Heinz Halbach: Wir hatten Narrenfreiheit

Dieses Interview wurde am 15. Juni 2009 von Jan Holstein und Nils Decken geführt, am 17. September 2013 von Heinz Halbach autorisiert und für die Veröffentlichung von Michael Meyen behutsam gekürzt sowie redaktionell bearbeitet.


Stationen

Geboren am 5. März 1930 in Breslau. Vater Bauingenieur. 1950 Abitur in Oschatz. Hauptamtlicher FDJ-Funktionär. 1951 Studium der Publizistik in Leipzig. 1954 Diplomjournalist und wissenschaftlicher Assistent. 1965 Promotion, 1977 Habilitation. 1977 Professor für Theorie und Methodik des sozialistischen Fachjournalismus, 1990 Leiter des Lehrstuhls für internationale und nationale Medienpolitik. 1992 Vorruhestand. Gestorben am 4. Dezember 2014 in Leipzig.

Publikationen

  • Die Entwicklung der Presse der Vertriebenenverbände in der BRD. KMU Leipzig: Fakultät für Journalistik 1965 (Dissertation).
  • Zur Spezifik des sozialistischen Journalismus: Fragen, Antworten, Überlegungen. KMU Leipzig: Sektion Journalistik 1979 (Habilitation).
Könnten Sie zu Beginn etwas zu Ihrer Person sagen, zu Ihrer Herkunft, zu Ihrem Bildungsweg?

Ich stamme aus einer typischen deutschen Beamtenfamilie. Mein Vater war Bauingenieur und in den 1930er-Jahren zum Reichsarbeitsdienst gekommen. Ein Spezialist für Holzbau.

War er im Krieg?

Heinz Halbach. Quelle: DJV Sachsen

Nein. Als Dienstverpflichteter musste er nicht. Ich habe ihn trotzdem selten gesehen, weil er ständig irgendwo im Einsatz war. Ich habe mich damals für alle Dienstgrade interessiert und kannte alle Panzer und Flugzeugtypen. Auch die der Feindmächte. Ab 1941 wohnten wir in Prag. Mein Vater war dorthin versetzt worden. Prag lag lange außerhalb der Reichweite alliierter Bomber. Die drei Angriffe zum Ende des Krieges haben wir nicht mitbekommen.

Sind Sie in Prag zur Schule gegangen?

Ich habe dort die deutsche Oberschule besucht und wurde 1945 als Hitlerjunge in den Volkssturm verpflichtet, um Prag zu verteidigen. Dazu ist es dann nicht mehr gekommen. Anfang Mai hat unser Kommandeur uns nach Hause geschickt. Vorher sind wir in Prag Streife gelaufen.

Viele Deutsche wurden dann in Tschechien interniert.

Wir flogen aus der Wohnung und sollten an die Amerikaner in Richtung Bayern ausgeliefert werden. Die haben uns an der Demarkationslinie wegen Überfüllung nicht genommen. Wir liefen über Umwege zurück nach Prag, stets verprügelt von Tschechen und dürftig ernährt. Jeden Tag starben Deutsche an Hunger und Krankheiten. In einigen Filmen kann man das sehen.

Waren Sie in Kriegsgefangenschaft?

Bis Sommer 1946, ja. Meine Mutter wurde in der Kleinen Festung Theresienstadt festgehalten und ist dort im März 1946 gestorben. Meinen Vater und meinen jüngeren Bruder habe ich erst zwei Jahre später wiedergefunden. So etwas stößt einen mit der Nase auf die Politik. Auf Widersprüche, Kuriositäten, Witze der Weltgeschichte.

Wie ging es für Sie weiter?

Im Sommer 1946 kam ich in einen Transport nach Mecklenburg und war dort Landarbeiter bei einem Großbauern im Kreis Malchin. Ab 1947 besuchte ich die Oberschule in Oschatz. Ich hatte keinerlei Zeugnisse, welche bewiesen hätten, dass ich schon mal fünf Jahre lang die Oberschule besucht hatte. Jedenfalls stellte meine Lateinlehrerin fest, dass ich gut war. Wer 1947 Latein konnte, der musste schon mal auf der Oberschule gewesen sein. Ich habe dann 1950 in Oschatz Abitur gemacht.

Waren Sie damals schon politisch aktiv?

