Quo vadis, Fachgeschichte: Diskussion

Diese Seite dokumentiert die Diskussion über das Papier von Gerd Kopper und die entsprechenden Reaktionen. Ort und Zeit: 29. Januar 2016, Universität München, Hauptgebäude. Die Redebeiträge wurden von den Beteiligten nur marginal bearbeitet und anschließend autorisiert.


1. Auftakt

Michael Meyen: Zunächst vielleicht ein paar Worte zum Ablauf. Gerd Kopper wird zu Beginn etwas sagen zu seiner Intention. Warum hat er dieses Papier geschrieben? Ich möchte vorschlagen, dass wir die Diskussion im Anschluss daran etwas gliedern, vielleicht analog zu den Kommentaren, die zum Papier von Gerd Kopper eingegangen sind. Das wären erstens die Relevanz von Fachgeschichtsschreibung, zweitens der Ist-Zustand, wozu dann auch mögliche Desiderata gehören, und drittens die Quellen der Fachgeschichtsschreibung und ihre Methoden, ein Punkt, der in meiner Bitte um Reaktionen noch geteilt war, aber insgesamt die wenigsten Rückmeldungen ausgelöst hat. Diese drei Blöcke hängen natürlich zusammen, aber vielleicht ist es trotzdem ganz gut, das zu trennen. Ich werde vor jedem Block das kurz zusammenfassen, was an Reaktionen eingegangen ist. Was ich außerdem vorschlagen möchte: Wir würden die Diskussion gern aufzeichnen, damit wir nicht nach drei oder vier Stunden auseinandergehen und alles wieder verloren ist. Vielleicht können wir dann eine autorisierte Version auf BLexKom veröffentlichen, in einem Feature. Wenn es zu diesem Ablauf keine Einwände gibt, bitte ich Herrn Kopper um einen Auftakt.

Gerd Kopper: Intention war das Stichwort. Es gab praktisch zunächst keine Intention, aber eine Anfrage des Kollegen Meyen, mit der Bitte um ein Interview für BLexKom. Ich habe darauf etwas harsch reagiert, in meiner bewährten Art. Ich hielt das für unzumutbar. Herr Meyen hat mich gebeten, das zu erklären. Was sei daran unzumutbar? Ich habe ihm dabei mindestens drei Punkte genannt, in einem Telefonat mit anschließenden E-Mail-Erweiterungen. Erstens dass ich von der biografischen Methode, wie sie unter der Ägide von Meyen und Kollegen betrieben wird, in meinem Fall nichts halte. Ich habe das dann verallgemeinert. Dazu kommen wir nachher sicher noch. Zur Ermittlung von Fachgeschichte halte ich das nicht für geeignet. Punkt zwei: Um sich den Stand der Fachgeschichtsschreibung im deutschsprachigen Raum vorzuführen, muss man auf Distanz gehen. Das war der Anlass, es so zu tun, wie ich es in dem Papier gemacht habe. Und mein dritter Punkt: Ich habe gesagt, dass ich nur sehr ungern bewährten Kollegen auf den Fuß treten möchte, auch und gerade älteren Kollegen nicht. Ich weiß, dass einige wirklich sehr gute Arbeit auf diesem Gebiet geleistet haben. Sehr gut, sehr detailliert, sehr wertvoll. Darum geht es ausdrücklich nicht.

Gerd Kopper (Foto: Markus Thieroff)

Gerd Kopper (Foto: Markus Thieroff)

Warum also die Distanzierung? Das liegt sicher auch daran, dass ich mich sehr lange und sehr häufig im Ausland aufgehalten habe und außerdem eine fachliche Vorbildung im Bereich urbaner Ethnografie und Anthropologie habe. Ich dachte, es kann interessant sein, sich eine Gruppe anzuschauen, die eine eigene Kultur hat. Das sind zufällig Wissenschaftler, die sich auf bestimmte Weise aufeinander beziehen, die zufällig ein bestimmtes Fach betreiben, das sich Kommunikationswissenschaft nennt, in einer bestimmten Kultur, in einer bestimmten Sprache. Was treiben die eigentlich so? Ein klassisch anthropologisches Vorgehen. Ich habe das ja selbst so gemacht, anhand eines Ausschnitts (vgl. Kopper 2010), und das jetzt auch in diesem Papier wieder versucht. Vielleicht hat das ein leichtes Sirren und Schwirren ausgelöst bei manchen Kollegen, die seit Jahren oder gar Jahrzehnten in diesem Feld arbeiten.
Ich mache jetzt einen Strich und komme zu römisch zwei. Ich muss Komplimente verteilen. Ich hätte niemals gedacht, dass aus diesem Telefonat und den E-Mails eine so konstruktive Veranstaltung werden würde. Das ist für mich in der Kommunikationswissenschaft eine Ausnahmeerfahrung. Deshalb schon einmal ein großes Kompliment an die Organisatoren. Ich will noch römisch drei ergänzen. Auch die Reaktionen auf diesen Ausgangspaukenschlag finde ich sehr konstruktiv und produktiv. Ich kann mir vorstellen, dass viele meinen, das seien divergente und gar nicht so passgerechte Stücke. Ich kann das alles sehr gut versammeln. Vielleicht hat das mit der distanzierten Betrachtung zu tun. Vielleicht folge ich dabei nicht der tradierten Entwicklungslinie der Fachgeschichtsschreibung.

Michael Meyen: Vielen Dank, Herr Kopper. Das hat jetzt schon gleich in alle drei Blöcke eingeführt, die ich auf meinem Zettel habe. Vielleicht nur ein Satz zur Unzumutbarkeit von biografischen Interviews. Der größte Kritiker war bisher Manfred Rühl, der das theoretisch begründet hat, systemtheoretisch. Wenn nur die Kommunikation kommuniziert und der Wissenschaftler nur Umwelt des sozialen Funktionssystems Wissenschaft ist, wozu müsse ich dann Meinungen und biografische Details von Wissenschaftlern einholen? Es genüge doch, in die Bibliothek zu gehen und in die Fußnoten zu schauen. Dort sei die Fachgeschichte. Rühl hat sich dann aber doch befragen lassen, sogar sehr ausführlich, erst von Andreas Scheu (2005) und dann von Maria Löblich und mir, und er hat die Manuskripte dann auch sehr genau gelesen und zum Teil umgearbeitet (vgl. Meyen/Löblich 2007: 76).

2. Sinn von Fachgeschichtsschreibung / Relevanz

Michael Meyen: Unser erster Punkt ist die Relevanz von Fachgeschichtsschreibung, ihr Sinn und Zweck. Gerd Kopper hat seine Position gerade noch einmal deutlich gemacht – das, was ja auch aus dem Papier sehr schön herauskommt. Allgemeine Erkenntnisse zu Wissenschaft und Gesellschaft an einem Beispielsegment gewinnen. Dort ist auch von Reflexion die Rede und von Evaluation, wobei ich nicht sicher war, ob das kritisch gemeint war oder ausdrücklich als Aufgabe genannt wurde. In sehr vielen Statements war dann auch von Reflexion die Rede, von Legitimation, von Identität und von blinden Flecken. Andreas Scheu und Manuel Wendelin haben einen Bezug zu aktuellen Diskussionen im Fach angemahnt. Bei Mandy Tröger findet sich der Gedanke, dass Fachgeschichtsschreibung auch dominierende Wissenschaftstraditionen angreifen könne. Man kann das sicher weiter zuspitzen: Fachgeschichtsschreibung als ein Mittel im Paradigmenstreit. Thomas Wiedemann und ich haben das vor zwei Wochen erlebt, bei der Tagung der Fachgruppe Kommunikationsgeschichte in Dortmund, wo wir über die Amerikanisierung der internationalen Fachgemeinschaft gesprochen haben und wo uns von Kollegen vorgeworfen wurde, ein Gegen-Narrativ aufzubauen zu dem, was sich der Machtpol des Feldes erzählt, um das gleich in die Bourdieu-Terminologie zu übersetzen (vgl. Wiedemann/Meyen 2016). Unter der Überschrift Relevanz und Sinn habe ich in Ihren Reaktionen auch den Punkt Stellensituation gefunden, bei Andreas Scheu zum Beispiel. Keine Professuren für Fachgeschichte, nicht einmal Mitarbeiterstellen. Es ging dann auch um die Akzeptanz im Fach und in der Gesellschaft, aber vielleicht schieben wir das lieber in den zweiten Block, wo es dann um den Ist-Zustand gehen soll. Zunächst also Sinn und Relevanz.

Andreas Scheu: Ich fühle mich gerade angesprochen. Meine Antwort auf Ihr Papier, Herr Kopper, zielt ja auf das Relevanzproblem, das Fachgeschichtsschreibung im Fach hat. Ich meine aus Ihrem Papier herauszuhören, dass die Relevanz gesteigert werden könnte, indem wir einen gesellschaftlichen Bezug herstellen und über unser Beispiel, über die Kommunikationswissenschaft, gesellschaftlich relevant werden könnten. Ich glaube nicht, dass Fachgeschichte der Kommunikationswissenschaft gesellschaftlich relevant werden kann. Wenn überhaupt, dann können wir relevant werden für andere Schwerpunkte im Fach. Durch Grundlagenforschung. Eine Geschichte der Medienwirkungsforschung zum Beispiel oder eine Geschichte der Journalismusforschung. Linien aufzeigen, zeigen, was doppelt gemacht wurde. Sackgassen. So etwas könnte uns zu mehr Reputation im Fach bringen, zu mehr Zitationen, um banal zu werden.

Michael Meyen: Machen das die einzelnen Teildisziplinen nicht selbst? Die Medienwirkungsforscher schreiben doch in jedem guten Aufsatz, was bisher geschah.

Andreas Scheu: Die Frage ist ja: Wie gut machen die das? Wie neutral? Wie systematisch? Erzählt man nicht nur die Geschichte, in der man selbst mit seinen Arbeiten gut wegkommt?

Michael Meyen: Legitimation, ja. Als ich hierher nach München kam und die Vorlesung zur Theoriegeschichte des Fachs vorbereiten musste (vgl. Meyen/Löblich 2006), habe ich fast nur solche Literatur gefunden. Otto Groth (1948), der seine Periodik legitimiert, und Horst Pöttker (2001) mit seiner Idee, Journalismus habe Öffentlichkeit herzustellen, Hanno Hardt (1979), der seine Forderung nach einem Paradigmenwechsel unterfüttert, und natürlich die Münchner Schule (Starkulla/Wagner 1981).

Thomas Birkner: Ich finde schon wichtig, dass wir die Relevanz im Fach betonen und diese auch zeigen. Die Fachgeschichten werden ja schon erzählt und zwar genau so, wie man sie selber gerne hören möchte, in einem Forschungsüberblick zum Beispiel. Das schreibt sich ein in den Forschungsstand, mit dem Wissen, dass man da Mythen tradiert, wie man ja bei Brosius und Esser (1998) nachlesen kann. Die Frage ist ja: Sind einzelne Richtungen oder Teildisziplinen der Kommunikationswissenschaft an einer systematischen Fachgeschichtsschreibung interessiert? Ich glaube schon. Wenn man das gut macht, dann kann das einen Mehrwert bringen, auch für das eigene Selbstverständnis.

Thomas Wiedemann: Bei mir geht das in die gleiche Richtung. Ich denke, dass es für jeden Angehörigen der Disziplin oder einer bestimmten Richtung gewinnbringend ist, wenn man einen Grundstock an Wissen über das eigene Fach hat. Ich stelle hier in München immer wieder fest, dass viele Kollegen im Mittelbau in einer bestimmten Denkrichtung festhängen und nicht viel wissen über das Gewicht dieser Richtung und ihre Position. Für die Selbstwahrnehmung wäre es schon hilfreich, sich da besser auszukennen. Auch für die Außendarstellung. Ich würde deshalb dafür plädieren, generell einen Überblick zu haben.

Michael Meyen: Das ist jetzt aber deutlich enger als bei Gerd Kopper – allgemeine Erkenntnisse an einem Beispielsegment gewinnen.

Thomas Wiedemann: Das führt zum Punkt gesellschaftliche Relevanz. Mir hat gut gefallen, was Sie gesagt haben, Herr Kopper. Dass man am Fach KW eine Generalisierung anstellen könnte. Kommunikationswissenschaft als exemplarischer Fall für eine Geschichte der Sozialwissenschaften. Als verspätete Sozialwissenschaft wäre das Fach dafür gut geeignet, als Disziplin, die in einem bestimmten Kontext entstanden ist. Ansatzweise versuchen wir ja auch immer, Bezüge herzustellen zur Geschichte anderer Sozialwissenschaften in Deutschland.

Michael Meyen: Mandy Tröger hat diesen Punkt ja in ihrem Statement stark gemacht. Die Besonderheiten des Fachs, die es lohnenswert machen, sich damit zu beschäftigen.

Manuel Wendelin: Ich möchte den Punkt von Andreas Scheu noch einmal aufgreifen und das unterstützen. Ich sehe das auch so, dass der Bezug zu einzelnen Teilbereichen wichtig ist. Das ist das, was Fachgeschichte leisten könnte. Selbst wird da ja immer nur der Forschungsstand nacherzählt, das gibt aber keine Auskunft über das Warum. Es wird nicht erklärt, wie der Forschungsstand zustande kommt. Dort wird zum Beispiel nichts gesagt über Einflussfaktoren, über Institutionen. Was ich meine, ist eine selbstreflexive Aufarbeitung des Forschungsstandes in einzelnen Teilbereichen. Das kann Fachgeschichte leisten. Das würde sie auch interessant machen für andere.

Mandy Tröger (Foto: Markus Thieroff)

Mandy Tröger (Foto: Markus Thieroff)

Mandy Tröger: Nehmen wir doch einfach die Geschichte der Medienwirkungsforschung. Was ich daran spannend finde: Warum haben sich bestimmte Ansätze durchgesetzt und andere nicht? Wo gibt es Brüche? Wenn man dem folgt, also nach Brüchen schaut und keine lineare Geschichte schreibt, wenn man zum Beispiel schaut, welche Probleme eine Gesellschaft gerade hatte und was das mit neuen Ansätzen zu tun haben könnte, dann lernt man viel über das eigene Fach. Wenn man aufzeigt, dass es Alternativen gab und gibt, wenn man auch zeigt, dass sich selbst die Geschichtsschreibung ändert. Was wir heute lernen, hat sich durchgesetzt, es gab aber ja auch andere Ansätze.

Thomas Birkner: Hier könnte man sicher auch den Vorschlag von Christian Schwarzenegger und mir anbringen: Erinnern und Vergessen. Was wird als Erinnerung tradiert und so zu einem Narrativ, an dem man nicht vorbeikommt? Was ist auf diesem Weg alles vergessen worden? Wo gab es Bruchstellen oder Weggabelungen? War der Weg einfach nicht begehbar oder was hat sonst zum Vergessen geführt? Das finden wir sehr spannend.

Stefanie Averbeck-Lietz: Das mit dem Vergessen ist natürlich schwierig. Du musst dir ja überlegen, wonach du suchst. Das ist aber nicht das Vergessene, sondern das sind teilweise Zufallsfunde. Ich hatte kürzlich eine Anfrage aus Brasilien (vgl. Averbeck-Lietz 2015). Ihr macht doch Fachgeschichte, ihr habt euch mit eurer Diktatur befasst. Wie macht ihr das? Ich habe auf Arnulf Kutsch und Hans Bohrmann hingewiesen, auf die Ersten, die sich in Deutschland systematisch mit diesem Thema beschäftigt haben (vgl. exemplarisch Bohrmann/Kutsch 1975, 1979, 1981; Kutsch 1984). Das ist ja auch eine Form von Erinnerungsgeschichte. Auch diese Geschichte hat aber viele Lücken. Diese Lücken kann ich nicht benennen, wenn ich sie nicht kenne. Bei meiner Dissertation habe ich manches in den Promotionsakten gefunden (vgl. Averbeck 1999). Dass zum Beispiel Dovifat bestimmte Richtungen in den Gutachten hochgeschrieben hat, die er aber selbst dann gar nicht weiter verfolgt hat, die also nicht den Machtpol erreicht haben. Vielleicht auch als Lob an die älteren Kollegen: Im Ausland wird die Aufarbeitung der NS-Fachgeschichte durchaus wahrgenommen. Wir haben da eine Form von Erinnerungskultur aufgebaut, wissenschaftshistorisch. Wie bruchstückhaft und unvollständig das auch immer sein mag. Wo wollt ihr denn anfangen mit dem Vergessenen?

