnung nicht. Zwei Zimmer, kein Wasseranschluss, ein Plumpsklo auf halber Etage.

Ein sehr einfaches Dasein.

Ich kannte es nicht anders. Meine Schulfreunde lebten komfortabler. Einer hatte ein Klavier und spielte sonntags am offenen Fenster immer den Marsch Hoch Heidecksburg.

Waren Sie neidisch?

Nein. In der Zeit der Weltwirtschaftskrise war mein Vater arbeitslos. Er nahm mich oft mit, wenn er im Arbeitsamt Arbeitslosengeld abholte. 14 Reichsmark und 97 Pfennig pro Woche. Ich sah, wie die Männer Skat spielten. Ich erinnere mich auch, wie meine Eltern abends am Tisch saßen und rechneten.

Hatten Sie Geschwister?

Nein. Ich hatte ein paare Straßenfreunde. Gute Kumpels, aber keine enge Freundschaft. Eines Tages schenkten meine Eltern mir ein gebrauchtes Akkordeon.

Bekamen Sie Unterricht?

Nein. Ich habe probiert und geübt. Beim Arbeitsdienst und auch bei der Wehrmacht hat mir das später geholfen. Als eine Art Unterhaltungskünstler war ich von vielen unangenehmen Arbeiten freigestellt.

Sind Sie gern zur Schule gegangen?

Ja. Wenn man den Zeugnissen glaubt, war ich ein gehorsamer Schüler, um nicht brav zu sagen. Geliebt habe ich das Kopfrechnen. An ein Ereignis erinnere ich mich noch genau.

Erzählen Sie.

Das war im Februar oder März 1933. Da kamen zwei SA-Leute und holten einen Lehrer ab. Ein beliebter Lehrer. Ein Kommunist, hieß es. Wir Kinder haben uns gewundert. Geredet hat niemand. Auch zu Hause nicht. Einordnen konnte ich das nicht.

War Ihr Vater politisch aktiv?

Eigentlich nicht. Für die Nazis hatte er nichts übrig. Sein Herz schlug für die Armen. Er fühlte sich als Teil der Arbeiterklasse. Mein Vater war ein zuverlässiger, arbeitsamer Mann mit viel Sinn für die Familie. Aufgemuckt hat er nicht, auch nicht gegen offensichtliche Missstände. Er war nicht sehr begeistert, als es im dritten Schuljahr hieß, ich könne in die höhere Abteilung der Volksschule.

Was habe ich mir darunter vorzustellen?

Ein Zwischending zwischen Volksschule und Realgymnasium, wie man heute sagen würde. Ich habe die Aufnahmeprüfung bestanden und durfte dann eine grüne Schülermütze tragen. Ich war stolz.

Hat die neue Schule Geld gekostet?

Im Monat fünf Reichsmark. Ich habe das immer ins Rathaus gebracht. Zur Schule bin ich jeden Tag zwei Stunden gelaufen. Eine hin und eine zurück.

Erinnern Sie sich noch, wie Sie die politischen Veränderungen erlebt haben?

Der Unterricht hat sich nicht verändert, auch im Krieg nicht. Die Lehrer waren fachlich respektierte „alte Herren“. Beamte mit Pflichtbewusstsein. Sie gaben ihr Bestes, mieden aber politische Dispute. Wo Sie zu Gegenwartskunde verpflichtet waren, haben sie das spürbar widerwillig abgearbeitet. Über den Rückzug aus Russland oder über den Endsieg wurde nicht geredet. Wir haben trotzdem schon Ende der 1930er-Jahre gespürt, dass sich die Lage zuspitzt.

Woran machen Sie das fest?

An den Spannungen mit der Tschechoslowakei. Das Sudetenland. Neben dem städtischen Gaswerk wurden Flakbatterien aufgestellt. Unser Schulweg führte dort vorbei. Wir staunten und waren sogar ein wenig stolz, wie stark wir doch sind. Auch den Anschluss Österreichs haben wir nicht richtig gesehen. Die Leute sprechen deutsch, die Menschen jubeln. Was sollte daran schlecht sein? Die Ideologie hat auf uns gewirkt.

Was ist mit den Kriegsvorbereitungen, mit den Juden?