Ich war Mitglied der Landjugendkommission der FDJ und habe mich um das Schicksal der jungen Landarbeiter gekümmert. Ich war selber Landarbeiter und weiß, wie dreckig es einem da geht, vor allem nach dem Krieg, wo die Chefs dachten, sie können mit den jungen Leuten machen, was sie wollen. In dieser Zeit ist das Bedürfnis nach Gerechtigkeit in mir gewachsen. Damals habe ich mich manchmal mehr mit den Großbauern rumgeschlagen, als die Schule zu besuchen.

Und nach dem Abitur?

Ich wurde hauptamtlich übernommen und war stellvertretender Kreisvorsitzender der FDJ im Kreis Oschatz.

Wissen Sie noch, wie Sie zum Studium der Publizistik in Leipzig kamen?

Ich habe mich beworben. Damals gab es noch kein Delegierungssystem. Ich wurde eingeladen. Die Publizisten hatten schon das Recht, eine Aufnahmeprüfung zu machen, verliehen vom Staatssekretär für Hochschulwesen. Wie in den Kunststudienrichtungen. Man musste Talent nachweisen, genauso wie Architekten oder Musiker.

Keine politische Prüfung?

Man sollte schon politisch interessiert sein, aber auch die Fähigkeit haben, als Journalist zu arbeiten. Wer dreimal von der Redaktion zum Bürgermeister geschickt wird und jedes Mal über die Sekretärin nicht hinauskommt, der ist ungeeignet.

Welche Erinnerungen haben Sie an Ihr Studium?

Es war der erste Lehrgang. Der lief nur drei Jahre. Die Pressekonferenz der SED hatte gefordert, möglichst schnell Nachwuchs auszubilden. Das erste Jahr war ich Student.

Und dann?

Ab 1. September 1952 Hilfsassistent. Das heißt: Seminarleiter im Fach Theorie und Praxis der Pressearbeit. Nicht weil ich viel Presseerfahrung hatte, sondern weil ich aus der politischen Praxis kam. Das konnten in meinem Jahrgang die wenigsten vorweisen. Die meisten Kommilitonen kamen frisch von der Oberschule.

Und die Professoren?

Wilhelm Eildermann. Quelle: UAL, FS N 06591

Am Anfang hatten wir nur drei. Eildermann, Bruhn und Ruban, der Geschichte der sowjetischen Presse gelehrt hat. Eigentlich waren das keine akademisch ausgebildeten Lehrer. Auch Budzislawski später nicht, der einen Doktortitel hatte. Von systematischer Forschungsarbeit hatten alle keine Ahnung. Sie hatten Lebenserfahrung und waren politisch aktiv gewesen. Mehr nicht. Deshalb pickten sie aus dem Kreis der Studenten Leute heraus, von denen sie meinten, das könnten vielleicht mal Wissenschaftler werden. Alle Seminare wurden damals von Hilfsassistenten wie mir geleitet. Es gab einfach nicht so viele Assistenten.

Wie haben Sie die Gründung der Fakultät 1954 erlebt?

Mit Protest. Ich wollte nicht dortbleiben. Ich hatte zwei Jahre lang jede Woche sechs Stunden Seminar. Als Student. Ich musste die journalistischen Übungsarbeiten auswerten und besprechen. Studieren konnte ich erst nach Mitternacht. Deshalb wollte ich endlich da raus und etwas Vernünftiges machen.

Daraus wurde offenbar nichts.

Leipziger Journalistikstudenten, 24. Mai 1951. Foto: Illner. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-10739-0006

Nein. Im Juli 1954 lud Wilhelm Eildermann sieben, acht Leute aus unserem Studienjahr ein und sagte: Ihr arbeitet hier ab dem 1. September als Assistenten. Ich meldete mich sofort und erwiderte: Nein, ich bin dagegen. Ich fühle mich nicht geeignet. Eildermann sagte: Naja, aber die Abteilung Agitation des ZK hat euch bereits bestätigt. So war das damals.

Hat vorher niemand mit Ihnen gesprochen?