Christian Schwarzenegger (Foto: Markus Thieroff)

Christian Schwarzenegger (Foto: Markus Thieroff)

Christian Schwarzenegger: Wir orientieren uns da an der Unterscheidung von Jörn Rüsen (2001, besonders S. 133-141). Nicht erinnern und vergessen, das ist nicht dasselbe. Nicht erinnern bedeutet: Wir haben eine Lücke. Vergessen ist dagegen ein bewusster sozialer Akt. Man schließt etwas aus dem Korpus der Erinnerung und des Wissens aus. So etwas könnte man zum Beispiel anhand von Lehrbüchern nachvollziehen. Welche Inhalte verschwinden irgendwann? Welcher Ansatz war mal wichtig, ist dann aber ab einer bestimmten Auflage nicht mehr mit dabei? Wie ist es dazu gekommen? Es geht also nicht um das, was wir bis jetzt übersehen haben. Das ist schwierig zu machen. Es geht um das, woran wir uns aktiv nicht mehr erinnern.

Thomas Birkner: Vergessen im Sinne von aktivem nicht mehr erinnern. Das wollen wir für unser Fach besser erforschen, als das bisher gemacht wurde.

Michael Meyen: Das ist vielleicht schon ein erstes Argument, das ich für den biografischen Zugang anbringen würde. Über diese Interviews kommen wir an Sachen, die sich nicht in Publikationen niedergeschlagen haben und manchmal auch nicht in den Akten. Meine Erfahrung ist, dass ältere Kolleginnen und Kollegen in lebensgeschichtlichen Interviews Bilanz ziehen und dabei auch die Sachen nennen, die nicht funktioniert haben. Das gilt erst recht für Wissenschaftler, die weiter weg sind vom Machtpol des Feldes. Vielleicht noch ein Satz zu Zitationen und zur Sichtbarkeit im Fach, das war ja ein Argument von Andreas Scheu. Die Internationalisierung des Fachs, die wir gerade erleben, könnte der Fachgeschichtsschreibung einen Schub bringen, weil gerade die History Division in der ICA ein großes Interesse an diesem Thema hat. Leute wie Dave Park und Jeff Pooley, die zu den Motoren dieser Division gehören, machen hauptsächlich Disziplingeschichte. 2013 hatten wir ja eine Pre-Conference in London, zwei Tage, gut 100 Leute, 80 Vorträge. Und das zur Fachgeschichte (vgl. Simonson/Park 2016). Auch auf den ICA-Jahrestagungen selbst ist das Thema sehr sichtbar.

Andreas Scheu: Das kann eine Chance für Fachgeschichte sein, ja, muss es aber auch nicht unbedingt, wenn weiterhin vor allem nationale Fachgeschichten erzählt werden. Das kann ein Hindernis sein. Klar, man kann vergleichen und mit Forschern aus anderen Ländern kooperieren. Das wäre sicher eine gute Möglichkeit.

Gerd Kopper: Was mir auffällt, und ich behalte jetzt einfach meine Position als distanzierter Beobachter: Man sollte anfangen zu indizieren. Die Begriffe, die man verwendet, einem Index zuordnen. Mir scheint, dass die Fachgeschichten, die man im deutschsprachigen Bereich findet, mit verschiedenen Indizes versehen werden sollten. Es gibt offenkundig jene Fachgeschichte, von der der Kollege Scheu gesprochen hat. Die Fachgeschichte, der es institutionell miserabel geht, die aber verheißungsvoll ist, wenn man sich ihre Inhalte anschaut. Dort geht es dann zum Beispiel um das institutionelle Geschehen. Es gibt eine andere Form mit einem anderen Index. Da geht es um das, was Stefanie Averbeck-Lietz (2010) in Frankreich herausgefunden hat. Wie sieht eigentlich die Fachgeschichte aus, wenn ich in ein anderes Land gehe und eine Disziplin anschaue, die unter der gleichen Denomination läuft wie hier bei uns, dort aber in eine andere nationale Wissenschaftskultur eingebettet ist? Ich müsste noch einen weiteren Index bilden, wenn ich mir das dann für Europa anschaue. Vielleicht nur als Fußnote: In Deutschland ist die ganze Abteilung Semiotik ohne Begräbnis gestorben. In Spanien oder in Italien ist das noch sehr lebendig. Wie kommt so etwas zustande? Das wären schon drei Indizes. Und dann müsste es einen vierten Index geben für eine Fachgeschichtsschreibung, die hypothesenoffen ist. Das ist mir heute Morgen beim Vortrag von Arnulf Kutsch aufgefallen. Bei den ersten drei Indizes ist schon relativ klar, was man da machen würde. Fachgeschichte muss aber auch hypothesenoffen sein – methodisch und theoretisch. Bei Kutsch hat man gesehen, was passiert, wenn wir uns fragen, wie zur gleichen Zeit aus den USA, aus Moskau, aus Polen, aus Deutschland und aus der Schweiz die gleichen Modelle der Professionalisierung kommen. Ich weiß nicht, ob Sie da in Ihrer Werkstatt solche Kästchen haben, Herr Kutsch. Die Technik zum Beispiel. Transatlantische Kabel, völlig neue Formen der Nachrichtenaufbereitung und damit natürlich die Notwendigkeit zu fragen, ob unsere Leute richtig ausgebildet sind. Bei dem, was Sie vorgetragen haben, fühlte ich mich sehr erinnert an exakt die gleichen Gedankengänge in den 1970er-Jahren, als es um die universitäre Journalistenausbildung in Deutschland ging (vgl. Kopper 2010). Technik, Politik, Wissenschaftsinnovationen. Es gab einen unheimlichen Druck in den Systemen. In den Verlagen konnte man mit der Kompetenz, die Lokalredakteure oder freie Mitarbeiter üblicherweise mitbrachten, nichts mehr anfangen. Die technischen Neuerungen waren einfach nicht mehr zu packen. Darüber redet heute keiner mehr, aber dort kam die Dynamik her.
Das ist jetzt nur ein Beispiel. Ich habe jetzt Hypothesen formuliert, man sollte aber auch ergebnisoffen forschen. Solche Geschichtsschreibungen könnten auf einer ganz anderen Ebene dazu führen, dass man auch in der Fachgeschichte in einen universalistisch geprägten Rahmen kommt. Für mich ist es zum Beispiel immer wieder faszinierend, wenn ich aus Asien zurückkomme und hier sehe, dass das, was dort relevant ist, nichts mit dem zu tun hat, was in Deutschland relevant ist, obwohl die journalistischen Systeme auf dem gleichen technischen und organisatorischen Stand sind. Was heißt das für den Fortgang der Geschichte? Ein solcher Blick würde einen Schub bringen und uns vielleicht helfen zu vergessen, was auf Indexebene eins passiert.

Michael Meyen: Ich würde natürlich fragen, ob diese Ausweitung des Blicks nicht auch auf den drei ersten Indexebenen möglich ist. Ob das da nicht längst stattgefunden hat.

Gerd Kopper: Unbedingt.

Michael Meyen: Gerade wenn ich mir die Arbeit zu Frankreich anschaue (vgl. Averbeck-Lietz 2010).

Stefanie Averbeck-Lietz: Ich habe ja inzwischen Resonanz aus Frankreich. Die ist durchaus zwiespältig. Einerseits ist das alles sehr positiv. Es wird gesagt: Ja, das kann man so stehen lassen. Aber „die“ Franzosen sagen immer auch: Das ist nicht alles. Du hast es auch mit der deutschen Brille gelesen. Das stimmt ja auch. Ich habe die Semiotik entdeckt, die wir hier im Fach Kommunikationswissenschaft nicht haben, und darauf dann ganz bewusst den Fokus gelegt. In Frankreich gibt es aber auch eine Linie, die sich ganz stark auf die Mediennutzung konzentriert, ganz anders als bei uns. Das wurde dort von France Telecom forciert, seit den 1970er-Jahren. Anwendungsorientiert. Es gibt also Linien, die ich nicht drin habe in meinem Buch bzw. nur angerissen habe. Es ist unglaublich schwierig, eine Metaperspektive einzunehmen und dann auch noch den Anspruch Universalismus einzulösen. Deshalb bereite ich ja gerade diesen Sammelband mit Beiträgen aus verschiedenen Ländern vor (vgl. Averbeck-Lietz 2016).

Stefanie Averbeck-Lietz (Foto: Markus Thieroff)

Stefanie Averbeck-Lietz (Foto: Markus Thieroff)

Dort haben wir aber ein anderes Problem. Wir haben uns in einem Workshop darauf geeinigt, Fachgeschichte mit Blick auf zwei Themen zu schreiben. Öffentlichkeit und Nutzungsforschung. Das schränkt das Ganze schon ein, auch wenn die meisten nationalen Fachgemeinschaften diese beiden Themen traditionell schon irgendwie im Fokus haben. Es haben aber auch Leute mitgearbeitet, die nicht fachhistorisch geschult sind. Das Buch wird also sehr heterogen. Und das Buch ist kein finanziertes Projekt. Man bräuchte eigentlich ein Projekt, in dem Teams gemeinsam nachdenken, transnational und mehrsprachig und mit mehr Zeit. Alles andere ist Stückwerk.
Was ich trotzdem sehr spannend fand: wie Medienentwicklungen zu bestimmten Fachentwicklungen führen, auch zu bestimmten Konzeptionen, die dann aber jeweils ganz spezifisch (national und mediensystem-typisch) umgesetzt werden. Dazu kommt dann die Differenz: Sieht man sich als Fach, das versucht, wertneutrale Wissenschaft zu betreiben, etwa im positivistischen Paradigma, oder sieht man Kommunikationswissenschaft eher als politisches Projekt wie zum Beispiel in Lateinamerika? Dort kann man unsere Debatte über Normativität nicht nachvollziehen. Das führt zu vielen Dimensionen von Wissenschaftskulturen. Eigentlich bräuchte man auch Wissenschaftstheoretiker und Wissenschaftshistoriker, die nicht aus unserer Disziplin kommen. Die könnten uns solche Brüche erklären. Wir können das nicht.

Michael Meyen: Das klingt jetzt auch nach Grenzziehung. Legst du nicht auch fest, was Kommunikationswissenschaft international zu sein hat, wenn du Öffentlichkeitsforschung sagst und Mediennutzung?

Stefanie Averbeck-Lietz: Nein. Das war Ergebnis eines Workshops. Der Workshop war stark europäisch bestimmt. Das muss man dazu sagen. Im Buch werden wir dann auch Beiträge haben zu Ägypten, zu Brasilien, zu Mexiko. Die haben versucht, sich an unserem Schema zu orientieren, aber man sieht schon, dass sich das Verständnis von Öffentlichkeit unterscheidet. Was ist das überhaupt: Öffentlichkeit? Das führt dann auch zu unterschiedlichen Facetten in der Forschung.

Michael Meyen: Das mag sein, aber du hast ja trotzdem den Rahmen festgelegt, in dem sich diese Fachgeschichten bewegen.

Stefanie Averbeck-Lietz: Ja. Man sieht immer nur Schlaglichter. Ich werde ja demnächst die Zusammenfassung schreiben. Das wird nicht so einfach.

Michael Meyen: Ich kam darauf wegen der Semiotik. Es gibt ja auch in Deutschland eine Richtung, die sich Kommunikationswissenschaft nennt und trotzdem nichts mit der Fachgemeinschaft zu tun hat, die sich in der DGPuK zusammengeschlossen hat. Die Bonner Schule um Gerold Ungeheuer. Da sind wir dann beim Thema Fachidentität.

Gerd Kopper: Ich möchte das gleich verlängern, was Frau Averbeck-Lietz gesagt hat und was ja auch im Statement von Andreas Scheu angesprochen wird. Das führt dann zu dem, was ich mit dem vielleicht etwas merkwürdig klingenden Mechanismus der Indizierung beschreiben wollte. Es braucht eine komplett andere Form der Institutionalisierung von Fachgeschichtsschreibung. Das schafft man nicht mit der Art von Fachgeschichte, wie sie im Index eins gemacht wird, mit dieser einfachen Form von Geschichtsschreibung. Dafür braucht man andere Formen. Wissenschaftshistoriker, die nicht nur auf ein Fach fixiert sind. Vielleicht auch Politikwissenschaftler. Man müsste Leute gewinnen wie Christopher Simpson (1994). Was dort aufgearbeitet wurde über die Entwicklungen in den USA nach 1945: Das ist hervorragend. Solche Leute müsste man gewinnen für neue Formen einer institutionalisierten Plattform, mit der man mittel- und langfristig rauskommt aus der Einengung, die sich im Statement von Andreas Scheu findet. Es gibt keine Stellen, es gibt kein Geld, also steige ich aus.
Man müsste Leute wie Simpson und die Netzwerke, die hinter ihm stehen, an einer Geschichtsschreibung beteiligen. Finanziert von der Ford Foundation – als einem Finanzierungsbeispiel – und mit einer Laufzeit von mindestens fünf Jahren, um einfach nur ein Beispiel zu nennen, mit Leuten aus China oder anderen Communities. Dann hätte man Zeit und Geld, um in einen mehrdimensionalen Raum zu kommen. Dann könnte man sagen: Aha, darüber wird hier geredet und darüber reden die anderen. Dann würde man auch zu dem Punkt Evaluation kommen können. Man würde herausbekommen, was eigentlich die deutschsprachige Kommunikationswissenschaft macht, im Kontext. Man könnte dann feststellen, dass sie aus der Politik ausgestiegen ist, aus der Kommunikationspolitik. Das wäre eine Hypothese von mir. Die Kommunikationswissenschaft spielt da praktisch keine Rolle mehr. Wenn man beobachtet, wer in Berlin eingeladen wird zu Ausschusssitzungen über das neue digitale Zeitalter oder zu Gesetzgebungsverfahren, dann gibt es dort keinen Kommunikationswissenschaftler, der dort Bedeutung hat. Was ich sagen will: Der Nachwuchs sollte versuchen, in eine neue Richtung der Institutionalisierung zu gehen, die über Geschichten wie die ECREA hinausgeht. Dorthin gehen, wo Leute auch mal das Geld bekommen, um sich fünf Jahre auszuklinken und etwas auszuprobieren.

Martina Thiele: Ich komme noch einmal zurück zum Ausgangspunkt, zur Frage nach dem Sinn und nach der Relevanz von Fachgeschichte. Ich habe zugehört und ein bisschen gesammelt. Es sind viele gute Stichworte gefallen, manche fehlen mir aber noch. Selbstvergewisserung zum Beispiel und Selbstaufklärung. Wir müssen wissen, wer wir sind, woher wir kommen und wo wir stehen. Für mich ist das ganz klar auch eine Machtfrage. Ich würde sofort zustimmen, dass wir uns international zusammentun müssen. Aber davon abgesehen müssen wir uns doch fragen: Wer schreibt Geschichte? Wer macht Geschichte? Sind das vielleicht sogar dieselben Leute? Fällt das ineinander?
Für mich ist ein ganz wichtiger Punkt von Fachgeschichte, dass man versucht, Machtstrukturen offenzulegen. Da finde ich es ein bisschen gefährlich, sich jetzt sofort um Finanzierungsquellen zu kümmern. Woher kommt das Geld, wer kann uns für ein halbes Jahr freistellen, damit wir international vergleichend Fachgeschichten erheben können? Deshalb würde ich noch mal einen Schritt zurückgehen wollen und fragen: Wozu schreiben wir überhaupt Fachgeschichte? Wir haben uns ja alle beklagt, dass das niemanden interessiert. Wir können immer wieder wiederholen, dass das für uns alle wichtig ist, dass wir doch Bescheid wissen müssen. Die Frage ist doch: Wie dringen wir mit unseren guten Argumenten durch? Wo können wir uns Gehör verschaffen? Oder sagen wir einfach: Wir machen das, wir machen das auch weiter so, wie wir es begonnen haben, wir versuchen auch, unseren Blickwinkel zu erweitern, und lassen es dabei? Ich finde es gut, dass wir uns die Sinn- und Relevanzfrage stellen. Mein Plädoyer ist, nach Macht zu fragen, nach Machtstrukturen.

Michael Meyen: Wenn man fragt, wer Fachgeschichte schreibt, kann man idealtypisch zwei Pole unterscheiden. Die einen wollen ihre Macht erhalten und schreiben deshalb das etablierte Narrativ fort. Und die anderen wollen diese Macht herausfordern und das Narrativ ändern. Ich glaube, dass die Machtfrage deshalb immer ganz automatisch dabei ist. Ich würde auch infrage stellen, dass das niemanden interessiert, was wir in der Fachgeschichte machen. Dafür bekommen wir zu viel Resonanz, vor allem immer dann, wenn wir Machtstrukturen offenlegen und infrage stellen. Jüngere Kolleginnen und Kollegen finden das spannend, weil sie ihre Karrieren in bestimmten Strukturen bauen und darüber reflektieren wollen.