Ich sah immer öfter Uniformträger in Marschkolonnen, auch sonntags. SA-Leute. Menschen wurden verhaftet. Auf dem Schulweg kam ich mit einem Freund an einem Stürmer-Kasten vorbei. Auf den Fotos Menschen mit ungepflegtem Äußeren. Ich fand das widerlich, abscheulich. Aber von Konzentrationslagern wussten wir nichts. Darf ich eine kleine Episode aus der Schulzeit erzählen?

Gern, bitte.
Zweiter Teil des Lehrbriefs von Fritz Beckert

Zweiter Teil des Lehrbriefs von Fritz Beckert

Einmal haben übermütige Jungen einer Pestalozzi-Büste in der Eingangshalle eine SA-Mütze aufgesetzt. Das muss 1940 gewesen sein. Da war der Teufel los. Wer war das? Alle haben dichtgehalten. Da habe ich gemerkt, was Zusammenhalt bedeutet.

Was wäre passiert?

Vermutlich nichts. Das war ja ein Gag. An dieser Schule hatte ich auch Unterricht in Stenografie und Schreibmaschine, mit Prüfung bei der Industrie- und Handelskammer.

War Ihr Vater da schon eingezogen?

Er hat Zubehör für Junkers-Flugzeuge produziert. Dadurch konnte er bleiben. Ich sollte dort eigentlich auch lernen, aber es gab keine Lehrstellen. Ich bin in ein Arbeitsamt reingerutscht und musste unter anderem die Fremdarbeiter mitbetreuen. Das waren meist Russen. Wohlgefühlt habe ich mich nicht. Nach einem Jahr war ich Regierungsinspektor-Anwärter. Im Herbst 1942 kam die Einberufung zum Reichsarbeitsdienst nach Teplitz-Schönau, oben im Erzgebirge.

Was haben Sie dort gemacht?

Wir waren ungefähr 400 Mann und mussten lernen, wie man richtig mit Schaufel und Hacke umgeht. Warum, wusste keiner. Im Winter wurde ich krank und kam in die Krankenstube. Nebenan der Raum des Kommandeurs. Eines Tages warf der seinen Schreiber raus. Zu viele Tipp-Fehler.

Ihre Stunde.

Genau. Der Chef suchte jemanden, der Steno und Schreibmaschine kann, und kam ins Krankenrevier. Nun musste ich nicht mehr schaufeln. Dann kam der Marschbefehl nach Frankreich, im Frühjahr 1943. Quer durch Deutschland im Güterzug. Das war schön. Ich war ja nie rausgekommen aus Chemnitz. Die Mosel im Frühjahr, ein Erlebnis.

Was mussten Sie in Frankreich machen?

Wir wurden nördlich von Paris stationiert. Dort wurde ein Militär-Flughafen gebaut. Beckert war nicht dabei. Er war ja im Büro. Als ich einmal doch mithelfen musste, wurden wir bombardiert. Die Feldbahn entgleiste. Ich bin in ein Gebüsch gesprungen, habe mich dabei am Auge verletzt und kam zur OP nach Paris. Eigentlich hätte das Auge rausgenommen werden müssen, aber der Arzt sagte, auch ein kaputtes Auge ist immer noch ein natürliches Auge.

Wie lange waren Sie insgesamt in Frankreich?

Ein halbes Jahr. Ich wurde nach Chemnitz entlassen und einen Monat später kam die Einberufung zur Wehrmacht. Beim Appell zur Verabschiedung blieb Generaloberst Olbricht vor mir stehen und rief nach einem Arzt: „Der Mann hat Gelbsucht!“

Und: Hatte der Mann Gelbsucht?

Ja. Ich sollte sofort ins Lazarett, dort war aber alles voll. Man hat mich in einen Lazarettzug nach Prag gesteckt. Dort blieb ich den halben Winter und wurde zu einem Landesschützenbataillon entlassen. Eine Art Invalidenbataillon.

So vergeht der Krieg.

Es kam noch besser. Dort fragte mich jemand, ob ich in der HJ eine Führungsfunktion hatte. Wer ein bisschen intelligent war, der hatte eine. Ich wurde zu einem Lehrgang ins Schloss Seeburg bei Eisleben geschickt, um mich mit der vormilitärischen Ausbildung in einem Wehrertüchtigungslager bekannt zu machen. Ich war ja nicht einsatzfähig mit meinem Auge. Das Einsatzlager war dann in Lichtenstein bei Chemnitz.