Das begann erst später. Später kamen Kommissionen, die mit jedem Absolventen geredet haben. 1954 wurde überhaupt nicht gefragt. Du wirst da eingesetzt, Schluss. So fing ich als Assistent im Bereich Theorie und Praxis an, gleich im ersten Jahr mit Lehrauftrag. Später habe ich auch Pressegeschichte und Auslandspresse gelehrt. Ich musste eine Vorlesungsreihe über die Presse der anderen sozialistischen Staaten ausarbeiten. Das gab es bis dahin noch nicht. Im dritten Jahr wurde ich Leiter der Abteilung Spezialgebiete der Presse. Innenpolitik, Außenpolitik, Kulturpolitik, Wirtschaftspolitik.

Klingt ziemlich bewegt.

Ich hatte fast jedes Jahr eine neue Funktion. Zwischendurch habe ich das Fernstudium geleitet, umorganisiert und vergrößert. Im Fernstudium wurden die Redakteure erfasst, die leitende Funktionen hatten, aber keine journalistische Ausbildung. Die wurden verpflichtet, das Fernstudium bei uns zu machen. Sie wurden auch nicht gefragt, sie wurden verdonnert.

Haben Sie nebenbei als Journalist gearbeitet?

Ja. Ich wurde schon während meiner Studienzeit ausgeliehen. Während die anderen im ersten Jahr ein Druckereipraktikum machten, wurde ich in der Presse eingesetzt. Bei der LVZ, ein Vierteljahr als Leiter der Politischen Abteilung.

Gleich als Abteilungsleiter.

Das war Zufall. Der eine Redakteur war krank und der andere musste auf die Parteischule. Also musste der Praktikant das machen. Im zweiten Studienjahr, wo ein Redaktionspraktikum vorgesehen war, kam ich zum ND. Den 17. Juni 1953 habe ich in der Redaktion des Zentralorgans erlebt. Ich hatte so zwar ein klein wenig mehr journalistische Erfahrung als die anderen, aber das war nicht viel mehr als eine Nasenlänge Vorsprung.

Und als Assistent?

Auch da wurde ich oft ausgeliehen. Ich war wieder bei der LVZ, bei der Abendzeitung und beim Neuen Weg. Außerdem war ich drei Monate in der Westabteilung des ZK, unter Chefredakteur Herbert Häber, der später Politbüromitglied wurde. Ich war dort für das Ressort Skandale zuständig bei der Neuen Bildzeitung, einem Wochenblatt für die Massenagitation in der BRD.

Wir haben in Ihrem Lebenslauf den Begriff Journalistenbrigaden gefunden. Was verbirgt sich dahinter?

Damals ging es um die Kollektivierung der Landwirtschaft. Es wurden Dorfzeitungen gegründet. Weil es nicht genügend Personal gab, wurden zweimal Studenten der Fakultät für ein halbes Jahr als Dorfzeitungsredakteure eingesetzt. Ich hatte mich um die Brigaden im Nordosten von Mecklenburg zu kümmern. Ich war täglich mit dem Fahrrad unterwegs. Unterkünfte besorgen, mit den Leuten von den Maschinen-Traktoren-Stationen reden. Nicht jeder hat verstanden, warum da plötzlich Studenten waren und eine Zeitung machten.

Können Sie uns etwas über Hermann Budzislawski erzählen?

Er war mein Doktorvater. Das Erste, was ich von ihm hörte, waren seine Kommentare im Rundfunk. Da war ich noch Schüler in Oschatz. Ich hörte seine geschliffene Redeweise. Aber vor allen Dingen imponierten mir die Argumente. Das las man so woanders nicht. Etwas völlig Eigenes.

Und an der Universität?

Als ich hörte, dass er bei den Publizisten unterrichtet, habe ich mich gefreut, bei ihm studieren zu dürfen. Was ich nicht wusste: Er war damals in die Ecke gestellt worden (vgl. Schemmert/Siemens 2013).

Später waren Sie dann Budzislawskis Assistent.

Jede Funktion, die ich bekam, oder jeder neue Auftrag: Das kam immer von ihm.

Würden Sie ihn als Mentor bezeichnen?

Hermann Budzislawski. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe Karl-Heinz Röhr)

Ja. Wobei das dann zum Schluss ein zweiseitiges Verhältnis war. Er war ein alter linker Sozialdemokrat, hatte reiche politische Erfahrung, kannte Leute wie Thomas Mann oder Brecht persönlich. Er zog ja später auch in das Haus von Brecht in Buckow ein. Und man konnte von ihm eine Menge lernen. Auch Sachen, die nicht in der Zeitung standen und in den Lehrbüchern. Wie man nun in dieser DDR aber Zeitung macht, wusste er trotzdem nicht so genau.