Martina Thiele: Klar: Man bekommt Feedback und kann hoffen, dass es doch einige interessiert. Mit Blick auf die große Gruppe an Menschen, die Kommunikationswissenschaft betreiben, ist das aber trotzdem marginal. Was mich dabei interessiert: Sollten wir uns bemühen, die Bedeutung der Fachgeschichte herauszuarbeiten und für mehr Sichtbarkeit sorgen, oder es einfach tun und sehen, was passiert?

Michael Meyen: Vielleicht nur zwei Gegenargumente. Da ist zum einen der Besuch bei entsprechenden Veranstaltungen. Bei der DGPuK-Tagung in Dortmund 2011 war der Saal voll, als dort das Panel lief zu fünf früheren Helden des Fachs, präsentiert von aktuellen Helden. Im Index von Gerd Kopper war das vermutlich noch nicht einmal Ebene eins. Zwei Jahre später in Mainz hatten wir dann ein Sonderfenster der Fachgruppe Kommunikationsgeschichte zum Gedächtnis des Fachs, parallel zu anderen Panels. Der Saal war trotzdem rappelvoll, und Thomas Wiedemann und ich, wir haben sehr viele Reaktionen bekommen zu unserem Vortrag über das, was die Kommunikationswissenschaft vergessen hat. Es ging dort um Horst Holzer und Emil Dusiska, um Walter Hagemann und Hans Amandus Münster, also sehr unterschiedliche Gedächtnislücken, die man alle auch mit der Machtfrage verknüpfen kann. Wir werden das hoffentlich zum Jahresende auf BLexKom dokumentieren.

Martina Thiele: Da muss man sicher unterscheiden. In so einem Setting funktioniert das. Auf einer Tagung, wo sowieso alle da sind. Da ist man ja neugierig. Vielleicht gibt es da irgendwelche Bemerkungen oder Einschätzungen. Sonst aber haben doch alle in ihren Statements beklagt, dass es keine Stellen gibt, dass es wenig sichtbar ist, dass es abgetan wird. Die Geschichte insgesamt und die Fachgeschichte ganz besonders. Und ich frage mich, auch ganz persönlich: Was folgt für mich daraus? Ich kann gut verstehen, wenn gerade jüngere Wissenschaftler sagen, das betreibe ich lieber nicht.

Stefanie Averbeck-Lietz: Ihr habt irgendwie beide recht. Die Leute kommen ja gerade, weil sie sehen wollen, ob der Machtpol herausgefordert wird. Ob irgendwelche Skandale hervorgeholt werden. Da menschelt es ja auch. Und es ist kein Wunder, dass es dabei um die geht, die es irgendwie geschafft haben, und nicht um irgendwelche Vergessenen. Außerdem sind ja selbst die in gewisser Weise bekannt, die vergessen wurden. Sie sind vielleicht nicht am Machtpol, aber trotzdem als Persönlichkeiten bekannt. Aber gleichzeitig ist diese Art der Fachgeschichtsschreibung nicht das, was eine Institutionalisierungschance bringt. Das hängt natürlich mit dem aktuellen Wissenschaftssystem zusammen. Drittmittel zum Beispiel. Mit Fachgeschichte kann man auch Erfolg haben, natürlich. Aber andere Felder haben da Vorteile. Ich mache das trotzdem, auch in meinen Vorlesungen, das Thema ist aber nicht curricular deklariert, sondern eher etwas, was ich zusätzlich mache, freiwillig. Ich denke manchmal, dass ich Glück gehabt habe. Ich habe etwas zu Frankreich gemacht, was ja auch irgendwie Wissenschaftsgeschichte war wie die Dissertation (vgl. Averbeck 1999), und damit trotzdem eine Professur bekommen. Das ist als Statement doch irgendwie bitter.

Michael Meyen (Foto: Markus Thieroff)

Michael Meyen (Foto: Markus Thieroff)

Michael Meyen: Ob trotzdem oder gerade deshalb, das weiß man jetzt nicht. Das kann man ja bei Maria Löblich genauso fragen. Ich habe ihr ja mit geraten, nach der Dissertation (vgl. Löblich 2010) Internetpolitik zu machen, die Berliner Professur wird sie aber vermutlich eher wegen des historischen Profils bekommen haben und nicht so sehr wegen der vielen Top-Publikationen in dem zweiten Gebiet. Hier in München haben wir ja die curriculare Verankerung. Im Bachelor gibt es eine Vorlesung zur Theoriegeschichte, die noch von Hans Wagner eingebaut worden war. Das war seit 2003 eine Pflichtvorlesung und wird jetzt ab dem nächsten Jahr zur Wahlpflicht, nach der BA-Reform. Deshalb kamen dann ja auch Studenten, die Magisterarbeiten geschrieben haben zur Fachgeschichte oder dann sogar Dissertationen.

Stefanie Averbeck-Lietz: Bei uns reduziert sich das auf wenige Veranstaltungen, weil es in der Vorlesung noch Medienethik gibt und Mediengeschichte. Letztlich kommt es darauf an, wer dort vorn steht.

Michael Meyen: Martina Thiele hat ja auch den Blick auf die Karriere angesprochen. Macht es Sinn, so ein Thema zu verfolgen, wenn ich weiß, dass es dazu gar keine Module in den Lehrplänen gibt?

Martina Thiele: Ich wollte das gar nicht auf die Karriere reduziert wissen. Es gibt noch weitere Aspekte. Wenn ich auf eine Veranstaltung Fachgeschichte draufschreibe, dann komme ich damit nicht durch die Curricular-Kommission. Das heißt: Ich muss es verstecken. Am besten nenne ich es auch nicht Geschichte, sondern sage Change oder Innovation. Gleichzeitig sehe ich, dass in der Geschichte, also in unserer Nachdisziplin, Seminare angeboten werden mit Titeln wie „Was steckte hinter den Schlagzeilen?“. Die machen Medien rauf und runter. Und wir als Kommunikationswissenschaftler versagen uns das mehr und mehr. Das macht mich fuchsig. Dieser Karriereaspekt ist das eine. Kann man mit Fachgeschichte etwas werden? Gleichzeitig hat es aber eine unheimliche Auswirkung auf die Studierenden und unseren Nachwuchs, wenn wir die Geschichte zurückfahren. Es ist ja schön, wenn das in München noch funktioniert, aber mein Eindruck ist, dass das an anderen Instituten ganz anders läuft.

Michael Meyen: Es funktioniert hier auch nicht ohne Probleme. Es war und ist zum Beispiel nicht leicht, die Kollegen zu überzeugen, dass wir nicht nur Theoriegeschichte brauchen, sondern auch noch Kommunikations- und Mediengeschichte. Wozu zweimal Geschichte? Christoph Neuberger sagt dann, es gibt doch die Vorlesung zum Medienwandel.

Erik Koenen: Vielleicht muss man die Sinnfrage ja auch von außen stellen. Welche Relevanz, welchen Sinn können wir der Fachgeschichte abgewinnen, auch mit Blick auf die allgemeine Wissenschaftsgeschichte und in Bezug zur Fachgeschichte anderer Disziplinen? Da darf man sich dann nicht nur in der DGPuK bewegen, sondern muss auch in andere Disziplinen hineingehen. Ich bin ja selbst mit Vorträgen in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie aufgetreten und habe versucht, unsere Disziplingeschichte dort einzubringen und Schnittstellen mit der Disziplingeschichte der Soziologie auszuloten (vgl. Koenen 2008a, 2008b).

Michael Meyen: Das passt zu dem, was Gerd Kopper zum Rückzug des Fachs aus der Beratung gesagt hat, zum Rückzug aus der Kommunikationspolitik. Wenn das Fach in der Gesellschaft nicht als relevant wahrgenommen wird, dann wird auch seine Fachgeschichte nicht für relevant gehalten. Dann machen das nur die Leute, die zur Disziplin gehören und die schon deshalb ein Interesse an den Strukturen haben, in denen sie sich bewegen.

Stefanie Averbeck-Lietz: Man muss aber dazu sagen, dass die Soziologen eigene Lehrstühle für die Geschichte der Soziologie haben oder zur Ideengeschichte. Das gibt es bei uns ja nicht, obwohl wir gar nicht so viel jünger sind als Fach. Okay, vielleicht sind wir kleiner, aber wer legt das eigentlich fest, dass wir uns das nicht leisten dürfen? Da sind wir schon wieder bei der Machtfrage.

Gerd Kopper: Weil gerade Begriffe wie Change und Innovation fielen. Gelegentlich versteckt sich die Forschung auch hinter bestimmten Trends. Nehmen wir die Wissenschaftskommunikation. Es ist interessant, wie viel Personal sich jetzt auf Plattformen der Wissenschaftskommunikation findet – und das schlicht deshalb, weil dort Fördergelder fließen aus Stiftungen und Ministerien. Dass da auch Kommunikationswissenschaft drinsteckt, wird fast verheimlicht. Die Soziologie hat das Thema okkupiert vor zehn, 15 Jahren und dann Mittäter gesucht. Das sind auch Machtspiele, die dort wissenschaftspolitisch ablaufen. So etwas gab es immer wieder. Da sind wir bei Fachgeschichte Index zwei. Ganze Zweige der Kommunikationswissenschaft, die damals neu und hoch interessant waren wie zum Beispiel die Medienökonomie, sollten von der Soziologie ausgekoppelt werden. Führender Vertreter dafür war Max Kaase. Das ist seinerzeit abgewendet worden. Mein Eindruck ist trotzdem, dass die Kommunikationswissenschaft bei solchen Machtspielen nicht so gern mittut, weil ihre Fachvertreter dafür nicht so richtig geeignet sind.

Martina Thiele: Oder weil sie nicht die richtigen Label finden.

Arnulf Kutsch: Was zur Sinnfrage gesagt wurde, finde ich interessant – auch das zum Thema Macht. Als wir in Münster begonnen haben, uns mit vergessenen Vertretern unseres Fachs zu beschäftigen, kannte zum Beispiel kaum noch jemand Erich Everth (vgl. Bohrmann/Kutsch 1979; Kutsch 1984, Koenen 2015). Wir haben uns an der fachhistorischen Aufgabe orientiert, die der Soziologe Wolf Lepenies (1981) gestellt hat. Sie zielt darauf, fachliche Identität zu schaffen, kognitive, soziale und historische Identität und dazu gehören auch die Machtverhältnisse. Zur Identitätsstiftung gehörte es nach unserem Verständnis, für die Fachgemeinschaft die wissenschaftliche, akademische und anderweitige Tätigkeit von früheren Fachvertretern unter deren strukturelle Bedingungen zu rekonstruieren und ihre Bedeutung für die fachliche Entwicklung einzuordnen.

Arnulf Kutsch (Foto: Markus Thieroff)

Arnulf Kutsch (Foto: Markus Thieroff)

Die Fachgeschichtsschreibung sollte einem holistischen Ansatz folgen, vielleicht in einem etwas anderen Sinn, als Sie ihn verwendet haben, Herr Kopper. Man sollte fragen: Durch welche Formalobjekte, Erkenntniszusammenhänge und Gegenstände definierte sich das Fach? Welche Auffassungsunterschiede bestanden darüber und wo ist der jeweilige Fachvertreter zu verorten?
Dabei geht es auch um die Grenzen des Fachs. Solche Ab- oder Eingrenzungen sind sehr wichtig. Mit dem Blick auf andere wissenschaftliche Disziplinen sollte man auch fragen: Gab bzw. gibt es überhaupt klare Disziplingrenzen? Die Grenzen unseres Fachs zu klären, ist eine Aufgabe, die von Franz Ronneberger (1978) und Ulrich Saxer (1995) eingefordert wurde. Aus ihr könnte man Antworten darüber gewinnen, warum die Kommunikationswissenschaft von manchen außerhalb des Fachs als nicht besonders relevant eingeschätzt wird.
Man kann wahrscheinlich nicht erwarten, dass der Fachgeschichte allein durch die Veranstaltung von Tagungen höhere Bedeutung zugeschrieben wird. Es sei denn, dort werden bedeutsame Erkenntnisfortschritte präsentiert und diese erlangen hohe Aufmerksamkeit. Ausnahmen wie die berühmte, von Wolfgang R. Langenbucher 1986 in Wien organisierte 31. Jahrestagung der deutschen und österreichischen Gesellschaften für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, die auch einen beachtlichen fachhistorischen Teil umfasste, bestätigen wahrscheinlich auch hier die Regel (vgl. Bobrowski/Langenbucher 1987). Aus meinen Seminaren weiß ich, dass Untersuchungen zu Werk und Person von Fachvertretern ein beliebter Weg ist, um Studenten dafür interessieren, wie das Fach entstanden ist, welche Vertreter und welche Fragen und Erkenntniszusammenhänge es begründeten bzw. wiederbegründeten und warum manche Erkenntniszusammenhänge vergessen worden sind. Darauf hat Frau Thiele vorhin hingewiesen.
Ein Angebot wie BLexKom ist dafür außerordentlich hilfreich – zur Orientierung und gewiss auch zur Identitätsstiftung. Wenn man feststellt, dass die Personen, die bislang dort durch Artikel oder Interviews vertreten sind, das Fach oder eine bestimmte Forschungsrichtung nur unzureichend dokumentieren, sollte das dazu anspornen, auf dem Weg weiterzumachen.
Mir scheint die Zusammenarbeit mit der Fachgruppe Soziologiegeschichte der Deutschen Gesellschaft für Soziologie wichtig, auf die Erik Koenen eben hingewiesen hat. Durch das Papier von Herrn Kopper haben wir viele Anregungen dafür enthalten und es wäre nach meiner Ansicht durchaus erkenntnisfördernd, einmal die Bilanzen der Fachgeschichte in Soziologie und Kommunikationswissenschaft gegeneinanderzuhalten.
Vielleicht noch etwas zur Relevanz, nicht gleich auf der Ebene der Gesellschaft, aber in Fördereinrichtungen und überfachlichen Gremien, in denen es auch um strukturelle Weichenstellungen geht. Es gibt dort mitunter eine gewisse Überlegenheit der Soziologie, auch der Politikwissenschaft, die wohl nicht zuletzt mit der in anderen Disziplinen, möglicherweise auch in der Öffentlichkeit wahrgenommenen kognitiven Bedeutung unseres Fachs zusammenhängt. Beispielsweise gibt es nur wenige kommunikationswissenschaftliche Theorien und Methoden, die für Soziologen relevant sind und den Weg in den theoretischen oder methodischen Kanon der Soziologie gefunden haben. Umgekehrt hat die Kommunikationswissenschaft wichtige, vor allem basale Theorien und empirische Verfahren aus anderen Disziplinen, insbesondere wieder aus der Soziologie importiert. Hierin liegt ein Manko unseres Fachs als Integrationsfach, das sich durch seine Ideengeschichte zieht, das sich aber auch beispielsweise in der Präsenz unseres Fachs in kommunikationspolitisch relevanten Gremien dokumentiert. Sie waren Mitglied der KEF, Herr Kopper. Aber in dieser Hinsicht bilden Sie als Kommunikationswissenschaftler wohl eher eine Ausnahme. Die Ursachen für die geringe Präsenz zu erforschen, kann auch eine Aufgabe von Fachgeschichte sein.

Michael Meyen: In der Bourdieu-Terminologie würde man jetzt über die Position des Fachs im wissenschaftlichen Feld sprechen. Man muss das gar nicht über die Theorie-Qualität bestimmen, sondern kann zum Beispiel auch Zitationen messen, In- und Out-Zitationen. Die Kommunikationswissenschaft zitiert reputationsstarke Fächer, um ihre eigene Arbeit zu legitimieren, sie wird aber von genau diesen Fächern umgekehrt ignoriert. Wenn Psychologen zum Beispiel anfangen, sich für Kinder und Medien zu interessieren, dann entwickeln sie einen eigenen Kanon, anstatt auf das zurückzugreifen, was es dazu bei uns längst gibt. In meiner Interviewserie mit den ICA Fellows haben darüber ja auch die US-Kollegen geklagt (vgl. Meyen 2012).

Gerd Kopper: Sie beschreiben doch jetzt Fachgeschichte.

Michael Meyen: Ja.

Gerd Kopper: Das wäre ja ein Teil der Machtfrage, die über die enge Geschichte der Disziplin hinausweist. Das könnte man artikulieren.