Was hat man da gemacht?

Das war schön mit den Noch-Kindern. Wir haben ihnen Motorradfahren beigebracht, Kleinkaliberschießen und Laufen mit Karte und Kompass. Die Amerikaner haben das Lager zum Glück nicht getroffen, aber ich habe damals zum ersten Mal einen Toten gesehen. Einen Amerikaner, blutjung. Er hing mit seinem Fallschirm in den Bäumen. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis.

Mussten Sie gar nicht an die Front?

Nein. Als die Russen näher kamen, wurde das Lager aufgelöst, und ich bekam einen Marschbefehl nach Bad Schandau. Da war auch wieder ein HJ-Barackenlager. Lauter junge Leute, 15, 16 Jahre alt. Wir sollten eine Panzersperre bauen, aus Baumstämmen. Ich war da mit einem Gebirgsjäger aus Oberstdorf. Wir haben die Kinder nach Hause geschickt. Boxt euch durch. Hier wird es zu gefährlich.

Und Sie?

Wir sind auch abgehauen. Wir haben uns eine Schiene an die Arme gelegt und so getan, als seien wir verwundet. Rette sich, wer kann. Erst waren wir in Aussig, dann wollten wir nach Bayern. Nirgendwo ein Durchkommen. Einmal hat der Gebirgsjäger zwei Russen erzählt, wir seien Österreicher. Das hat mir die Kriegsgefangenschaft erspart. Am 8. Mai marschierte Beckert in Reichenhain ein. Eine Sensation. Ich war der erste Heimkehrer.

Ohne Entlassungsschein?

Ich hatte keinen. Woher auch. Ich habe einen Stempel im Soldbuch über meinen Lazarettaufenthalt gezeigt. Vor Stempeln hatten die Russen Respekt.

Wie ging es weiter?

Viele meiner Klassenkameraden haben die Koffer gepackt und ihr Glück im Westen gesucht. Das war nicht mein Ding. Dazu war ich zu sehr mit meiner Heimat verbunden. Es lag ja alles in Trümmern: materiell, moralisch, mental. Keine Perspektive, keine Ideale, kein Lebensmut. Ich war unfähig, die Vergangenheit zu begreifen, und auch ratlos, wie es weitergehen sollte.

Sie sind Lehrer geworden.

Ich wollte studieren, hatte aber nur ein Mittelschulzeugnis. Ich erinnerte mich an den Lehrer, der in Reichenhain verhaftet worden war. Er war jetzt Stadtrat. Dezernent für Volksbildung. Wir brauchen Lehrer, hat er gesagt. Hier in der Stadt. Schon am nächsten Tag war ich Laien-Lehrer. Ich stand vor einer achten Klasse. Prozentrechnung. Ein wilder Haufen, kaum zu bändigen. Nach einer saftigen Ohrfeige hatte ich Respekt.

Ein pädagogisches Talent.

Das glaube ich nicht. Ich dachte: Wenn du schon dazu verdammt bist, Schulmeister zu werden, dann ein guter, ein richtiger. Ich las Pestalozzi, Herbart, Diesterweg, bald auch Makarenko und die neue Sowjetpädagogik.

Sie waren schnell Schulleiter in Reichenhain.

Mit 20, ohne Ahnung von Pädagogik. Als Erstes musste ich Lehrer suchen. Wen kennst Du noch, der einigermaßen intelligent war? Einen Sportler, einen Sänger und einen, der mal Ingenieur werden wollte. Russisch wollte keiner machen. Also habe ich angefangen, Russisch zu lernen. Zum Glück kam bald eine junge Frau, die das Fach übernahm.

Gab es nebenbei irgendeine Art von Ausbildung?

Ach, Ausbildung. Einmal in der Woche hatten wir Unterricht, bei Uralt-Lehrern. Heute würde ich sagen: olle Kamellen. Dann gab es politische Vorträge von bewährten Antifaschisten. Beim Unterricht hat das nicht geholfen. Wir Jungen respektierten sie. Mehr nicht. Psychologie war mir wichtiger. Fast ein Hobby. Das wusste auch mein Schulrat. Er hat mich mehrfach zu Lehrgängen nach Dresden delegiert. Viele Referate, überholte theoretische Ansätze und wenig praxisbezogen. Aber ein Impuls, dem Thema treu zu bleiben.