Das konnte er doch sehen.

Aber er schüttelte oftmals den Kopf, mit Recht. Ich gehörte zu denen, die die Praxis der Presse gegenüber Budzislawski verteidigt haben. Seine Gegenargumente zwangen mich, ein bisschen tiefer nachzudenken. Das war immer gut.

Wie war sein Verhältnis zu Wieland Herzfelde?

Sie kannten sich aus den USA und wurden gleichzeitig hier an der Universität Professor. Und dann verstanden sie sich nicht mehr. Ich wurde von beiden ins Vertrauen gezogen. Damals verstand ich wirklich die Welt nicht mehr. Diese berühmten Professoren, berühmte Antifaschisten, beide Juden. Und bekriegen sich. Ich habe versucht zu schlichten, was mir aber nicht gelungen ist. Mit Basil Spiru war das ähnlich. Sie bekamen sich immer wieder in die Haare, die drei Alten.

Wie praxisnah war eigentlich die Ausbildung in Leipzig?

Die war völlig entgegengesetzt zum deutschen Universitäts-Prinzip. Wir haben von vornherein das amerikanische Prinzip angewendet. Wir kannten alle Studienpläne ab 1916. Vorher war es in Deutschland üblich, über das Ethos des Journalismus zu reden oder über seine Geschichte. Aber wie man Nachrichten schreibt oder wie man eine Seite gestaltet, das kam überhaupt nicht vor. Die Amerikaner machten das genau umgekehrt. Wie man aus schlechten Dingen gute Nachrichten macht: Das wurde dort trainiert.

Und das haben Sie in Leipzig gemacht?

Wir hatten eine Mischung. Es ging nicht allein darum, wozu man etwas schreiben soll, sondern auch um das Wie. Jeder Student musste fast jede Woche irgendeine journalistische Arbeit produzieren. Das blieb so bis zum Ende der DDR.

Viele DDR-Medienprodukte sind nicht gerade journalistische Meisterwerke.

Wir hatten mitunter andere Vorstellungen als die Abteilung Agitation des ZK. Bei uns wurde Wert darauf gelegt, etwas Les- oder Hörbares zu gestalten und damit auch anzukommen. Darf ich ein Beispiel erzählen?

Bitte.

Anfang der 1980er-Jahre hatten wir vom ZK den Auftrag, die Bezirkszeitungen der SED zu analysieren. Wird die Politik der Parteiführung wirksam dargestellt. Wir haben in Spaltenzentimetern gemessen. Themen, Fragen, Antworten auf Probleme der Bevölkerung.

Und?

Wir haben nachgewiesen, dass viele Themenbereiche ausgespart wurden. Die Schere zwischen dem, was die Leute interessierte, und dem, was in der Zeitung stand, wurde immer größer. Wir haben das sofort in einem Lehrmaterial gedruckt und an das ZK geschickt.

Mit welchem Ergebnis?

Verteidigung der Dissertation am 16. Juli 1976. Wulf Skaun steht, Wolfgang Tiedke sitzt (Quelle: Privatarchiv Wulf Skaun).

Es wurde uns verboten, das zu benutzen. Die Studie wurde VS-Material. Verschlusssache (vgl. Tiedke 2011, Skaun 2015). In Vorlesungen und Seminaren haben wir es dennoch verwendet. 1989/90 war ich dann Hauptgutachter im Ermittlungsverfahren gegen Joachim Herrmann. Die Staatsanwälte stellten fest, dass unsere Materialien viel schärfere Kritik an der Parteiführung enthielten als das, was damals von den Bürgerrechtlern zu Pressefragen gekommen war.

Und vorher? Gab es Sanktionen vom ZK?

Nein. Davon wurde nicht mehr geredet und wir wurden auch nicht belangt, aber wir bekamen nie wieder einen solchen Auftrag. Im Gegenteil. Wir wurden angewiesen, bestimmte Presseorgane nicht mehr für Diplomarbeiten und Dissertationen zu verwenden.

Zum Beispiel?