Michael Meyen: In diesem Aufsatz geht das ja noch weiter (vgl. Meyen 2012). Unser Fach ist in den USA vor allem im mittleren Westen zu Hause, an den großen öffentlichen Universitäten, und nicht an den reichen Schulen der Ostküste in Harvard oder Yale. Für die etablierten Disziplinen gibt es aber gar keine vernünftige Wissenschaft, die nicht an diesen Privatunis entsteht. Wenn sich dann einer unserer Fachvertreter irgendwo bewirbt, dann fragen sich die Kollegen aus den anderen Fächern, was es denn wohl mit Bloomington, Indiana auf sich hat oder mit Chapel Hill, North Carolina. So wird die Position im wissenschaftlichen Feld reproduziert. Man könnte das auch über den Habitus von sozialen Aufsteigern machen, der bei den etablierten Disziplinen auch Schwierigkeiten auslöst. Aber vielleicht noch einmal zur Sinnfrage. Was Arnulf Kutsch jetzt skizziert hat, Identität, das unterscheidet sich ja deutlich von Gerd Koppers Ansatz, in dem es darum ging, am Beispiel des Fachs einen Beitrag zu leisten zur allgemeinen Geschichtsschreibung.

Gerd Kopper: Das war doch gerade ein wunderbares Beispiel. Nehmen wir mal an, dass das ein weltweites Phänomen ist. Ich weiß nicht, wie das bei den Briten ist. Warum müssen sich die Kommunikationswissenschaftler in so ein Isoliermaterial einpacken und in Fußnoten Soziologie oder Psychologie zitieren? Was soll damit eigentlich klargemacht werden? Was heißt das eigentlich analytisch, wenn die anderen sich leisten können, das nicht zu machen? Das führt dann auch zur Identität. Wenn Identität so stark ausgebildet ist, dass sie sich auf die Institutionalisierung verlassen kann, dann muss sie diesen Fußnotenkrieg vielleicht gar nicht führen. Fachgeschichtsschreibung könnte der Kommunikationswissenschaft da ein Licht aufsetzen.

Michael Meyen: Das war damals eigentlich das Ziel meiner Studie. Ich wollte verstehen, warum psychologische Theorien und elaborierte Verfahren der Datenauswertung bei uns im Fach eine so große Rolle spielen. Ich habe das dann wieder durch die Bourdieu-Brille erklärt mit der Orientierung am Machtpol, an den harten Naturwissenschaften. Überrascht hat mich aber, dass die Kollegen in den USA mit den gleichen Reputationsproblemen zu kämpfen haben wie wir, obwohl die USA hier ja immer als das Nonplusultra gelten.

Martina Thiele: Das ist aber ja auch ein Prozess der Zuschreibung von Macht. Wir reproduzieren die Strukturen, die wir kritisieren. Das könnte Fachgeschichte aufzeigen. Was tun wir eigentlich, wenn wir Psychologen zitieren, wenn wir unbedingt in dieses oder jenes Journal mit Peer Review hineinwollen oder zu einer bestimmten Tagung. Das geht natürlich nur bis zu einem gewissen Punkt. Dass wir auch mit Fachgeschichte dabei sein müssen, haben wir ja herausgearbeitet. Es ist aber gut, wenn wir international vergleichend arbeiten und über den disziplinären Tellerrand hinausschauen. Da sind wir uns ja grundsätzlich einig. Trotzdem sollten wir das irgendwann einmal reflektieren und uns fragen, warum wir mittun und uns einem System anpassen, das wir nur bedingt gut finden.

Stefanie Averbeck-Lietz: Ich glaube, dass das nicht alle betrifft. Ich habe jetzt oft in Berufungskommissionen gesessen, wo man dann ja am Machtpol ist. Es gab da zum Teil auch Bewerber aus anderen Fächern, zum Beispiel aus der Psychologie im Bereich Wirkungsforschung. Da wurde ganz häufig gesagt: Die sind ja nicht im Kern des Fachs. Mindestens genauso viele andere haben gesagt: Ja, und? Die machen doch die bessere Forschung. Wozu braucht man eine Fachidentität, die sich an Disziplingrenzen orientiert? Das ist zwar institutionell wichtig, aber sonst doch nicht. Die Tendenz ging dann tatsächlich eher aus dem Fach raus und hin zu dem, was man als höherwertig ansah. Die Frage von Fachgeschichte nach der Identität ist nur eine Teilfrage, die andere im Fach nicht besonders interessiert.

Kaffeepause: Erik Koenen und Arnulf Kutsch (Foto: Markus Thieroff)

Kaffeepause: Erik Koenen und Arnulf Kutsch (Foto: Markus Thieroff)

Erik Koenen: Vielleicht nur als Hinweis. Vieles von dem, was gerade angesprochen wurde, spielt eine Rolle auf den Tagungen der Ad-hoc-Gruppe Wissenschaftskommunikation. Die machen mit hoher Resonanz vieles von dem, worüber wir gerade diskutiert haben. Das sollten wir im Blick behalten, mit dabei sein und Kooperationen suchen.

Michael Meyen: Da gerade der Kuchen kommt, vielleicht nur noch eine Anekdote. Ich habe ja auch Janet Bavelas (2012) interviewt, eine Psychologin, die mit Paul Watzlawick gearbeitet hat. Sie hat mir erzählt, dass man sich in der Kommunikationswissenschaft um sie gerissen habe, weil sie Psychologin ist. Umgekehrt wäre in den Psychologie-Departments niemand auf die Idee gekommen, eine Kommunikationswissenschaftlerin zu berufen.

3. Ist-Zustand und Desiderata

Michael Meyen: Auf meinem Zettel steht jetzt der Ist-Zustand. Darüber und über Desiderata haben wir ja schon in der ersten Runde gesprochen, wie ja auch schon über die Stellensituation und das Akzeptanzproblem. Zum Auftakt vielleicht nur wenige Schlaglichter aus den Statements. Martina Thiele hat den Ist-Zustand als „besorgniserregend“ eingestuft, und Andreas Scheu hat von einer „Abwärtsspirale“ gesprochen. Da wäre zu fragen, von welchen Höhen wir kommen.

Andreas Scheu: Das war natürlich eine Polemik.

Michael Meyen: In der E-Mail haben Sie ja dazu geschrieben, dass das Papier etwas düster geraten sei. Die Stimmung wäre gerade so gewesen. Die Abwärtsspirale ist mit der gesellschaftlichen Legitimation begründet worden und mit der Stellensituation. Das war auch mit der Medialisierung verknüpft. Interessiert das eine Öffentlichkeit außerhalb des Fachs, was wir machen, wenn andere Kollegen sich zunehmend auf Themen konzentrieren, die sie auch an Journalisten verkaufen können? Für Fachgeschichtsschreibung in der Identitätsvariante, die Arnulf Kutsch beschrieben hat, gilt das sicher nicht. Vielleicht schon eher in der Version, die Gerd Kopper einfordert. Bei Martina Thiele klang bei der Diagnose „besorgniserregend“ eine Kritik durch an dem, was gemacht wird, vielleicht habe ich das aber auch falsch verstanden. Gerd Kopper hat kritisiert, dass der Kontext vernachlässigt wird. Politik, Wirtschaft, Universität, Ausland. Dazu kommt bei ihm Kritik an den Methoden. Das Stichwort ist hier Personalisierung, aber vielleicht schieben wir das dann in den dritten Block, zu den biografischen Interviews.
Martina Thiele und Maria Löblich haben gefordert, den Forschungsstand zur Kenntnis zu nehmen. Bei Maria Löblich war das verbunden mit dem Vorschlag, eine Bibliografie zu erstellen nach dem Vorbild von Jeff Pooley. Unser Vorschlag wäre, dafür BLexKom zu nutzen. Dort gibt es so etwas ja zumindest schon in Ansätzen, mit einer Link- und Literaturliste. Wir würden gern einen Mechanismus entwickeln, der uns hilft, das Wissen zu nutzen, das hier im Raum versammelt ist. Stefanie Averbeck-Lietz geht in ihrem Statement noch einen Schritt weiter. Sie vermisst dort eine „Gesamtgeschichte“.

Stefanie Averbeck-Lietz: Ich habe das nicht vermisst. Ich habe nur gesagt, dass es die nicht gibt. Ob man das braucht, ist ja noch eine andere Frage.

Michael Meyen: Okay, dann war das Wort vermisst zu stark. Auf jeden Fall steht in deinem Statement, dass vor allem für die Zeit seit den 1970er-Jahren nichts gemacht worden sei. Da würde ich leicht widersprechen. Zumindest die Dissertation von Andreas Scheu (2012) geht ja auch in diesen Zeitraum.

Stefanie Averbeck-Lietz: Die habe ich aber genannt.

Michael Meyen: Ja. Du schreibst dann auch von zwei Schulen, von der Leipziger Schule und der Münchner Schule. Ich kannte das schon aus dem zweiten Buch von Siegfried Weischenberg zu Max Weber, wo er ja von einer neuen Münchner Schule schreibt und uns einen Masterplan unterstellt, das Fach mit Bourdieu zu unterwandern (vgl. Weischenberg 2014). Von dieser Schule und von diesem Plan wusste ich vorher noch gar nichts. Die Wiener Schule fehlt bei dir, Stefanie, falls es die so gibt. Christian Schwarzenegger ist ja hier. Stefanie hat außerdem beklagt, dass die Außenwirkung der Fachgeschichtsschreibung zu schwach sei. Es gibt in den Statements eine ganze Reihe von Themenvorschlägen, die ja vorhin schon anklangen. Vergessene Ansätze zum Beispiel, Konjunkturen des Erinnerns bei Thomas Birkner und Christian Schwarzenegger. Internationale Vergleiche bei mehreren. Bei Erik Koenen das zeitungskundliche Entstehungsmilieu und die Vorgeschichte der Kommunikationswissenschaft als Zeitungkunde/Zeitungswissenschaft, bei Maria Löblich die Studierenden und bei Ingrid Klausing der Appell, über den Tellerrand hinauszuschauen und wahrzunehmen, was in der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte läuft. Das erklärt sich sicher durch ihre Beschäftigung mit der NS-Zeit. Das war das, was ich gefunden habe zu Ist-Zustand und Desiderata.

Martina Thiele: Ich kann das gleich erläutern mit dem „besorgniserregend“. Ich habe das einmal bezogen auf interne Faktoren. Innerhalb des Fachs gibt es wenig Rückhalt für diese Forschungsrichtung. Vor allem aber habe ich das auf externe Faktoren bezogen, Stichwort New Public Management. Wie hat sich die Universität verändert? Warum haben Geschichte und Fachgeschichte allein deswegen einen schweren Stand?

Michael Meyen: Dann geht es also vor allem um die Wahrnehmung, dass die Akzeptanz im Fach und der Druck von außen die Entscheidung schwer machen, die knappe Zeit, die man hat, diesen Themen zu widmen.

Martina Thiele: Es ging mir um die Strukturen, ja. Die Strukturen, die es schwer machen, sich mit Fachgeschichte Gehör zu verschaffen und entsprechende Veranstaltungen in die Curricula zu bringen.

Michael Meyen: Wenn ich hier in den Raum schaue, dann sehe ich sehr viele junge Leute. Offenbar gibt es ja heute doch mehr Kolleginnen und Kollegen, die sich mit dem Thema beschäftigen. Damals waren das Arnulf Kutsch und Hans Bohrmann.

Arnulf Kutsch: Es wäre sicher gut, sich über den Forschungsstand zu vergewissern. Als Grundlage eignet sich der Weg, den Maria Löblich vorgeschlagen hat, die Bibliografie. Die könnte man eventuell auch gemeinsam erarbeiten. Jeder von uns hat bestimmte Schwerpunkte und einen bestimmten Forschungsstand parat. Diese Kenntnisse könnte man doch arbeitsteilig zusammenbringen und online präsentieren.

Michael Meyen: Wenn wir dafür BLexKom nutzen wollen, steht für uns immer die Frage, wie wir den Leuten, zum Beispiel hier im Raum, das Gefühl vermitteln, dass es sich nicht um eine Privatangelegenheit handelt, sondern um ein Gemeinschaftsprodukt. Unser Ziel ist es ja, mit der Plattform eine Quelle für Fachgeschichte schaffen. Eine Bibliografie wäre dafür ein wichtiger Anfang. BLexKom will weniger selbst Fachgeschichte schreiben, sondern eher Quellen produzieren, die dann für ganz unterschiedliche Fragestellungen genutzt werden können.

Arnulf Kutsch: Man kann es natürlich beklagen, dass bestimmte Gegenstände an den Universitäten nicht behandelt werden. Man kann dagegen aber etwas tun, auch jenseits der Professuren von Michael Meyen und Stefanie Averbeck-Lietz, die ja wohl die einzigen Professuren unseres Fachs in Deutschland sind, von denen man Anregungen für die fachgeschichtliche Forschung erwarten kann, vielleicht auch eine strategische Planung für das Forschungsfeld Fachgeschichte. Man kann Themen für Examensarbeiten anregen und vergeben, auch für Dissertationen. Hier ist eine kleine Fachgruppe versammelt, in der man erörtern sollte, ob und welchen fachhistorischen Schwerpunkt man mit den verfügbaren Ressourcen gemeinsam bearbeiten könnte, vielleicht auch in Verbindung mit ausländischen Kollegen. Natürlich könnte man sich mit Machtstrukturen in unserem Fach beschäftigen, aber beispielsweise auch mit der Konzeption einer transnationalen Fachgeschichte oder – um ein weiteres Beispiel zu nennen – im Anschluss an Simpson (1994) mit der Frage, ob und in welchen Dimensionen die Forschung in unserem Fach durch die Auslobung und Vergabe von Forschungsaufträgen von außen beeinflusst wurde.
Ein Leitgedanke für die Konzeption eines gemeinsamen Forschungsvorhabens könnte sein, ob die fachgeschichtliche Forschung durch die Auswahl eines bestimmten Problemkomplexes höhere Aufmerksamkeit in unserem Fach erlangen kann. Dieser Aspekt ist bereits mehrfach angesprochen worden. Sinnvoller erscheint mir als Leitgedanke: Gibt es aktuelle fachliche Forschungsprobleme oder Erkenntniszusammenhänge, zu deren Lösung unsere fachgeschichtliche Kompetenz beiträgt und ihr dadurch Relevanz in unserem Fach verschafft? Die Erörterung solcher Fragen könnte ein Gegenstand eines nächsten Treffens dieses Kreises sein.
Bemerkenswert finde ich, was Frau Thiele gesagt hat. Während meiner Tätigkeit an der Universität hatte ich eigentlich immer die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, welche Themen ich in den Vorlesungen behandele und was ich in meinen Seminaren thematisiere. Mit Erstaunen habe ich jetzt gehört, dass es offensichtlich universitäre Kommissionen gibt, die auch über die einzelnen Seminarthemen von Kolleginnen und Kollegen entscheiden.
Bei den Entwürfen und Reformen von Studiengängen habe ich versucht, die Kommunikationsgeschichte und auch die Fachgeschichte zumindest optional zu verankern. An komplexer aufgebauten Fachinstituten wie demjenigen der Universität Leipzig besteht die Notwendigkeit, sehr viele Teildisziplinen zu integrieren. Das kann gelingen durch generelle Moduldenominationen, deren spezielle Themen oder Gegenstände in der Praxis von den einzelnen Kolleginnen und Kollegen je nach ihren spezifischen Forschungs- und Lehrinteressen bestimmt werden. Ich bin der Auffassung, dass es in den fachlichen Studienplänen eine Lehreinheit zur Geschichte des Fachs und ebenso zur historischen Entwicklung der Medien geben muss, welche Epoche oder welches Thema auch immer im Einzelfall behandelt werden. Denn es gibt fraglos viele Studenten, die sich dafür interessieren, wie das Fach, das sie studieren, entstanden ist und wie es sich in den zurückliegenden 100 Jahren entwickelt hat.

Thomas Birkner (Foto: Markus Thieroff)

Thomas Birkner (Foto: Markus Thieroff)

Thomas Birkner: Vor der Kaffeepause haben wir ja auch über Macht und Machtpole gesprochen. Ich fand gut, dass Michael Meyen und Thomas Wiedemann jetzt noch einmal deutlich gemacht haben, wie sie BLexKom verstehen. Als Ressource vor allem. Man darf dabei aber den blinden Fleck nicht vergessen. Durch die Art und Weise, wie dort Fachgeschichte geschrieben wird, ist das auch ein Machtpol. Zumindest wird das als solcher gesehen. Ablehnung gegenüber Fachgeschichtsschreibung kann auch Ablehnung gegenüber einer bestimmten Richtung von Fachgeschichtsschreibung sein. Deshalb ist der Hinweis wichtig, dass das auch als Ressource verstanden wird und dass man sich um Pluralität bemüht. Herr Kutsch hat ja gerade gesagt, dass es außer Stefanie Averbeck-Lietz in Bremen keine weitere Professur gibt, an der Fachgeschichte verankert ist, auch in Leipzig jetzt ja nicht mehr. Deshalb ist Reflexion wichtig. Wenn es um Fachgeschichte geht und wenn man da fast ein Monopol hat, dann sollte man in Rechnung stellen, dass man selbst dieser Machtpol ist.