Dann sind Sie ein klassischer Autodidakt.

Vielleicht. Ich war ja von 1945 bis 1952 Schulleiter. Ich wollte aber unbedingt studieren und bin wieder zu dem Stadtrat. Er wollte mich stattdessen als Schulrat in Marienberg einsetzen.

Aber Sie wollten nicht.

Nein. Ich wurde dann zum Institut für Lehrerbildung in Chemnitz geschickt und sollte Pädagogik unterrichten und Psychologie.

Wann sind Sie in die SED eingetreten?

Mit der Gründung. Da waren ja alle drin. Allein und im luftleeren Raum kann man nichts verändern. In Chemnitz nannte ich mich Dozent. Das hat mir Spaß gemacht. Aufgeschlossene junge Leute. Vorher hatte ich ja alle Altersstufen unterrichtet, von der ersten bis zur achten Klasse. Auch Geschichte. Den Kindern hat es gefallen, wenn ich über vergangene Zeiten erzählte.

Was heißt erzählen?

Die Germanen, die Römer. Das hatte mich selbst als Schüler beeindruckt. Meine Didaktik-Erfahrungen habe ich aufgeschrieben. Das wurde dann auch publiziert, in Fachzeitschriften in Berlin (vgl. Beckert 1954a, 1954b, 1955a, 1955b). Auch Lehrbriefe für die Ausbildung von Geschichtslehrern (vgl. Beckert 1957, Demantowsky 2000). Plötzlich hieß es, ich solle nach Dresden ans Pädagogische Institut und dort eventuell den Lehrstuhlleiter beerben.

Ohne jeden Studienabschluss.

Ganz so schnell ging es ja nicht. Ich wurde erst nach Berlin delegiert, ans Deutsche Pädagogische Zentralinstitut. Dann sollte ich promovieren. Mit Mittelschulabschluss. Ich bekam eine Aspirantur, für zwei Jahre.

Hatten Sie ein Thema?

Heimatgeschichte im Unterricht. Ich bin aber am Heimatbegriff hängengeblieben. Was war so kurz nach dem Krieg Heimat? Dann ist mein Betreuer Emil Hruschka plötzlich gestorben.

Also ein neues Thema.

Damals hat mich der Schulfunk interessiert. In Reichenhain hatten wir in jedem Klassenzimmer einen Lautsprecher in der neuen Schule. Ich habe empirisch ermittelt, was die Kinder bei solchen Hörspielen überhaupt mitbekommen. Alle haben immer so getan, als ob das Hören reicht.

Das erklärt das Promotionsthema (vgl. Beckert 1958).

Ich bin nach Halle gefahren zu Hans Hiebsch, dem Psychologen. Er hat gesagt: Machen Sie mal. Bei der Arbeit ist mir auch klar geworden, dass viele Hörspiele für Kinder nichts taugen. Die verstand kein Kind. Ich habe angefangen, selbst Hörspiele für Kinder zu schreiben. Bestimmt 15 Stück. Von der Aspirantur konnte man damals nicht wirklich leben. Ich habe mir Literatur besorgt: Wie schreibt man ein Drama? Bis hin zu den Griechen.

Wurde das gut bezahlt?
Sektions-Exkursion 1976 nach Saalfeld. Von links: Rüdiger Krone, Uwe Boldt, Georg Fehst, Wulf Skaun, Fred Vorwerk, Arnd Römhild, Marianne Kramp (Quelle: Privatarchiv Wulf Skaun).

Sektions-Exkursion 1976 nach Saalfeld. Von links: Rüdiger Krone, Uwe Boldt, Georg Fehst, Wulf Skaun, Fred Vorwerk, Arnd Römhild, Marianne Kramp (Quelle: Privatarchiv Wulf Skaun).

300 Mark pro Sendung. Im Ostseeurlaub ist die Familie baden gegangen und ich habe im Sand Hörspiele geschrieben. Als das Fernsehen kam, habe ich dort weitergemacht. Da hat doch niemand nachgedacht, was die Zuschauer kapieren (vgl. Beckert 1962). Das hat niemand empirisch untersucht. Ich bin mit zehn Oberschülern nach Adlershof ins Studio gefahren, habe ihnen drei Fernsehspiele vorgespielt und jeden einzeln interviewt.