Das Neue Deutschland. Wir sollten Journalisten ausbilden, aber nicht die Pressepolitik beurteilen.

Hat die Abteilung Agitation auch sonst die Lehrinhalte abgesegnet?

Ja und nein. Im Prinzip mussten alle Lehrpläne vom Minister für Hoch- und Fachschulwesen genehmigt werden. Das geschah in allen Fachrichtungen, außer bei uns, weil es im Ministerium für den Bereich Journalismus keine Abteilung gab. Wir hingen an den Juristen dran. Der Minister kümmerte sich im Grunde genommen überhaupt nicht um uns. Der wusste ja, die unterstehen direkt dem ZK. Was soll er sich damit noch rumplagen?

Also haben Sie dort gar nichts vorgelegt?

Doch, doch. So alle fünf Jahre die geänderten Lehrpläne. Dass wir diese Pläne jedes Jahr geändert haben, das haben wir dem Minister nie gesagt.

Und dem ZK?

Eigentlich auch nicht. Dort ging es nur um die Gewichtungen. Die Abteilung Agitation interessierte sich nicht für die Details. Die wollten nur, dass wir bestimmte Schwerpunkte berücksichtigen. In den 1950ern gab es zum Beispiel sehr viel Pressegeschichte. Später sagte das ZK: Geht mal weg von der Geschichte und kommt in die Gegenwart. Arbeitet mit den Redaktionen zusammen.

Also eher die große Linie.

Genau. Das ZK hat sich nicht darum gekümmert, wie viele Stunden wir für welches Fach benötigen. Das konnten wir alleine machen. Das war eine glückliche Situation. Wir hatten praktisch Narrenfreiheit, bis ganz zum Schluss.

Wie war die Stimmung an der Sektion in den 1980er-Jahren?

Friedensdemonstration von Leipziger Journalistikstudenten Anfang der 1980er-Jahre (Quelle: Privatarchiv Karl-Heinz Röhr)

Die Studenten und 90 Prozent der Lehrkräfte waren auf der Linie Gorbatschows. Vielleicht kritisieren mich die anderen Lehrkräfte dafür. Vielleicht waren es nur 80 Prozent. Die Studenten haben sich jedenfalls nicht den Mund verbieten lassen. Bei uns ging es nicht einhundertfünfzigprozentig zu. Man konnte sagen, was man wollte. Jeder wusste, dass das sowieso nicht gedruckt wird.

Hatten Sie keine Angst vorm Anschwärzen?

Wer sollte uns anschwärzen? Der Rektor kümmerte sich inhaltlich nicht um die Journalisten und die SED-Kreisleitung wusste, dass wir direkt dem ZK unterstellt sind. Warum sollten die sich mit uns abplagen?

Und die Staatssicherheit?

Das kann ich nicht genau beantworten. Ich habe nach der Wende mit Erstaunen eine Namensliste gesehen. Dort standen auch zwei Studenten, die besonders aufsässig waren. Bei dem einen war sogar mal ein Exmatrikulationsantrag gestellt worden.

Und sonst?

Sonst war das ganz offiziell. Die kamen und haben sich für die Studenten interessiert. Die hatten in jedem Jahrgang ungefähr drei Studenten, die sie zu uns delegiert hatten, und wollten wissen, wie die sich machen. Wer sonst berichtet hat, kann ich nicht sagen. Kurios ist nur, dass nie etwas passiert ist.

Wie lief die Zusammenarbeit mit dem ZK?

Heinrich Bruhn (links) und Georg Förster, von 1963 bis 1989 in der Abteilung Agitation des ZK der SED für die Journalistenausbildung in Leipzig zuständig. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe Karl-Heinz Röhr).

Es gab mündliche Anweisungen, überbracht von einem Instrukteur. Der hat dem Sektionsdirektor oder dem Rat der Sektion erläutert, dass das empfohlen wird und jenes nicht zu machen ist. Schriftliche Anweisungen gab es nicht. Soll ich wieder ein Beispiel erzählen?

Ja, bitte.

Die Auflagenzahlen waren eigentlich Verschlusssache. Ich habe ein Lehrmaterial herausgegeben, wo das alles exakt angegeben war. Das war eine mündliche Abmachung mit Werner Lamberz. Das stand nirgends. Es ist aber auch nie jemand gekommen und hat gesagt: Bist Du verrückt, VS-Sachen öffentlich bekanntzugeben?