Martina Thiele: Vielleicht unmittelbar dazu, obwohl das mehr mit den Methoden zu tun hat, aber auch mit Bezug zu BLexKom. Wir haben ja gehört, dass sich Herr Kopper in gewisser Weise verweigert hat oder gewehrt. Sie wollten nicht, dass Sie interviewt werden und dass über Sie geschrieben wird. Sie hatten das selbst in der Hand. Auf BLexKom gibt es einige Menschen, die sich nicht mehr wehren können, weil sie tot sind, klar. Es wurde aber auch über einige geschrieben, die noch unter den Lebenden weilen, manchmal auch ohne Rücksprache. Da wird es heikel und ein bisschen gefährlich. Vielleicht kommen wir darauf später noch, da stellt sich für mich die Machtfrage aber auch noch einmal: Wer schreibt über wen? Wir wollen natürlich nicht, dass das nur die Schüler und die Kofferträger machen, die sowieso schon 25 Jahre mit der Person zusammengearbeitet haben. Das ist natürlich ein Dilemma. Oder sollen es die sein, die ganz weit weg sind und keine Ahnung haben? Das sind ja wahrscheinlich Fragen, die Sie sich auch stellen.

Michael Meyen: Ja, klar. Ganz konkret vielleicht der letzte Fall. Wir haben jemanden gesucht, der über Hans Mathias Kepplinger schreibt, und gefunden haben wir einen Schüler von Kepplinger. Unsere Entschuldigungsstrategie ist ganz einfach: Eigentlich geht es uns um die Daten. Geburtsort, soziale Herkunft, Stationen, wichtigste Werke. Das ist als Quelle wichtig. Dass der Prosatext dann bei einem Schüler oder bei einem engen Weggefährten etwas anders ausfällt als bei einem Fachhistoriker, der aus der Distanz urteilen kann, das nehmen wir in Kauf, auch weil wir auf diese Weise ja unsere Autorenbasis erweitern und damit hoffentlich auch die Wahrnehmung im Fach. Vielleicht noch zu Weigerungen. Wir hatten ein Interview, das perfekt war.

Martina Thiele: Inwiefern perfekt?

Michael Meyen: Das hat so viel erzählt über Fachstrukturen in den 1970er- und 1980er-Jahren. Der Kollege hat das Gespräch dann nicht autorisiert und gesagt, er sei noch nicht so weit. Er habe noch nicht genügend Distanz, um seine Sicht auf die Dinge schon öffentlich zu machen. Wobei er schon über 70 ist.

Gerd Kopper: Ist der Fall jetzt aufgerufen? Der Fall Biografien?

Michael Meyen: Eigentlich noch nicht. Wir sind ja noch bei „Ist-Zustand und Desiderata“. Da es vorhin um Themen und Förderanträge ging: Eine unserer Ideen ist die akademische Journalistenausbildung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem vor dem Hintergrund, dass sich diese Studiengänge langsam wieder aus der Universität verabschieden, noch nicht überall, aber zumindest in Deutschland. Wir haben entsprechende Kontakte nach Spanien, nach Skandinavien, nach Rumänien, auch nach Russland.

Arnulf Kutsch: Die Frage nach den unerforschten Themen oder Feldern mündet wohl ins schier Endlose. Denn man wird immer irgendeine Fragestellung oder irgendeinen Gegenstand finden, den es noch zu erforschen gilt. Ich würde das Problem eher positiv wenden und, vielleicht gemeinsam, systematisch festzustellen versuchen: Was wurde bisher erforscht, wo lassen sich in dieser Systematik Schwächen, Lücken oder sogar blinde Flecken erkennen und gibt es andererseits Forschungsinteressen, Kapazitäten und Zeit für – möglicherweise gemeinsame – Forschung, um solche Lücken oder blinde Flecken zu beseitigen?

Michael Meyen: Ich will nur darauf hinweisen, dass unsere beiden Professuren nicht für Fachgeschichte ausgeschrieben waren.

Stefanie Averbeck-Lietz: Ich habe ja nicht mal eine Vorlesung zur Fachgeschichte wie du. Bei uns gibt es das nicht. Ich mache das einfach.

Michael Meyen: Bei mir heißt die Stelle Allgemeine und Systematische Kommunikationswissenschaft. Das hat erst mal nichts mit Fachgeschichte zu tun, es sei denn, ich mache das. Wir haben ja viele künftige Professoren im Raum, die diese Möglichkeit dann auch haben werden.

Stefanie Averbeck-Lietz: Ich finde, dass es durch die dynamisierten Studiengänge viel schwieriger geworden ist, den Nachwuchs dafür zu begeistern. Ich habe die Studenten einmal in der Einführungsvorlesung und dann sehe ich sie vielleicht zweieinhalb Jahre später wieder in einem Kurs, in dem es um etwas ganz anderes geht. Da bekomme ich die einfach nicht mehr dazu, sich in die Annalen der Fachgeschichte einzulesen. Das ist denen viel zu viel Aufwand. Es gibt nicht mehr diese Fangemeinschaft, wie wir das bei Arnulf Kutsch in Münster waren, Semester für Semester. Das ist ja vorbei. Du schaffst das ja viel besser. Wie machst du das? Du hast ja hier die ganzen Leute, die dazu promoviert haben. Du bist natürlich auch schon so lange Professor.

Michael Meyen: Das ist auch in solchen Seminarkontexten entstanden, in vierstündigen Seminaren. Erst zur Institutsgeschichte (vgl. Meyen/Löblich 2004, Meyen/Wendelin 2008) und dann zur Öffentlichkeitstheorie (vgl. Wendelin 2011), zum Selbstverständnis von Professoren (vgl. Huber 2010), zur kritischen Theorie (vgl. Scheu 2012), wo wir Horst Holzer gelesen haben, Franz Dröge, Walter Benjamin. In jedem Seminar waren an die 30 Leute. Daraus sind dann auch Magisterarbeiten geworden (vgl. Scheu 2005, Scheu/Wiedemann 2008) und Masterarbeiten und ein paar von den Leuten haben weitergemacht. Es fängt also mit einem Forschungsseminar für Fortgeschrittene an.

Erik Koenen: Ich kann nur aus meiner Bremer Erfahrung berichten. Unsere einzige Spielwiese in der Lehre ist dort das Modul M8/9. Das ist aber auch die Spielwiese der Studierenden.

Michael Meyen: Und die wollen nicht spielen.

Erik Koenen: Die wollen nicht spielen. Ich hatte ja in diesem Semester etwas zu 100 Jahren angeboten.

Stefanie Averbeck-Lietz: 100 Jahre Kommunikationswissenschaft in Deutschland.

Erik Koenen: Das hat nicht gezogen. Am Ende hatte ich gerade einmal sechs Leute.

Andreas Scheu: Da hast du ja noch Glück gehabt. Thomas Birkner und ich wollten auch mit Blick auf 100 Jahre und die kommende Tagung in Münster etwas anbieten zur Institutionalisierung des Fachs in Münster. Ein Forschungsprojekt mit Interviews und so weiter. Null Anmeldungen.

Erik Koenen: Ich hatte auch viele Ideen. In Richtung Ausstellung oder Blog zum Beispiel. Man kann da ja viel machen. Aber das scheitert einfach am Desinteresse.

Stefanie Averbeck-Lietz: Bei Herrn Kutsch sind ja am Ende auch nur wenige übrig geblieben. Das machte damals aber nichts, weil wir immer wieder zu ihm kommen konnten und dort weitermachen. Das ist aber nicht mehr gewährleistet. Das führt zu einer Form von Mainstream. Wir haben zwar das eine Modul, was relativ frei ist, aber man muss sich rechtfertigen, wenn die Seminare dann zu klein sind.

Mandy Tröger: Ich versuche vielleicht mal einen anderen Zugang. Am Anfang meines Promotionsstudiums in den USA habe ich auch ein Fachgeschichtsseminar besucht, zwei Semester lang. Vielleicht wäre es gut, sich bei solchen Veranstaltungen eher auf Ideen zu konzentrieren als auf Institutionen. Ideengeschichte. Vieles von dem, was man dann in den Texten findet, hat ja mit Problemen der Medien zu tun, mit Kommunikation, mit dem, was auch sonst im Fach heute absolut relevant ist. So kann man Studenten leicht an das Thema heranführen und sie zugleich davon abhalten, das Rad neu zu erfinden. Das ist für mich ein wichtiges Argument für Fachgeschichte. In den Texten erkennt man, dass vieles schon durchdacht wurde. Was wir jetzt über die Probleme der Fachgeschichte gesagt haben, ist ja nur ein Ausschnitt aus dem viel größeren Problem, wie wir mit Geschichte generell umgehen. Fachgeschichte kann die Erkenntnis bringen, dass es schon viel Arbeit und viele Ideen gab, die man ins Hier und Jetzt transportieren kann. Das zieht dann auch Studenten an.

Martina Thiele: Theorie ist ja auch immer so ein Schreckgespenst. Genauso ein Label wie Geschichte oder Fachgeschichte. Solche Label sollte man tunlichst vermeiden, weil es bei den Curricular-Kommissionen nicht ankommt und bei den Studierenden auch nicht. Ich biete deshalb Mogelpackungen an und mache dort trotzdem Mediengeschichte oder Fachgeschichte. Ich vermittele da das, was ich für wichtig halte. Und dann gibt es auch dieses Aha-Erlebnis, von dem Sie gesprochen haben, Frau Tröger. Das gab es ja schon mal.

Mandy Tröger (Foto: Markus Thieroff)

Mandy Tröger (Foto: Markus Thieroff)

Mandy Tröger: In den USA gibt es ja Leute wie Simpson (1994), der Zugang zu den Quellen hatte und dann eine bestimmte Art von Fachgeschichte schreiben konnte. Wenn man das aber so nicht kann: Was gibt es dann für Alternativen? Vielleicht kann man das so machen, wie Sie in Ihrem Thesenpapier vorgeschlagen haben, Herr Kopper. Fachgeschichte schreiben, in dem man sich nicht aufs Fach konzentriert, sondern auf gesellschaftliche Strömungen. Es ist ja viel passiert. Es gab Medienkritik in den Medien, gerade in den 1960ern und 1970ern. Das fällt vielleicht aus der engen Fachgeschichte heraus, ist aber gesellschaftspolitisch relevant. Man kann sich den Überbau anschauen, die Wissenschaftsgeschichte allgemein, und dann die KW darin platzieren. Wir konzentrieren uns so sehr aufs Fach, was ja auch Sinn macht, aber gerade in den USA gibt es Versuche zu zeigen, was an Medienkritik außerhalb des Fachs passiert ist. Und da ist eine Menge passiert. Da merkt man, dass man blind wird, wenn man sich nur auf das Fach fokussiert. So habe ich Sie verstanden, Herr Kopper. Dass man größer fragen muss. Das gilt ja auch für Einführungsseminare. Auch dort kann man gesellschaftlich relevante Sachen mit Blick darauf diskutieren, wie sie sich im Fach ausgewirkt haben.

Michael Meyen: Das wäre schwer zu verwirklichen, wenn man dem Vorschlag von Arnulf Kutsch folgt und Identität als Kern von Fachgeschichte sieht. Über Abgrenzung natürlich, aber das wäre ein Umweg.

Mandy Tröger: Letztlich steht dann ja die Frage, für wen ich Fachgeschichte schreibe. Für mich selbst oder für die Gesellschaft. Ich weiß natürlich, dass man als Kommunikationswissenschaftler grundsätzlich mit Identitätsproblemen zu kämpfen hat.

Michael Meyen: Arnulf Kutsch hat ja vorhin gesagt, er sei oft gefragt worden, warum er das tut, die Antwort aber gab es noch nicht.

Arnulf Kutsch: Da kann ich nur mit den Kollegen Birkner und Schwarzenegger auf das Problem der Erinnerung verweisen. Heute kann man sich vielleicht nur schwer vorstellen, dass in unserem Fach die Zeit des Nationalsozialismus schlicht ausgeblendet worden war. Darauf hat Kurt Koszyk (2000) eindrücklich verwiesen. Als ich zu Beginn meines Studiums im Herbst 1970 in den Seminarraum des Instituts für Publizistik am Domplatz 23 in Münster kam, hing dort eine große Wandtafel. Auf ihr war der „Baum der Publizistik“ von Hans Amandus Münster (1935: 11) abgebildet, dessen Herkunft und propagandistischen Gehalt wir als Studienanfänger überhaupt nicht verstanden und uns folglich damit auch nicht weiter auseinandersetzten (vgl. Averbeck 1999: 133). Gesehen haben wir die Tafel mehrmals in der Woche, erklärt hat uns aber diesen „Baum“ aber niemand – auch nicht, warum dieses nationalsozialistische Relikt der Fachgeschichte dort hing. Ein Pendant dazu war der Atlas, den wir im Gymnasium bis etwa zur Untersekunda als Lernmittel benutzten: In ihm war noch das sogenannte „Großdeutsche Reich“ in den Grenzen von 1937 gestrichelt eingezeichnet. Die beiden Beispiele verweisen in etwa darauf, was Gerd Kopper angedeutet hat: Es gibt fraglos eine gesellschaftliche oder politische Großwetterlage, die nachhaltig auch die Bildung überwölkt – in diesem Fall als Verdrängung.

Arnulf Kutsch (Foto: Markus Thieroff)

Arnulf Kutsch (Foto: Markus Thieroff)

Als ich Student im dritten oder vierten Semester war, thematisierten Winfried B. Lerg und Michael Schmolke in ihren Seminaren fachhistorische Fragen. Abgeleitet von seiner gemeinsam mit Franz Dröge veröffentlichten Studie zur Ideologiekritik der Kommunikationswissenschaft (vgl. Dröge/Lerg 1965) bot Winfried B. Lerg 1972 oder 1973 ein Hauptseminar an, das sich auch mit der Geschichte des Fachs während der nationalsozialistischen Diktatur beschäftigte. Zusammen mit meinen Kommilitonen Dieter Soika und Peter Raatz habe ich mich dann dort mit der Funktion des Kommunikators in der publizistischen Lehre von Hans Amandus Münster beschäftigt. Einen starken fachhistorischen Impuls vermittelte vor allem Hans Bohrmann, als er 1972 von Berlin nach Münster kam. Mit ihm habe ich über Walther Heide und der von ihm 1933 gegründeten Fachgesellschaft, den Deutschen Zeitungswissenschaftlichen Verband, gearbeitet (vgl. Bohrmann/Kutsch 1975), über Karl d’Ester, den Lehrer und Freund von Heide, mit dem er zusammen seit 1926 die erste fachwissenschaftliche Zeitschrift Zeitungswissenschaft herausgab, sowie über die eigentümliche Spezialität Rundfunkwissenschaft im Dritten Reich (vgl. Bohrmann/Kutsch 1975/1976). Unser wichtigstes Motiv und Ziel war es, Licht in die verdrängte Geschichte des Fachs während der nationalsozialistischen Diktatur zu bringen.
Jeder von Ihnen weiß, was es erfordert, sich in ein unbekanntes und weitgehend unerforschtes Gebiet einzuarbeiten – damals übrigens noch ohne Internet, Online-Datenbanken und fast bis zum Ende meines Studiums auch ohne Kopierer. Manche Fernleihbestellungen dauerten Monate. Schnelle Ergebnisse waren unter diesen Bedingungen nicht zu erreichen. Faktisch haben wir bei Null angefangen und mussten lange Tage in Bibliotheken recherchieren, Bibliografien wälzen, Fachzeitschriften systematisch per Autopsie bibliografisch auswerten und die ermittelten Aufsätze oder Artikel exzerpieren. Mit Hans Bohrmann habe ich auch in Archiven gearbeitet und eine Reihe von Zeitzeugen aus dem Dritten Reich befragt. Eine groß angelegte Untersuchung zur Zeitungswissenschaft im Dritten Reich ließ sich wegen der mangelnden Forschungslage nicht verwirklichen, eher Vorarbeiten in Form von Fallstudien, aus denen sich vielleicht eine fachhistorische Perspektive eröffnete, zumal damals auch solche theoretischen Anknüpfungspunkte nicht auf der Hand lagen, über die vorhin gesprochen wurde.

Michael Meyen: Dann war der Baum der Publizistik also irgendwann gefällt, aber man arbeitet weiter, weil man sich damit ein Forschungsfeld erschlossen hat. Bei mir hat das ja mit dem Fischer-Lexikon angefangen, das ich mir gekauft habe, um zu verstehen, was das Fach macht. Ich wollte verstehen, was die Leute da in Leipzig machen. Das führte dann zur Fachgeschichte.