Die Promotion B (vgl. Beckert 1967).

Ja. Das Buch habe ich dann bis nach Japan versandt. So etwas gab es damals sonst nicht. Das Rigorosum hätte ich beinahe verpasst, weil ich zu einem Termin in Polen war. In Zakopane hat es furchtbar geschneit und ich wäre fast nicht rechtzeitig zurückgekommen.

Nach Leipzig.

Ja. Stellen Sie sich das mal vor. 25 bis 30 Professoren der Philosophischen Fakultät und ich als Absolvent einer Mittelschule. Es war der 23. Dezember 1962. Die wollten alle nach Hause. Vorher musste ich noch eine Probevorlesung halten. Das Interesse war eher gering. Die hatten ja alle keine Ahnung von meinem Thema.

Wie sind Sie in Chemnitz stellvertretender Rektor geworden?

Das Pädagogische Institut wurde aufgelöst. In Chemnitz gab es die Hochschule für Maschinenbau. Der Rektor wollte daraus eine TH machen, in Konkurrenz zu Dresden. Dafür musste er die Ausbildungspalette erweitern. Also hat man 1962 begonnen, einen Teil des Pädagogischen Instituts dort zu integrieren. Mathematik, Physik, Polytechnik. Die Techniker wollten von der Lehrerbildung aber zunächst nichts wissen. 1965 wurde deshalb ein Prorektor für Lehrerbildung installiert (vgl. Luther 2003: 121-156).

Fritz Beckert.

Ja. Ich habe die ganze Vereinigung mitgemacht. Das war ein Kampf. Ich wurde dann erst Prorektor für Studienangelegenheiten und nach der Hochschulreform erster Prorektor. Ich hatte einen Dienstwagen. Nach fünf Jahren hatte ich genug von der Administration.

Warum das?

Ich bin morgens um halb acht aus dem Haus und war abends nicht vor um sieben zurück. Die Familie kam zu kurz. Ich bin dann in Ungnade gefallen, weil ich nicht mit der Stasi zusammenarbeiten wollte. Ich konnte zwar zurück in die wissenschaftliche Arbeit, aber die Drähte waren abgeschnitten. Mit einem Aussätzigen redet keiner. Eines Tages hat mich Emil Dusiska angerufen.

Woher kannten Sie ihn?

Meine Forschungsschwerpunkte waren ja Fernsehen und Medien. Ich bin damals mehrfach zum Prix Jeunesse nach München gefahren. Das wusste Dusiska. Er war auch Gutachter meiner Habilitation und in der Agitationskommission, bevor er nach Leipzig geschickt wurde (vgl. Meyen 2014).

Wie sah sein Angebot aus?
Lothar Werner Rathmann, Rektor der Universität Leipzig (links), und Emil Dusiska bei der Gründung der Sektion Journalistik (Quelle: Privatarchiv Karl-Heinz Röhr)

Lothar Werner Rathmann, Rektor der Universität Leipzig (links), und Emil Dusiska bei der Gründung der Sektion Journalistik (Quelle: Privatarchiv Karl-Heinz Röhr)

Dusiska sagte, ich solle in Leipzig ein Lehrgebiet aufbauen, das etwas mit Psychologie zu tun hat. Wie ich das mache, sei ihm egal. Ich bin hier in Chemnitz zum Rektor und zum Parteisekretär. Auf einmal war ich unabkömmlich. Das Prinzip hieß: Hier geht keiner weg. Keiner plaudert aus, was hier passiert.

Wie ging es weiter?

Dusiska hatte einen langen Arm nach Berlin, auch zur Abteilung Wissenschaft im ZK. Eines Tages kam ein Ukas vom Minister. Beckert geht nach Leipzig. Ich wusste davon nichts. Erst hat mit hier keiner etwas gesagt, und dann gab es keine Verabschiedung.

Und in Leipzig?

Ich habe erst mal sondiert, was es dort vorher gab. Das war nicht viel. Die Sektion hatte einen Vertrag mit dem Fernsehen. So konnte ich in Berlin Vorträge für die leitenden Mitarbeiter halten. Abteilungsleiter, Chefredakteure, Regisseure. Erst einmal im Monat und dann sogar alle 14 Tage. Schnitzler war dabei. Alles, was Rang und Namen hat. Unterrichtet habe ich auch an der DHfK, 20 Jahre lang. Seminare zur Sportpsychologie im Fernstudium.