Auf welchen Gebieten haben Sie sonst noch geforscht?

Hauptsächlich zum System der journalistischen Medien der DDR. Ich war wissenschaftlicher Berater des Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR. Für Rundfunk und Fernsehen war ich nicht zuständig. Das habe ich in der Lehre nur mit erwähnt. Zwischendurch habe ich mich einige Jahre mit dem Journalismus der anderen sozialistischen Staaten befasst, außer mit der Sowjetunion. Da hatten wir einen eigenen Professor, Basil Spiru.

Können Sie Russisch?

Nein. Die Wissenschaftler, die ab 1990 hier das Ruder übernahmen, haben sich immer gewundert, dass so etwas überhaupt möglich war. Ich hatte in der Schule acht Jahre Englisch, fünf Jahre Latein und drei Jahre Französisch. In der Studienzeit bin ich über einen halbjährigen Anfängerkurs für Russisch nicht hinausgekommen. Einige Kollegen haben Zusatzstudien in der Sowjetunion gemacht oder sowjetische Lehrbücher ausgewertet, übersetzt, auch in der Lehre verwendet. Da konnte ich überhaupt nicht mitreden.

Wie haben Sie sich dann mit den Kollegen aus dem Ausland verständigt?

Auf Deutsch. Das war überhaupt eine kuriose Sache. Die Dekane und Direktoren aller sozialistischer Staaten trafen sich in bestimmten Abständen, mindestens einmal im Jahr. Die meisten Dinge von uns wurden von den anderen übernommen. Sogar Prüfungsfragen und Diplomarbeitsthemen.

Waren Sie bei diesen Treffen dabei?

Einmal in Moskau, mit Emil Dusiska. Die Moskauer Kollegen haben sich geärgert, dass die anderen sich nach Leipzig gerichtet haben und nicht nach Moskau.

Woran lag das?

An der Entwicklung von Presse und Journalismus. In Russland war es nie zu der Arbeıtsteılung zwıschen Literatur und Journalismus gekommen, wie sie im 19. Jahrhundert in Mitteleuropa stattgefunden hatte. Im Prinzip war die sowjetische Pressewissenschaft mehr eine Literaturwissenschaft als eine Wissenschaft des Tagesjournalismus. Die Prawda war bekannt für ihre seitenlangen Riemen. Die Iswestija genauso. Zeitungen waren dort eher politische Zeitschriften.

Dann war der Austausch schwierig.

Wir haben uns nicht einmal terminologisch verstanden. Reportage ist im Russischen eine künstlerisch-literarische Skizze. Ein Literaturwerk, das mit Berichterstattung überhaupt nichts zu tun hat. Nachrichten galten im sowjetischen Journalismus als etwas Niederes. Der wahre Journalist macht sich in gewählter Ausdrucksweise über mehrere Spalten hehre Gedanken.

Das muss zu einem ganz anderen Fach führen.

Wir waren politischer als die sowjetische Journalistikwissenschaft. Bei uns war Journalismus operatives Informationsmittel der politischen Führung. Die sowjetischen Kollegen sahen das eher von der literarischen Seite und waren deshalb nicht ganz so stark auf Parteilinie wie wir. Ich habe Hans Teubner zu seinem 80. Geburtstag in einem ZK-Heim besucht (vgl. Schlimper 2000).

Den ehemaligen Professor?

Ja. Er war in der KPD unter Thälmann Sektorenleiter Presse. Ich habe ihn gefragt, nach welchen Gesichtspunkten vor 1933 die Pressepolitik eingeschätzt wurde.

Was hat er gesagt?

Also du stellst Fragen. Das hat mich noch nie jemand gefragt. Da gab es ein einziges Kriterium: Werden die Beschlüsse der Parteiführung wortgetreu verkündet?

Haben Sie auch nach Westen geschaut?

Ja. Wir haben zum Beispiel von Maletzke abgeschrieben. Was in der Bundesrepublik erschien, haben wir zur Kenntnis genommen.

Haben Sie an der IAMCR-Konferenz teilgenommen, die 1974 in Leipzig stattfand (vgl. Meyen 2014)?