Ingrid Klausing: Ich wollte zu Arnulf Kutsch etwas sagen, zu dem Satz, dass es gerade in der Kommunikationswissenschaft keinen Link zur Vergangenheit gab. Ich bezweifle, dass das nur in unserem Fach so war. Das ist auch das, was ich gemeint habe mit dem Statement, man solle auch auf andere Fächer schauen. Wir wiederholen ja immer wieder, dass das gerade bei uns so war mit dem Dritten Reich. Die Pöttker-Geschichte (vgl. Pöttker 2002), die Spirale des Schweigens (Duchkowitsch et al. 2004) und so weiter. Ich habe den Eindruck, dass die Kommunikationswissenschaftler sich darin suhlen. Ich habe ja Bibliothekswissenschaft studiert, 1978. Da gab es die berühmten Bibliografien von Kirchner (1928-1931) und Bömer (1929). Alles große Nationalsozialisten. Das habe ich jetzt erst erfahren, in der Beschäftigung mit meinem Promotionsthema. Deshalb würde es nicht schaden, auf die Wissenschaftsgeschichte zu schauen und auf andere Fächer. Das relativiert das ein bisschen.

Erik Koenen: In der Soziologie passiert da gerade wieder sehr viel. Die Debatte zur Soziologie in der NS-Zeit ist wieder aktuell und bei Suhrkamp ist gerade ein dicker Band dazu erschienen (vgl. Christ/Suderland 2014). Und dort wurde jüngst auch ein dickes Handbuch veröffentlicht, international besetzt. Soziologiegeschichte, wie schreibt man das überhaupt (vgl. Dayé/Moebius 2015). Da kann man viel lernen.

Michael Meyen: Noch nicht aufgelöst haben wir die Punkte, die mit BLexKom und dem biografischen Zugang zusammenhängen. Thomas Birkner hat blinder Fleck gesagt. Darüber nachdenken, dass man selbst zum Machtpol wird, wenn man Fachgeschichte schreibt.

Thomas Birkner: Man könnte so verstanden werden.

Michael Meyen: Oder so. Wir hatten dann die Frage: Wer schreibt über wen? Die Weigerung eines Kollegen, ein schon gegebenes Interview zu autorisieren. Das Distanzproblem. Viele Fragen offen.

Mandy Tröger: Das ist ja ein ganz grundsätzliches Problem. Eines der Probleme der Geschichtswissenschaft, theoretisch und methodisch. Vielleicht sollte nur ein Historiker die Geschichte der KW schreiben. Herr Kopper sagt ja: ein Anthropologe. Auf jeden Fall ein Fachfremder, um das zu lösen. Jemand, der keine Interessen hat. Gerade wenn es um Macht geht. Letztlich kann es ja nur darum gehen, so etwas offenzulegen. In der Geschichtswissenschaft hat man sich längst vom Gedanken der Objektivität verabschiedet. Die Sozialwissenschaften hängen da noch etwas hinterher.

Michael Meyen: Nur zwei Punkte. Ich glaube erstens, dass sich die Historiker nicht für unser Fach interessieren. Und zweitens kommt dann eine ganz andere Erkenntnisperspektive hinein. Es gibt jetzt zwei Historiker, die begonnen haben, die Geschichte des Roten Klosters in Leipzig zu schreiben (vgl. Schemmert/Siemens 2013). Die stellen ganz andere Fragen als wir. Da geht es nicht um die Theoriebestände der Disziplin, um die Methoden oder um eine Einordnung in die weltweite Fachentwicklung, sondern um die Rolle von Remigranten aus dem Westen oder um die Disziplinierung der Absolventen.

Martina Thiele: Sie haben das ja eigentlich schon selbst gesagt, Frau Tröger. Das fand ich sehr gut: fachfremd, fachnah. Sie haben zunächst dafür plädiert, dass Historiker die Geschichte der KW schreiben, aber das löst das Problem nicht. Sie haben selbst ein Rezept angeboten: die Offenlegung der eigenen Position. Dazu muss man erst einmal eine Position haben und die dann auch publizieren. Von welchem Standpunkt aus schreibe ich Geschichte? Das ist zugleich mein einziger Kritikpunkt am Thesenpapier von Gerd Kopper. Ich frage mich, ob dieser holistische Zugang funktionieren kann. Das ist eine ganz grundsätzliche Debatte, die in der Anthropologie wahrscheinlich schon von Anfang an geführt wird. Kann man sich tatsächlich so weit distanzieren, dass man eine Vogelperspektive einnimmt? Kann man wie ein Gott sagen: So ist es gelaufen? Wir sind ja immer auch eingebunden und keine weißen Blätter. Wir haben eine Sozialisation im Fach durchlaufen. Das müsste man thematisieren, wenn man Fachgeschichte schreibt.

Gerd Kopper: Wir sind jetzt bei biografischer Methode?

Michael Meyen: Wenn Sie es sagen, dann sind wir jetzt dort.

Gerd Kopper: Vielleicht aber erst zu dem, was gerade eben gesagt worden ist. In der Tat ist es so, dass die holistische Methode in der Anthropologie schon so weit in die Verdammnis geraten war, dass sich ihrer niemand mehr bedienen durfte, wollte, sollte. Meine Referenzen sind aus einer neueren Generation, die der Markt hervorgebracht hat. Das nur zur Erklärung.
Was zu dieser biografischen Methode bisher gesagt wurde, umfasst schon fast das gesamte Spektrum dessen, was man da an Kritik hervorbringen könnte. Auch das muss ich jetzt nicht wiederholen. Zwei Sachen finde ich allerdings wichtig. Hier wird erstens tatsächlich eine Definitionsposition wahrgenommen, selbst wenn man das dann in irgendwelchen Texten oder Klammerbemerkungen relativiert. Keiner wird das glauben. Sie sind in der Regel die Interviewer, Sie stellen die Fragen. Wir kennen das aus den Einführungen in den Journalismus: In der Art, wie ich die Fragen stelle, positioniere ich das Gegenüber. Sie kriegen dadurch bestimmte Sachen raus und andere nicht. Sie gehen also einen bestimmten Weg zu einem bestimmten Ziel. Mein Eindruck ist, dass das im Fach so wahrgenommen wird. Das war nicht meine Kritik, sondern ich will nur deutlich machen, dass das keine Einzelmeinung ist und keine Außenseitersicht. Meinen zweiten Punkt könnte ich Ihnen an praktisch allen Interviews zeigen, bei denen ich die Interviewten kenne und sie in Situationen erlebt habe, in denen es um Universitätspolitik ging oder um Berufungen. Das Material ist teilweise schlicht falsch. Oder deutet Zusammenhänge an, die so gar nicht existiert haben. Das lernt ja jeder Jurist im Strafrecht, was es auf sich hat mit Zeugenbefragungen, bis hin zum Geständnis. Bin ich ein Mörder, wenn ich die Tat gestanden habe? Was ich damit sagen will: Vielleicht ist es hilfreich, dieses Material zu haben, aber die Position, die es einnimmt, ist ein Problem. Zum einen müsste der Wert eingegrenzt werden in Richtung Hilfsmaterial oder gute Ressource. Das ist hier ja wiederholt gesagt worden. Und zum anderen ist das ein ziemlicher Haufen scharfer Munition, da es nicht so leicht andere fachgeschichtliche Materialien gibt, außer man geht noch mal in die Bibliothek.

Michael Meyen: Munition, die leicht in die falschen Hände geraten kann.

Gerd Kopper: Letztlich scheint mir doch der klassische Umgang mit Autobiografien besser. Thomas Mann, 30 Jahre tot, jetzt kann ich seine Tagebücher lesen.

Arnulf Kutsch: Ich teile diese Auffassung, Herr Kopper. In manchen Fällen der biografischen BLexKom-Interviews, das sage ich ganz offen, finde ich die Fragen irrelevant. Ich hätte andere gestellt. Man sollte sich bei der Lektüre dieser Interviews aber immer vergegenwärtigen, dass es sich nicht um letzte Erkenntnisse handelt, sondern um Zeitdokumente bzw. -eindrücke, um biografische Materialien für die Fachgeschichte. Und so verstehe ich diese Interviews auch. Deshalb geht Ihre Kritik eigentlich an dem Leser, der diese Interviews als eine erste Information, als Material benutzt, etwas vorbei. Biografische Forschung erfordert dagegen eine gewisse historische Distanz und sollte mit historischen Methoden arbeiten.

Gerd Kopper: Das liegt aber daran, dass die Nebenwirkungen nicht mit dabeistehen wie bei der Apotheke. Das ist das Problem. Vor allem unsere Studenten sind nicht in der Lage, Distanz zu halten. Sie sind zu wenig dafür ausgebildet, sie wissen nicht, wie sie mit solchem Material umgehen sollen. Das finden unsere Journalistikstudenten im Internet und Punkt. Da hat bei mir das Nachdenken begonnen.

Michael Meyen: Immerhin: Die Studenten haben das genutzt.

Gerd Kopper: Wir sind ja hier in der Verbraucherberatung.

Arnulf Kutsch: Das ist ja eigentlich unsere Aufgabe. Gerade wegen der Herausforderung durch das Internet ist es unsere Aufgabe zu vermitteln, wie man Quellen benutzt und dass für fachgeschichtliche Untersuchungen eine Vielzahl von Quellen und Quellengattungen erforderlich und in den meisten Fällen auch verfügbar sind.

Gerd Kopper: Das ist das, worauf ich hinaus will. Auch Journalisten nutzen das einfach, jenseits des Fachs. Das wird regelmäßig falsch verstanden. Da können Sie noch so oft davor schreiben, was es ist und was es nicht ist. Da entstehen Wirkungen, die dann zu der Idee von der Machtposition führen. Das ist schon eine eigenartige Dimension. Ich hätte einen Vorschlag, wie man dem abhelfen könnte. Nämlich mit einer klassischen Wiki-Software. Das Endprodukt, das dann ins Netz gestellt wird, müsste vorher durch einen Prozess gehen, bei dem man als Herausgeber sicher sein könnte, dass andere daran mitgearbeitet haben. Verstehen Sie? Herr X wird interviewt, und andere können was dazu sagen.
Wir hatten ein Projekt, zum Mythos der 68er. Da ging es um eine bestimmte Studentengruppe. Da es dort keinerlei Dokumente gab, haben wir uns an einer neuen Form der Geschichtsschreibung versucht. Es gab ja viele Beteiligte, die das aus ganz unterschiedlichen Perspektiven erlebt haben. Was kommt zustande, wenn die alle nach einer bestimmten Struktur aufschreiben, was eigentlich war? Das Material ist interessant, weil es sich eben nicht um separate Interviews handelt. Die Quellen müssen interagieren. Da muss dann einer auch bekennen, dass er gar nicht auf dieser einen Versammlung war, wenn zwei Leute das wissen. Das heißt: Da findet ein Klärungsprozess statt.

Stefanie Averbeck-Lietz: Die Idee mit dem Wiki finde ich sehr gut. Aber das ist eigentlich ja etwas völlig anderes. Ich sehe die Interviews gar nicht als Form der Fachgeschichtsschreibung. Wenn ihr eure biografische Forschung macht, dann macht ihr ja nicht nur einfach ein Interview. Das wird ja dann aus ganz vielen verschiedenen Quellen generiert, die gegeneinander abgewogen werden. Da habe ich höchstens Probleme mit dem Habitus-Schema. Das ist ja immer gleich, aber das ist eine andere Frage.

Michael Meyen: Können wir gern diskutieren, klar.

Stefanie Averbeck-Lietz: Die Interviews sind sehr subjektiv. Das weiß man aber. Die Interviews sind ja auch nur eine Momentaufnahme. Manchmal ist es schwierig, sich dazu eine Meinung zu bilden. Man war nicht dabei, und man weiß, dass es interessengeleitet ist. Manchmal stimmen ja nicht mal die Jahreszahlen, die dort angegeben werden, wenn man das mit den Akten vergleicht. Das habe ich ja mit meinen Theoretikern auch erlebt (vgl. Averbeck 1999). Ich sehe das nicht als wissenschaftlichen Zugang sui generis, sondern ich lese das eher als journalistisches Produkt. Ich lese sie nicht als wahre Wahrheit.

Michael Meyen: Da verwechselst du aber Form und Inhalt. Das Vorgehen ist schon sehr systematisch, wenn das der Kern von Wissenschaft ist. Auch wenn Arnulf Kutsch manchmal andere Fragen stellen würde. Systematisch, intersubjektiv nachvollziehbar.

Stefanie Averbeck-Lietz: Ich meine ja eher die Antworten. Die Leute schauen sich ja nicht alle eure Fragenkataloge im Vergleich an. Die Antworten sind hochgradig subjektiv. Ihr filtert das zwar nicht, aber ihr versucht, sie zu steuern. Ich hätte eine ganz andere Frage: Wen würdest du nicht interviewen? Manchen Personen ist man vielleicht zu nah. Man kennt sie zu gut.

Michael Meyen: Das sind jetzt viele Punkte gewesen. Vielleicht zuerst: Die Interviews sind gebaut. Das sind Spiegel-Gespräche. Die Gespräche haben so nie stattgefunden. Die Texte baue ich und lege sie dann zur Autorisierung vor.

Stefanie Averbeck-Lietz: Aber du sprichst ja vorher mit ihnen.

Michael Meyen: Ja, klar.

Thomas Birkner: Das ist nicht wie bei Tom Kummer.

Michael Meyen: Vielleicht ein Extrembeispiel, weg von der Fachgeschichte. Mit Anke Fiedler war ich bei Hans Modrow (vgl. Meyen/Fiedler 2011). Er hat zwei Stunden geredet, ohne Pause. Ich habe daraus dann ein Interview gemacht. Fragen eingefügt und seinen Text so umformuliert, dass es wie ein Gespräch klingt. Und er hat das autorisiert. Das sind also alles Aussagen, die er so gemacht haben könnte. Die Form ist dann zwar journalistisch, das heißt: lesefreundlich, die Idee ist aber immer Quellenproduktion. Wir wollen Quellen schaffen, die es sonst nicht geben würde. Die Idee haben ja letztlich Arnulf Kutsch und Horst Pöttker (1997) geliefert. Kommunikationswissenschaft autobiografisch. Die beiden haben das damals damit begründet, dass es im Fach keine autobiografische Tradition gebe. Das kann mit der sozialen Position und mit der Herkunft der Fachvertreter zu tun haben.

Michael Meyen (Foto: Markus Thieroff)

Michael Meyen (Foto: Markus Thieroff)

Die Idee dieser Interviews ist also zunächst einfach, das festzuhalten, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Köpfen der Leute vorgeht. Die Probleme, die mit jedem Zugang über Zeitzeugen verbunden sind, die kennen wir natürlich. Dass die Vergangenheit nach den Interessen der jeweiligen Gegenwart umgedeutet wird. Dass die Befragten auch mich als Kanal nutzen, um alte Rechnungen zu begleichen und sich selbst in ein günstiges Licht zu rücken. Dass sie Geschichten erzählen, bei denen sonst keiner zuhört. Dass sie Dinge loswerden wollen. Wir sehen das also als Quelle. Wenn man zum Beispiel die Geschichte der Dortmunder Journalistik schreiben wollte, dann könnte man die subjektive Sicht von Günther Rager (2015) einbeziehen, aber man würde natürlich sehr viel mehr Quellen brauchen. Die anderen Beteiligten, Akten, Entwicklungen in anderen Ländern. Die Interviews sind also immer nur eine Quelle. Ich finde immer schade, wenn es diese Quelle nicht gibt. Weil sie niemand produziert hat, als es noch ging.
Dann ging es um die Machtposition der Interviewer. Die ist natürlich da. Das macht ja auch den Reiz aus. Das Mikro hinstellen und fragen dürfen. Der Interviewte ist dem aber nicht ausgeliefert. Er kann selbst Themen setzen und kann Dinge auch einfach streichen oder redigieren. Das passiert ja auch. Bei Manfred Rühl zum Beispiel (vgl. Meyen/Löblich 2007). Andere Fragen, andere Antworten. Auch gebaut, aber ganz nach seinem Geschmack. Man lernt da auch viel über Persönlichkeiten und darüber, wie wichtig den Leuten ihr eigener Platz in der Fachgeschichte ist. Wie viel Zeit verbringe ich da mit der Autorisierung.
Wen ich nicht interviewen würde? Bei den Jungtürken haben wir versucht, alle zu interviewen. Einer wollte nicht, Hansjürgen Koschwitz, und einer hat sich vorbehalten, nur schriftlich zu reagieren (vgl. Meyen/Löblich 2007). Bei den ICA Fellows hatte ich auch ein oder zwei Weigerungen, bei rund 60 Anfragen (vgl. Meyen 2012). Wenn jetzt Interviews dazukommen, dann meist, wenn mich der Fall interessiert. Jörg Becker zum Beispiel hat ja selbst Fachgeschichte geschrieben (vgl. Becker 2013, 2015). Ich wollte einfach seine Sicht hören und dann auch festhalten. Ihn als Teil des Feldes festhalten, obwohl er ja nie eine Professur im Fach hatte.
Zu den Fragen vielleicht noch. Hans Wagner zum Beispiel hat sich gewundert, dass wir auch nach seiner Kindheit gefragt haben (vgl. Meyen/Löblich 2007). Ich habe ihm dann die Theorieperspektive erklärt, für die das wichtig ist. Da brauchte es auch die Zeit vor dem Studium, um bestimmte Entscheidungen nachvollziehen zu können.