Und an der Sektion?

Ich bin ja immer in Aufgaben gedrängt worden, für die ich gar nicht qualifiziert war. Ich habe das immer erst nachgeholt, meist im Selbststudium. Ich stand immer vor der Frage, ob ich das verantworten kann.

Wie war die Atmosphäre an der Sektion?

Ausgesprochen gut. Die Kollegen, mit denen ich zu tun hatte, waren seriöse, ernsthafte Männer und Frauen, die eine gute Ausbildung wollten. Wolfgang Rödel, Werner Michaelis, Wolfgang Böttger, Karl-Heinz Röhr. Ich kann da nichts Negatives sagen. Nun könnte man natürlich fragen, wie ich mit dem DDR-Journalismus zurande gekommen bin und wie ich mich in dieses System eingeordnet habe.

Sie waren mit dabei.
Friedensdemonstration von Leipziger Journalistikstudenten Anfang der 1980er-Jahre (Quelle: Privatarchiv Karl-Heinz Röhr)

Friedensdemonstration von Leipziger Journalistikstudenten Anfang der 1980er-Jahre (Quelle: Privatarchiv Karl-Heinz Röhr)

Man muss den Ursprung sehen. 1945. Alles ist kaputt, auch in den Köpfen. Meine Generation stand vor dem Nichts. Ausbrechen konnte man nicht. Nicht als Einzelner. Ich habe mit den Studenten oft darüber diskutiert. Wir haben uns in einem bestimmten Umfeld bewegt. In diesem Korridor waren wir frei. Wer an der Sektion gearbeitet hat, der wusste, dass es links und rechts Barrieren gibt. Jeder handelt in Raum und Zeit. Wir in Leipzig haben getan, was man konnte. Jetzt kommen wir zu dem Problem, das mich heute noch beschäftigt, aber unter neuen Bedingungen.

Ein wissenschaftliches Problem?

Ja. In der Theorie des Journalismus kommt mir der Mensch zu kurz. Kennen Sie das (Beckert 1986)?

Nein.

Wo ist der Berührungspunkt des Journalismus zum Menschen? Wozu braucht der Journalist sonst Psychologie? Er hat es überall mit Menschen zu tun, mit ihren Hoffnungen, ihren Ängsten. Beim Recherchieren, beim Schreiben über Menschen. Auch der Journalist ist ein Mensch. Ich könnte tausend Dinge nennen. Ich habe versucht, den Studenten klar zu machen, dass sie als Journalisten persönliche Verantwortung haben und dass ihnen das niemand abnehmen kann. Wissen Sie, was ich gemacht habe?

Nein.

Am Ende eines Zyklus hat sich jeder eine Zettel genommen und aufgeschrieben, was er von der Vorlesung gehalten hat. Mit Namen oder ohne. Ich garantiere Ihnen, dass das niemand außer mir liest. Kein Einziger hat gesagt, es sei Unfug gewesen. Es kam ja noch etwas dazu.

Der Mensch als Rezipient.

Ja. Mensch ist nicht gleich Mensch. Das beginnt schon bei den Lebensphasen. Der Journalist arbeitet ja auch für Kinder, die alles noch ganz anders verarbeiten. Jeder beurteilt das, was er in den Medien findet, vor dem Hintergrund seiner Lebenserfahrungen. Das sieht man ja an Pegida. Die Menschen werden auch heute nicht ernst genommen. Aus all diesen Gründen hat die Psychologie ein Daseinsrecht in der journalistischen Ausbildung.

Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit der Abteilung Agitation im ZK erlebt?

Mir hat niemand hineingeredet. Auch die Leitung der Sektion hat mich nie eingeengt. Außer dass ich nicht zu Kollegen in den Westen fahren durfte (zeigt eine Einladung zu einer Vorlesung von 1977, geschrieben von Guido Frei, damals Direktor des Schweizer Fernsehens). Nach der Wende hat mich Frei privat eingeladen. Dieses Buch kennen Sie (zeigt Kinder am Bildschirm, Beckert 1962)?

Ja.

Da sollte ich auch etwas über das Westfernsehen schreiben. Ich habe gesagt, das mache ich nicht. Wissen Sie, was da passiert ist?