Ja. Ich habe sogar Elisabeth Noelle-Neumann attackiert. Die kam, las und reiste wieder ab. Ich hatte auf der Konferenz Bammel, weil die berühmte Noelle-Neumann sozusagen meine Kontrahentin war. Sie verzichtete aber auf eine Diskussion mit mir. Die war völlig erstaunt, dass wir das alles kannten. Wir haben es allerdings nicht immer zitiert und manchmal auch Tricks angewendet.

Zum Beispiel?

Sachen aus der Westliteratur Karl Marx untergeschoben.

Wie haben Sie die Wendezeit beruflich erlebt?

Als Mitglied des wissenschaftlichen Rates der Universität und als Mitglied des Rates der Sektion Journalistik. Ich bin vom Sektionsdirektor zum ersten und einzigen Leiter des Lehrstuhls für nationale und internationale Medienpolitik ernannt worden. Das war ich 1989/90. Vorher war uns die Medienpolitik vom ZK untersagt.

Wann sind Sie aus dem Dienst ausgeschieden?

Aushang an der Leipziger Universität, 1990. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe Karl-Heinz Röhr)

Wie alle anderen Professoren auf Anweisung des Bundesinnenministeriums. Das mag Sie vielleicht erstaunen. Bei meiner Verabschiedung hat der Prorektor mir persönlich gesagt: Herr Kollege Halbach, ich kenne Ihre Unterlagen. Gegen Sie liegt absolut nichts vor. Aber es gibt eine Anweisung der Abteilung Medienpolitik des Bundesinnenministeriums, dass sämtliche Professoren der Journalistik ausnahmslos abzuwickeln sind, unabhängig von den Gesprächen der Evaluierungskommission.

Also ging es nur um den Rang des Professors?

Ja. Bei meinem Evaluierungsgespräch war Kurt Koszyk der Vorsitzende. Er hatte mich vorher zu Gastvorlesungen nach Dortmund eingeladen. Dem war das schrecklich peinlich. Als ich reinkam, ging er raus. Ich habe mit Karl Friedrich Reimers über das Demokratieverständnis in Ost und West debattiert. Eine rein akademische, politische Debatte. Nach einer halben Stunde kam Koszyk wieder und sagte: Herr Kollege Halbach, Sie wollten ja ohnehin in Kürze in Pension gehen. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Auf Wiedersehen.

Keine Frage zu Ihrer Tätigkeit?

Nein. Man hat mich nicht einmal gefragt, wie ich selbstkritisch manche Thesen einschätze, die ich früher geschrieben habe. Es ist überhaupt nichts geschehen. Es stand schon vorher fest: Alle sind ausnahmslos rauszuschmeißen.

Wollten Sie denn in Pension gehen?

Nein, wollte ich nicht. Ich war 61 Jahre alt.

Wurde Ihnen die Tätigkeit als Professor bei der Pension angerechnet?

Ja, bei Zubilligung einer Strafrente. Ich bekomme als ordentlicher Professor 34 Prozent der regulären Pension eines bundesrepublikanischen Professors.

Haben Sie nach Ihrem Ausscheiden weiter akademisch gearbeitet?

Das durfte ich ja nicht. Den Professoren ist das untersagt worden. Ich darf an keinem Seminar an der Universität teilnehmen, keine Vorlesungen halten. Das ist nur den neuberufenen Professoren gestattet. Das Kuriose ist: Die Freie Universität hat mich mehrfach eingeladen. Für die gilt das Verbot nicht.

Literaturangaben

  • Michael Meyen: IAMCR on the East-West Battlefield: A Study on the GDR’s Attempts to Use the Association for Diplomatic Purposes. In: International Journal of Communication Vol. 8 (2014), S. 2071-2089.
  • Christian Schemmert/Daniel Siemens: Die Leipziger Journalistenausbildung in der Ära Ulbricht. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61. Jg. (2013), Nr. 2, S. 201-237.
  • Wulf Skaun: Es gibt keine unpolitische Wissenschaft. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.
  • Wolfgang Tiedke: Wir haben die richtigen Fragen gestellt. In: Michael Meyen/Anke Fiedler: Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR. Berlin: Panama Verlag 2011, S. 75-86.

Empfohlene Zitierweise

Heinz Halbach: Wir hatten Narrenfreiheit. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2017. http://blexkom.halemverlag.de/halbach-interview/ (Datum des Zugriffs).