Gerd Kopper: Ist das nicht problematisch, wenn dadurch bestimmte Aussagen in die Welt gelangen und man von vornherein weiß, dass es dazu niemals ein konsequentes Gegenstück geben wird? Zu Aussagen über Kindheit und Jugend zum Beispiel. Der Interviewte weiß natürlich, dass er da Herr der Geschichte ist. Es kann keinen Widerspruch geben und es gibt keine Dokumente.

Michael Meyen: Sie haben ja vorhin die Wiki-Idee eingebracht. Ich habe überlegt, ob das nicht für die Serie an Interviews schon zutrifft, die ich mittlerweile geführt habe. Das ist ja dreistellig. Viele Interviewte kennen andere Interviews und reagieren darauf. Meine Ressourcen sind natürlich begrenzt. Aus der Generation, die nach den Jungtürken kommt, kann ich einfach nicht mehr alle befragen. Es kann also sein, dass ich Leute auslasse, vielleicht auch, weil sie mich persönlich weniger interessieren.

Gerd Kopper: Widersprüche entstehen ja nicht durch die Interviewten. Die versuchen ja nur, ihre eigene Position möglichst gefällig rüberzubringen. Ihren eigenen Mythos in einen Fachmythos umzuwandeln. Das ist eine hochsensible Materie. Wir sind ja nicht bei der Panzerschlacht von Kursk, wo die Historiker streiten, wer den letzten Schuss abgegeben hat, und das dann vielleicht sogar mit historischer Präzision feststellen können. In den Interviews werden Mythen aufgebaut, von denen klar ist, dass sie niemals widerlegt werden können. Niemals. Weil es keine Beweise gibt.

Arnulf Kutsch: Dann wissen Sie es aber auch nicht.

Gerd Kopper: Ich rede allein über das …

Arnulf Kutsch: … das Prinzip.

Gerd Kopper: Über den Kasus als erkenntnistheoretisches Problem. Ich habe das Herrn Meyen vorhin beim Mittagessen am Beispiel einer Historie von Berufungsgeschichten erzählt. Es gibt den klassischen Mythos, wie eine Berufung an einer deutschen Universität läuft. Sie kommen aber niemals dahin, dass der Ablauf so klar wird wie zum Beispiel bei der NS-Geschichte.

Michael Meyen: Seinen Mythos kann sich ja jeder auch ohne meine Hilfe aufbauen.

Gerd Kopper: Das ist jetzt falsch verstanden. Nicht in die Defensive gehen. Deswegen habe ich ja immer so beharrt auf meiner distanzierten Position. Es geht nicht darum, dass Sie etwas verbrochen haben sollen. Es geht um das erkenntnistheoretische Problem dahinter.

Thomas Wiedemann: Wir sollten dann doch die Interviews als das nehmen, was sie sind. Subjektive Zeugnisse, aufgenommen zu einem bestimmten Zeitpunkt, die nicht unsere wissenschaftliche Interpretationsarbeit ersetzen können. Wir nutzen das als Quelle, natürlich, aber als eine subjektive Quelle, die wir einer Quellenkritik unterziehen müssen. Wenn es die einzige Quelle ist, dann müssen wir das entsprechend markieren und die nötige Distanz einnehmen. Ich tue mich schwer damit, dass wir auf diese Form verzichten sollen, bloß weil es für Journalisten und andere verführerisch sein mag, dieses Material zu nutzen.

Thomas Birkner: Du hast gesagt, dass dich einige mehr interessieren als andere, Michael. Was ich betonen würde, Mandy Tröger hat das ja vorhin auch gesagt, ist, dass wir reflektieren müssen, dass eine solche Auswahl immer auch bewusst ist. Das ist mir einfach wichtig. Dann kann man auch dem Vorwurf begegnen, dass ihr eure eigene Fachgeschichte macht, mit der alle anderen schon deshalb nichts anfangen können, weil ihr da am Machtpol sitzt.

Michael Meyen: Bei dem Buch „Ich habe dieses Fach erfunden“ (Meyen/Löblich 2007) kam der Vorwurf eigentlich aus einer ganz anderen Richtung. Da wurden wir gefragt, warum wir X, Y und Z überhaupt interviewt haben. Die hätten das doch gar nicht verdient, in so einer Ahnenreihe zu stehen. Das Argument Vollerhebung hat da nicht gezogen.

Gerd Kopper: Das entspricht genau dem, was ich meine. Inhärente Mythologisierung. Jeder, der das Fach kennt und da auf eine Professorenstelle berufen wurde, ist ja in gewisser Weise ein Geheimnisträger. Er weiß um die Tatsache, dass bestimmte Behauptungen nicht widerlegt werden können. Wenn jemand in so einen Rahmen gestellt wird, der ja auch ein Podest bietet, vor allem noch mit diesem Titel.

Michael Meyen: „Ich habe dieses Fach erfunden“. Ein Ulrich-Saxer-Zitat.

Gerd Kopper: Gut. Es ist klar, worum es da geht. Dass einige dieses Ranking angreifen, hängt genau mit diesem Faktor zusammen. Mit diesem Schattenfeld der Selbstmystifizierung.

Michael Meyen: Das Stichwort war jetzt Geheimnisträger. Wir haben das immer auch als Experteninterviews gesehen. Experten interviewt man ja, wenn es exklusives Wissen an einer bestimmten Stelle gibt. Wissen, das so noch nicht aufgeschrieben wurde. Professoren haben ihr autobiografisches Buch in der Regel nicht geschrieben, aber sie haben dieses Geheimwissen. Dieses Wissen wollen wir für Fachgeschichtsschreibung verfügbar machen.

Gerd Kopper: Das wird aber nicht gelingen. Eine bestimmte Form der Fachgeschichtsschreibung, die man sich vielleicht sogar wünschen mag, ist leider nicht möglich. Sie werden keinen Hochschullehrer finden, der zu bestimmten personellen Konstellationen eine Aussage macht. Was, wer, wann, warum. Manches ist einfach tabu. Heute Morgen hatten wir ja das Thema Profession. Zu einer Profession gehört das Geheimnis.

Arnulf Kutsch: Da bin ich nicht so sicher.

Gerd Kopper: Gerade bei Personalkonstellationen wird die Geheimnisschwelle nicht überschritten. Das muss man einkalkulieren. Es gibt strukturelle Schwarzfelder. Das geht tiefer als die Verwertungsproblematik.

Arnulf Kutsch: Ich stimme Ihnen zu, Herr Kopper: Die BLexKom-Seite sollte darüber informieren, wie die Interviews entstanden sind. Diese Notwendigkeit ist mir durch die Geschichte über das Modrow-Interview noch einmal deutlich geworden. Worin ich Ihnen dagegen nicht zustimme, ist die Ansicht, dass sich Mythen nicht aufklären lassen. Ein solcher Standpunkt würde ja das Eingeständnis in die Unfähigkeit der historischen Methoden bzw. Forschung bedeuten. In der Rubrik „Personalien“ der Zeitschrift Publizistik sind beispielsweise bis in die 1960er-Jahre mancherlei unglaubliche Mythen über die nationalsozialistische Fachgeschichte veröffentlicht worden, wobei es ums Beschönigen, vor allem aber ums Verdrängen ging (vgl. Kutsch 2006). Solche Mythen zu erkennen, ist nicht immer leicht und erfordert einige Arbeit. Wir können durchaus zuversichtlich sein, dass mit Mythen umrankte Zusammenhänge von der Fachgeschichte irgendwann untersucht werden. Und wir sollten darauf vertrauen, dass diejenigen, die solche Zusammenhänge untersuchen, mit ihren Quellen kritisch umgehen. Hinzu kommt, dass diejenigen, die fachhistorisch arbeiten, die akademischen Strukturen kennen und beispielsweise wissen, wie Berufungskommissionen ablaufen. Jeder, der an einer Universität arbeitet, dürfte wohl für den kritischen Umgang mit Quellen aus dem akademischen Bereich besonders sensibilisiert sein.

Manuel Wendelin, Michael Meyen, Thomas Wiedemann, Mandy Tröger, Erik Koenen, Gerd Kopper (v.l.n.r., Foto: Markus Thieroff)

Manuel Wendelin, Michael Meyen, Thomas Wiedemann, Mandy Tröger, Erik Koenen, Gerd Kopper (v.l.n.r., Foto: Markus Thieroff)

Martina Thiele: Mich würde noch einmal Ihre Positionierung als Herausgeber interessieren, die vielleicht gar nicht bewusst sein muss. Wer ist zum Beispiel würdig, dort erwähnt zu werden? Sie haben ja gerade von Protesten erzählt. Wer hat nichts geleistet und ist deshalb nicht würdig genug? Ich finde, dass BLexKom da eine Gegenbewegung starten und auch die vermeintlich Unwürdigen aufnehmen könnte. Ich bringe ein Beispiel: Wilmont Haacke. Sehr umstritten (vgl. Scharf 2006). Es hat ja Anträge gegeben, an seinem Beispiel Geschichte aufzuarbeiten, Fachgeschichte, Institutionengeschichte. Die ersten Versuche sind gnadenlos abgeschmettert worden. Heute sehen wir das vielleicht schon etwas anders. Deshalb mein Plädoyer, auch die vermeintlich Unwürdigen mit aufzunehmen. Das zielt dann auf Vollständigkeit oder auf Fast-Vollständigkeit. Erst dann kann man sehen, welche unterschiedlichen Menschen es im Fach gibt. Sehen Sie das ähnlich? Oder wollen Sie nur die Happy Few und die Big Five?
Und dann noch eine andere Frage: Wo verlaufen bei Ihnen die Grenzen zwischen privat und öffentlich? Wie weit geht die Veröffentlichung des Privaten? Heute Morgen habe ich etwas gezuckt, als Sie das Handout ausgeteilt haben zu den DDR-Professoren und da die Rubrik „Beruf des Vaters“ stand. Das hat mich an die ersten Jahre im Gymnasium erinnert, an das Klassenbuch. Da stand das auch so drin. Das hat mich immer geärgert. Sind das Fakten, die wir brauchen? Im Nachhinein fand ich das dann doch aufschlussreich. Sie haben das ja erklärt und mit dem Generationenbegriff verbunden. Es gibt aber andere Beispiele. Sexuelle Orientierung. Ist das wichtig? Ich habe das mit Simonson und Park (2016) für den Band The International History of Communication Study diskutiert. Die wollten immer genau wissen, ob da was war. Waren die Frauen vielleicht nicht heterosexuell? Ich wollte mich dazu nicht unbedingt äußern (vgl. Thiele 2016). Wie weit soll man da gehen?

Michael Meyen: Vielleicht zuerst zu würdig. Es gibt eine Grundgesamtheit. Alle, die im Fach habilitiert sind oder hier eine Professur haben. Selbstständig lehren dürfen. Es gibt noch eine dritte Kategorie: Menschen, die einen besonderen Beitrag zur Fachentwicklung geleistet haben. Über diese Definition konnten wir zum Beispiel Walter J. Schütz aufnehmen, der ja nur eine Honorarprofessur hatte. Wir versuchen zum Beispiel schon eine Weile, Manuel Wendelin zu überreden, etwas über Erhard Schreiber zu machen. Schreiber durfte sich nicht habilitieren in München (vgl. Wendelin 2008), hatte ja aber mit dem Repetitorium ein wichtiges Lehrbuch, sogar in drei Auflagen (vgl. Schreiber 1990). Ein wichtiger Faktor ist also auch das Angebot. Wer schreibt etwas über jemanden? Haben wir eigentlich Wilmont Haacke?

Thomas Wiedemann: Haben wir, ja.

Michael Meyen: Das Kriterium Professur oder Habilitation sagt, dass diese Menschen das Fach prägen können. Man könnte natürlich auch über Dropouts schreiben, über diejenigen, die nicht lange im Fach waren, aber da fehlt dann oft auch der inhaltliche Beitrag. Es gibt aber kein Kriterium „würdig“. Jeder, der etwas beigetragen hat zum Fach, ist in diesem Sinne würdig.

Martina Thiele: Sie haben ja auch über Jörg Aufermann geschrieben, ohne dass er das gesehen hat. Das finde ich heikel.

Michael Meyen: Ja. Darf man schreiben, ohne es autorisieren zu lassen? In aller Regel lassen wir autorisieren. Ich glaube, Jörg Aufermann hat nicht reagiert. Mein Argument ist da: Professoren werden aus öffentlichen Mitteln bezahlt. Insofern hat die Allgemeinheit auch ein Recht zu erfahren, was diese Leute aus dem Geld gemacht haben. Inhaltlich, strukturell. Das sind letztlich Personen des öffentlichen Lebens, mit einem bestimmten Einfluss auch auf Lebenswege junger Menschen. Das führt direkt zu privat vs. öffentlich. Was ist an Informationen sinnvoll und was nicht? Beruf des Vaters ist einfach eine Kategorie der Sozialstruktur-Analyse. Wenn wir mit Bourdieu nach Habitus und Kapital fragen, dann ist das alles wichtig. Wo kommen die Leute her, wo beginnt ihre Lebensbahn? Sexuelle Orientierung: Das ist strittig. Wir haben ja einen Beitrag gemacht über Hertha Sturm (vgl. Mahler et al. 2008), da ist das im Text nicht so groß geworden, obwohl manches in ihrer Karriere besser erklärbar wird, wenn man die Details kennt. Es hängt also auch von der Fragestellung ab. Gerade bei Beiträgen über die Gegenwart und die jüngste Vergangenheit hat man in jedem Fall ein Distanzproblem. Ich könnte jetzt Geschichten erzählen über Reaktionen von Kolleginnen und Kollegen, die wie Anekdoten klingen, aber nicht so lustig waren. Die Kollegen fühlen sich von außen evaluiert und meist ungerecht beurteilt. Das liegt in der Natur dieses Beobachterblicks. Thomas Wiedemann (2012) hatte diese Probleme ja noch mit den Erben von Walter Hagemann.

Thomas Wiedemann: Da ging es unter anderem um die Frage, ob Hagemanns Frauengeschichten aufbereitet werden müssen.

Andreas Scheu: Die BLexKom-Einträge sind ja nur die eine Sache. Was ich da jetzt heraushöre: Es ist ein Bedürfnis nach mehr Transparenz zu spüren. Das ist ja leicht lösbar. Was Herr Kopper aber daneben auch angesprochen hat, ist das erkenntnistheoretische oder methodologische Problem, das wir bei biografischen Interviews haben. Das halte ich für bedenkenswert. Ich bin da völlig bei Herrn Kutsch. Diesem Problem kann man mit Quellenkritik begegnen. Wir sind ja nicht so naiv, dass wir Interviews als bare Münze nehmen. Der zweite Punkt war, dass es immer einen Kern gibt, der im Geheimen bleibt. Ein Arkanproblem. Das sehe ich gar nicht so problematisch. Für mich haben die Interviews eine Art Scheinwerferfunktion. Sie richten das Licht auf Zusammenhänge, denen ich dann nachspüren kann. Das liefert einfach Ansatzpunkte und Tipps für die Recherche. Interviews geben natürlich auch Auskunft über das Selbstbild von Wissenschaftlern. Wo wollen sie hin, wo kommen sie her? Das Arkan-Argument reicht mir nicht für eine Fundamentalkritik an biografischen Interviews. Um zu sagen: Die lohnen sich nicht.