Nein.

Sie haben ein Stück von Schnitzler aufgenommen. Sonst wäre das nicht gedruckt worden.

Welche Position hatte die Sektion Journalistik im Mediensystem der DDR?

Sie war nicht die Speerspitze, die die Schwächen der journalistischen Praxis gewissermaßen von hinten aufrollt. Nüchtern betrachtet konnte es nur darum gehen, die künftigen Journalisten mit den Kenntnissen und Fähigkeiten auszustatten, die der Alltag unter den gegebenen politisch-ideologischen Bedingungen erfordert hat. Das war schon viel.

Und was konnte die Psychologie dazu beitragen?

Zwei Dinge. Zum einen Denkhilfen liefern für die journalistische Theorie. Der einzelne Journalist trat in diesem Theoriesystem ja kaum in Erscheinung. Und dann wollte ich die schicksalhafte Verquickung des Menschen in seiner Lebenswirklichkeit für den Journalisten erkennbar machen und den Journalisten selbst als „auch-psychologisches“ Wesen herausheben. Dazu gehörten immer Fallbeispiele aus dem wirklichen Leben. Das ist bei den Zuhörern gut angekommen.

Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

Ach Stolz. Vielleicht, dass ich mich geweigert habe, als innoffizieller Mitarbeiter für die Stasi zu arbeiten. Ich bin zufrieden mit dem, was ich gemacht habe.

Literaturangaben

  • Fritz Beckert: Einige Fragen der didaktischen Durchdringung der Lehrererzählung im Geschichtsunterricht der Grundschule. In: pädagogik 9. Jg. (1954a), S. 420-429.
  • Fritz Beckert: Jeder Lehrer trägt eine persönliche Verantwortung für die Erfüllung der Lehrpläne. In: pädagogik 9. Jg. (1954b), S. 553-560.
  • Fritz Beckert: Methodische Hinweise zur Erarbeitung und Festigung historischer Daten im Geschichtsunterricht der Grundschule. In: Geschichte in der Schule 8. Jg. (1955a), S. 291-296.
  • Fritz Beckert: Zur Frage der patriotischen Erziehung im Geschichtsunterricht der Grundschule. In: Geschichte in der Schule 8. Jg. (1955b), S. 525-540.
  • Fritz Beckert: Einige Probleme des Bildungs- und Erziehungsprozesses im Geschichtsunterricht der Grund- und Mittelschule. In: Hubert Mohr/Bernhard Stohr (Hrsg.): Beiträge zur Methodik des Geschichtsunterrichts (= Lehrbriefe für das Fernstudium der Mittelstufenlehrer). Berlin 1957, S. 22-57.
  • Fritz Beckert: Untersuchungen über die Auffassung von Hörspielen durch Kinder und Jugendliche. Ein Beitrag zur Psychologie der Lehrmittel im Geschichtsunterricht. Leipzig: Karl-Marx-Universität 1958.
  • Fritz Beckert: Kinder am Bildschirm. Berlin: Volk und Wissen 1962.
  • Fritz Beckert: Fernsehspiel-Erleben und Persönlichkeit. Beitrag zu einer psychologischen Grundlegung. Berlin: Filmwissenschaftliche Bibliothek 1967.
  • Fritz Beckert: Methodologische Probleme der empirischen und theoretischen Erforschung journalistischer Methoden und ihrer kommunikationspsychologischen Fundierung. Manuskript. Leipzig: Sektion Journalistik 1986.
  • Marco Demantowsky: Geschichtspropaganda und Aktivistenbewegung in der SBZ und frühen DDR. Eine Fallstudie. Münster: Lit 2000.
  • Stephan Luther: Von der Kgl. Gewerbeschule zur Technischen Universität. Die Entwicklung der höheren technischen Bildung in Chemnitz 1836-2003. Chemnitz: Eigenverlag 2003.
  • Michael Meyen: IAMCR on the East-West Battlefield: A Study on the GDR’s Attempts to Use the Association for Diplomatic Purposes. In: International Journal of Communication Vol. 8 (2014), S. 2071-2089.

Weblinks

Empfohlene Zitierweise

  • Fritz Beckert: Der Mensch kommt in der Journalismustheorie zu kurz. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015. http://blexkom.halemverlag.de/fritz-beckert/ (Datum des Zugriffs).