Gerd Kopper: Was ich nie gesagt habe. Ich habe nur gesagt: Es wird ein Instrument angeboten. Man macht zwei Klicks und ist sofort im Arsenal. Dadurch entstehen bestimmte Probleme. Das ist anders, als wenn es der Kürschner wäre oder etwas Vergleichbares, mit diesen knappen Stichworten. Bei den Interviews geht es ja auch zur Sache, was dann auch die Reaktionen erklärt. Ich nehme mal ein anderes Beispiel: Wenn man fachgeschichtlich untersuchen wollte, warum es bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Kommunikationswissenschaft kaum Berufungen von Frauen gegeben hat, dann würden Sie die Beteiligten nicht zu der Sorte Äußerung bringen können, die Quellenbestand haben kann, historisch gesehen, methodisch gesehen. Das führt mich zu der erkenntniskritischen Feststellung: Wenn ich Historiker bin, muss ich doch da irgendwie weiterkommen. Normalerweise gehe ich jetzt in irgendwelche Akten oder in die Keller von irgendwelchen Generalswitwen, aber das gibt es hier alles nicht. Mir geht es gar nicht darum, die Münchner in einem blauen Licht erscheinen zu lassen. Mir geht es um bestimmte Feststellungen, die zur Fachgeschichtsschreibung gehören, mir aber zu kurz gekommen sind. Eine meiner Schlussfolgerungen ist eine größere Distanzierung. Das ist in meinem Schema der Indexierung vielleicht deutlich geworden. Man muss herauskommen aus diesem personalistischen Zugang und die Brennweite verändern, um eine universalistische Sichtweise zu erlangen. Das kann Wissensgeschichte sein. Oder die Umweltbedingungen, wie bei mir. Die Technik, die Ökonomie, die Wissenschaftspolitik. Die Nichtberufung von Frauen würde man als Historiker eher in den Griff bekommen, wenn man die Brennweite aufzieht und dann vergleicht, wie das zum Beispiel in anderen Disziplinen war. Woher kommt dann die zeitliche Verzögerung?

Michael Meyen: Je nach Fragestellung bekommen die Quellen natürlich einen anderen Wert, das ist klar.

Ingrid Klausing: Ich möchte noch etwas zum Thema Machtposition sagen. Die Machtposition ist wahrscheinlich allein schon durch die Existenz von BLexKom geschaffen. Also dadurch, dass es das gibt. Man kann natürlich argumentieren: selbst schuld, wenn die anderen nichts machen.

Michael Meyen: So habe ich immer argumentiert, ja.

Ingrid Klausing: Ich denke aber auch, man könnte das alles etwas transparenter machen. Sie könnten zum Beispiel dort schon jetzt alle Leute nennen, die eines Tages beschrieben werden, die sie im Endeffekt da haben wollen. Das würde die Kritik entschärfen, dass die besonders wichtig seien, die da jetzt schon auftauchen. Fakt ist ja, dass dort nur die Leute drin sind, über die jemand etwas schreiben wollte.

Michael Meyen: Sie haben ja etwas über Heinz Starkulla junior geschrieben.

Ingrid Klausing: Das ist ein gutes Beispiel. Starkulla oder auch Hans Bohrmann, über den ich ja auch geschrieben habe. Das war für mich überhaupt nichts Verwerfliches. Ich habe mich nur auf Dinge gestützt, die schon veröffentlicht waren. Festschriften zum Beispiel. Das war eine reine Fleißarbeit. So sollte man das auch betreiben. Ich muss da ja nicht die politischen Aktivitäten von Hans Bohrmann bewerten. Wenn transparent ist, wer alles aufgenommen wird, dann kann sich eigentlich auch jeder berufen fühlen, dort etwas zu schreiben.

Mandy Tröger, Erik Koenen, Gerd Kopper, Martina Thiele, Arnulf Kutsch, Ingrid Klausing, Andreas Scheu (v.l.n.r., Foto: Markus Thieroff)

Mandy Tröger, Erik Koenen, Gerd Kopper, Martina Thiele, Arnulf Kutsch, Ingrid Klausing, Andreas Scheu (v.l.n.r., Foto: Markus Thieroff)

Michael Meyen: Transparenz ist ja ein Ziel auch dieses Workshops.

Stefanie Averbeck-Lietz: Über die Interviews haben wir auf zwei verschiedenen Ebenen geredet. Es geht ja nicht so sehr darum, dass es sich dabei um Quellen handelt. Der Unterschied kommt ja erst dadurch, dass die Interviews publiziert sind. Ich kann ja als Wissenschaftlerin solche Interviews erheben und dann auswerten oder verarbeiten, quellenkritisch. In diesem Fall steht es ja einfach öffentlich so da. Das meinte ich mit dem Journalistischen.

Michael Meyen: Archive gehen ja auch mehr und mehr dazu über, Akten ins Netz zu stellen.

Stefanie Averbeck-Lietz: Es ist trotzdem ein Unterschied. Die Interviews sind ja auch für die Veröffentlichung gemacht. Du antizipierst das ja auch, dass sie publiziert werden.

Michael Meyen: Ja. Zweites Ziel von BLexKom ist auch Werbung für das Fach. Neben dem Schaffen von Quellen. Zum Beispiel Studierende für Fachgeschichte interessieren.

Stefanie Averbeck-Lietz: Ich finde das auch gar nicht negativ. Es macht nur einen Unterschied, wenn man es quellenkritisch betrachtet. Das ist das eine. Und dann wollte ich noch wenigstens einmal auf den Habitus eingehen, wenn ich darf.

Michael Meyen: Bitte.

Stefanie Averbeck-Lietz: Ich kam darauf beim Beruf des Vaters. Ich finde das schon interessant, weil es offenbar auf der Makroebene erschließt, dass Kinder aus Nichtakademiker-Familien einen besonderen Zugang zum Fach haben. Das kann man damit erklären. Das hast du jetzt nicht erzählt, aber bei den US-Interviews hast du ja herausgefunden, dass Frauen mehr Startkapital brauchen als Männer. So einen bildungsbürgerlichen Vorschuss (vgl. Meyen 2012). Ich finde das aber dann gefährlich, wenn man den Beruf des Vaters auf der Mikroebene als Begründung nimmt. Weil der Vater das war, passiert mit ihm oder ihr genau das. In euren Vorträgen ist das manchmal so, schon weil das da ja oft ins Anekdotische geht. Man muss nur zwei Geschwister haben, um zu sehen, dass das so nicht stimmt. Die haben ja alle den gleichen Vater. Das heißt: Auf der Makroebene finde ich das Habitus-Konzept sinnvoll, aber auf der Mikroebene greift es nicht. Bei Motiven von Einzelpersonen.

Michael Meyen: Ganz so deterministisch machen wir das hoffentlich nicht, gerade wenn es um Biografien geht (vgl. Wiedemann 2012). Da es ja vorhin um BLexKom ging: Einige hier wissen ja, dass der DGPuK-Vorstand unter Klaus-Dieter Altmeppen etwas dagegen hatte. Dort sah man das als Eingriff in die Außendarstellungshoheit der DGPuK. Es gab eine Initiative auf dem Treffen der Fachgruppensprecher, im März 2014.

Stefanie Averbeck-Lietz: Da haben aber auch einige etwas dagegen gesagt.

Thomas Birkner: Genau. Da war ich ja auch dabei. Daher kam auch mein Punkt, dass das als ein Machtpol verstanden wird. Den Umgang mit problematischen Quellen sollten wir mit historischem Knowhow gut hinbekommen. Das hat Herr Kutsch gesagt, Andreas Scheu und andere. Das ist auch die angenehme Herausforderung dieser Art von Forschung. Wichtig ist nur, an der Stelle auch für Transparenz zu sorgen. Das eigene Handeln reflektieren, das Sampling kritisch reflektieren.

4. Theorie, Quellen und Methoden

Michael Meyen: Da es auf 18 Uhr zugeht, will ich nur kurz die Punkte erwähnen, die ich noch in den Statements gefunden habe zu Theorien, Quellen, Methoden. Vieles haben wir ja gerade schon diskutiert. Noch nicht erwähnt wurde die Gefahr, Fachgeschichte könnte dienstbar werden, so geschrieben von Gerd Kopper. Dort gab es auch den Begriff personalistisch. Den Holismus haben wir schon erwähnt. Bei Thomas Wiedemann stand Bourdieu dagegen, wobei dann zu fragen wäre: warum Bourdieu und nicht holistisch? Oder umgekehrt für Herrn Kopper: warum Holismus und nicht Sozialtheorien, die die Komplexität etwas eingrenzen und nicht nur Faktoren benennen, die zu untersuchen sind, sondern zugleich auch mögliche Zusammenhänge modellieren? Dort gibt es ja auch immer den Anspruch, alles zu erklären. Martina Thiele hat nach der Auswahl gefragt, nicht nur von Personen, sondern auch von Ansätzen, Theorien, Methoden und auch von Bewertungskriterien.

Martina Thiele: Das hat Herr Kopper besser ausgedrückt. Er sprach von Leistungsanzeige und Konformitätsmustern. Nach welchen Kriterien beurteilen wir zum Beispiel, ob jemand würdig ist?

Michael Meyen: Auf meinem Zettel steht auch noch das Wort Distanzproblem. Ist es überhaupt möglich, Distanz zu bekommen, wenn man selbst zum Feld gehört? Akten kamen eigentlich nur in einem Statement vor, bei Stefanie Averbeck-Lietz. Gibt es überhaupt Akten, die mir bei meiner Frage helfen? Manuel Wendelin hat theoriegeleitetes und kategoriegeleitetes Arbeiten erwähnt, und bei Mandy Tröger und einigen anderen ging es um den internationalen Vergleich. Vielleicht gibt es auch noch andere Fragen, die offen sind.

Gerd Kopper: Nur ein kleiner Einschub. Was mir immer wichtiger zu sein scheint: Man sollte sich eingestehen, dass bestimmte Sachen nicht mehr rekonstruierbar sind, und dafür dann auch keine Energie mehr verwenden. Man sollte nicht glauben, dass man wie die Historikerzunft eine Fachgeschichtsschreibung machen kann, die tatsächlich an die Basisquellen geht und alles sehr sorgsam und umfassend dokumentiert. Das kann man aus meiner Sicht vergessen. Wo immer Sie hingehen, werden alte Akten im Container entsorgt. Die Münchner sind da wahrscheinlich wieder die große Ausnahme. In Berlin bestand die erste Amtshandlung von Harry Pross darin, sämtliche Akten seiner Vorgänger in eine Deponie wandern zu lassen. Das ist also eine aktenfreie Zone. Im Dortmunder Institut sind meine Bemühungen, für einen Aktenplan zu sorgen, auf absoluten Widerstand gestoßen. Niemand wollte archiviert werden. Kurzum: Auch hier gibt es keine Akten. Gar nichts. Wie das in Hamburg ist, weiß ich nicht. Mit den Abgängen von bestimmten Personen verschwinden die Sachen einfach.

Michael Meyen: Das Wort aktenfreie Zone gefällt mir. Das klingt nach Abrüstung, wenn schon so viel von Munition und Arsenal die Rede war.

Arnulf Kutsch: Solche Überlieferungslücken in den Quellenbeständen über Universitätsinstitute bestehen auch für die Jahre bis zum Ende der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkrieges. In den meisten Fällen gehen sie auf Kriegszerstörungen zurück. Über komplementäre Akten der Fakultäten, Rektorate, auch der Personal- und Haushaltsdezernate lassen sich die Lücken häufig einigermaßen schließen. Aber auch die Akten dieser universitären Einrichtungen sind natürlich nirgends vollständig überliefert.
Soweit es die Aktenüberlieferung der fachlichen Institute betrifft, dürfte Dortmund kein Einzelfall sein. Eigentlich müssten wir als Fachhistoriker durch einen Appell dafür sorgen, dass solche Überlieferungsprobleme künftig vermieden werden. Problematisch ist übrigens auch die Überlieferung von Akten der DGPuK und der Publizistik, für die vor etwa 40 Jahren ein Depositum im Bundesarchiv eingerichtet worden ist. Um hier Abhilfe zu schaffen, hat die DGPuK 2014 eine kleine Ad-hoc-Gruppe unter der Leitung von Oliver Quiring gebildet, mit Rudolf Stöber und mir. In einer Umfrageaktion wurden die ehemaligen DGPuK-Vorsitzenden und die Fachgruppensprecher gebeten, Akten, die DGPuK-Aktivitäten betreffen, in das bis dahin eher dürftige Depositum zu geben. Obwohl die Aktion in manchen Fällen erfolgreich war, fehlen für eine Reihe von Amtszeiten von DGPuK-Vorsitzenden die Akten komplett und lassen sich wahrscheinlich auch nicht mehr rekonstruieren.

Gerd Kopper: Solche Hindernisse halte ich für unüberwindbar. Dann bekommt man keine vernünftige historische Forschung. Sie wissen, was ich mit vernünftig meine. Natürlich aktenbasiert. Es sei denn, aus einer Gruppe wie dieser kommt jetzt eine Aufforderung. Ihr seid verpflichtet, vernünftig mit euren Akten umzugehen. Das halte ich allerdings für Utopie, in Kenntnis der Lebensweise von Professoren in unserem Fach.

Michael Meyen: Die Arbeit von Historikern wird jetzt vielleicht etwas idealisiert. Ich habe ja zur DDR-Agitationsbürokratie gearbeitet (vgl. Meyen/Fiedler 2011, 2013; Fiedler 2014). Da gibt es sehr viele Akten und Anweisungen aus den 1950ern und 1960ern, aber sehr viel weniger ab dem Moment, in dem das alles per Telefon läuft. Vieles ist da nicht mehr rekonstruierbar. Deshalb gebe ich aber nicht den Anspruch auf, eine Geschichte der Medienlenkung in der DDR zu schreiben. Dann muss ich eben andere Quellen heranziehen.

Gerd Kopper: Wenn aber nichts da ist? Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Es gibt eine fantastische Geschichte von Studienreformen für die Journalistenausbildung in Dortmund. Zahllose Papiere. Dieser ganze Aktenbestand war verteilt bei den Beteiligten, die sich nicht mehr darum gekümmert haben, als der Fall erledigt war. Heute ist es unmöglich, das historisch sauber zu rekonstruieren.

Stefanie Averbeck-Lietz: Bei mir war das vielleicht einfacher, trotz Krieg. Ich habe ja zur Weimarer Republik gearbeitet (vgl. Averbeck 1999). Es gab Personalakten, Institutsakten, Promotionsakten. Da wurden sehr, sehr viele Sachen festgehalten, die heute nur noch in irgendwelchen E-Mails stecken. Auch in Nachlässen. Das war aber auch eine andere Zeit.

Michael Meyen: Das gibt es aber für spätere Zeiten auch. Bei Hertha Sturm irgendwelche Fahrtkostenabrechnungen (vgl. Mahler et al. 2008). Das will man gar nicht alles wissen. Wenn man heute Promotionsgutachten liest: Das scheint ja oft für Fachhistoriker geschrieben. Mir gefällt die Arbeit nicht, ich muss aber aus bestimmten Gründen eine gute Note geben.

Thomas Wiedemann: Zur Theorie vielleicht noch. Warum Bourdieu? Als ich Ihr Papier gelesen habe, Herr Kopper, habe ich da viele Anknüpfungspunkte gesehen. Grundsätzlich plädiere ich nicht unbedingt für Bourdieu, aber für Theorien, für Sozialtheorien, für Theorien, die anschlussfähig sind für das, was in den Sozialwissenschaften passiert. Das war nicht pro Bourdieu und gegen alles andere (vgl. Wiedemann/Meyen 2013).

In Schwarz: Manuel Wendelin, Michael Meyen, Thomas Wiedemann, Andreas Scheu (v.l.n.r., Foto: Markus Thieroff)

In Schwarz: Manuel Wendelin, Michael Meyen, Thomas Wiedemann, Andreas Scheu (v.l.n.r., Foto: Markus Thieroff)

Thomas Birkner: Bevor alle gleich auseinander gehen, möchte ich Andreas Scheu bitten, sich zu Michael Meyen, Thomas Wiedemann und Manuel Wendelin zu stellen. Das ist ja ein Traum von Schulenbildung, wie eine Uniform: alle vier in Bluejeans und schwarzem Hemd.

Arnulf Kutsch: Ich möchte Herrn Kopper für seine Initiative danken. Wie wichtig sie ist, hat unsere Diskussion gezeigt. Was wir über die Relevanz und den Forschungsstand erörtert haben, macht eigentlich nur Sinn, wenn wir diese Art Veranstaltung als fachhistorisches Colloquium verstetigen. Nicht jedes halbe Jahr – aber eine gewisse Kontinuität ist erforderlich. Um zu versuchen, das von Herrn Scheu als Abwärtsspirale benannte Problem zu entschärfen, könnte man eine solche Einrichtung mit einem Colloquium für Examenskandidaten verbinden, in dem sie ihre Forschungsarbeiten vorstellen können und beraten werden.

Literaturangaben

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Empfohlene Zitierweise

    Michael Meyen: Quo vadis, Fachgeschichte: Diskussion. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2016. http://blexkom.halemverlag.de/diskussion-fachgeschichte/ (Datum des Zugriffs).