Zukunft einer Fachgeschichte. Thesen von Gerd Kopper

Das Papier von Gerd G. Kopper wird hier in der nicht weiter ausgearbeiteten, vorläufigen und erkennbar unabgeschlossenen Form veröffentlicht; es diente in dieser Form ausschließlich zum Anstoß der hier dokumentierten Diskussion (eine endgültige Bearbeitung behält sich der Autor ausdrücklich vor).


Vorbemerkung

Der institutionelle Unterbau für Fachgeschichte innerhalb der Kommunikationswissenschaft im deutschsprachigen Raum ist erkennbar begrenzt, eingeengt und gering ausgestattet (Personal, Finanzierung, Projektflächen). Die folgenden Hinweise passen sich ausdrücklich nicht an bestehende Beschränkungen und Engpässe an. Vielmehr sollen Entwicklungsoptionen und wissenschaftliche Potentiale und damit verbundene, mögliche erweiterte Erkenntnishorizonte aufgezeigt werden.

Gerd Kopper (Foto: Markus Thieroff)

Gerd Kopper (Foto: Markus Thieroff)

Die nachfolgenden Anmerkungen zur Fachgeschichtsschreibung haben eine explorative Perspektive. Einzelne Aspekte stehen jeweils in enger inhaltlicher oder logischer Verbindung. Wegen erforderlicher Kürze und Pointierung wird auf die Verdeutlichung solcher Verbindungselemente, auf Überleitungen, auf Hintergrunddarlegungen und viele inhaltliche Ausformulierungen verzichtet. Aus dem gleichen Grund fehlen alle naheliegenden und vertiefenden Verweise zu bereits existierenden, darunter verdienstvollen deutschsprachigen Arbeiten zur Fachgeschichte. Und es fehlen auch weitergehende Ausführungen zu möglichen Rezepturen.

Thesenbündel I: Fachgeschichte als Distanzübung

Man kann alle folgenden Darlegungen vereinfacht etwa so zusammenfassen: Was kann Fachgeschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland als historisch motiviertes laufendes Arbeitsvorhaben zu allgemeinen Erkenntnissen bezogen auf Wissenschaft und Gesellschaft in Deutschland an einem Beispielssegment beitragen?

Um einen solchen „Allgemein“-Horizont erkennbar werden zu lassen, scheint es vordringlich, Abstand gegenüber etablierten Streitfronten theoretischer und methodischer Schulen zu gewinnen. Dies soll ohne die geringste Wertung bisheriger Leistungen auf jeweiligen Gebieten geschehen. Es geht um die erkenntniskritische Zielsetzung.

Für eine perspektivische Distanzierung folgen wir hier zunächst einem hilfreichen Verfahren aus der Anthropologie: dem holistischen Zugang.

Wir fügen deswegen eine äußerst verknappte Skizzierung des „Holismus“ als analytisches Instrumentarium innerhalb der Anthropologie ein (Otto/Bubandt 2010). Dort wird generell von einem holistischen Ansatz ausgegangen, wenn ein Phänomen folgendes aufweist: Bedeutung, Funktion und Relevanz in einem umfassenden Zusammenhang, also einem Beziehungsfeld, oder einer – wie es in der dort gebräuchlichen Terminologie heißt – spezifischen „Welt“ („world“). Ein Fach wie die Kommunikationswissenschaft innerhalb der Wissenschaftswelt eines Landes lässt sich durchaus als ein solcher spezifischer Zusammenhang, dabei auch als ein komplexes Phänomenbündel, ausgestattet mit allgemeingesellschaftlicher Bedeutung, Funktion und Relevanz ansehen. Dabei bezieht sich das holistisch definierte Begriffsgefüge „Zusammenhang“ auf Verbindungen zwischen Teilen und einem Ganzen in ständiger wechselnder und interpretativ kumulierender Weise (vgl. Friedman 2010 [1]). Der Holismus als analytischer Ansatz kann mit unterschiedlichen Methodologien verbunden werden (funktionalen, strukturellen, sozialen usw.).

Wir schlagen dieses Verfahren hier wohlgemerkt als erkenntniskritisches „Distanzinstrument“ vor. Eine erweiterte Sicht auf das Projekt „Zukunft einer Fachgeschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland“ lässt sich auf diese Weise in Gang setzen. Die holistische Perspektive führt nachweislich zu tragfähigen raum-zeitlichen Vorstellungen und zu maßgeblichen Beobachtungsfaktoren für Entwicklungen. Dies lässt sich auf ein wissenschaftliches Fach anwenden. Es können somit tragende Zusammenhangsbedingungen verdeutlicht werden. Hinzu kommt eine neuartige Wahrnehmung grundlegender Funktionsdimensionen ( etwa zu Mustern der Lehre, der Forschung, von unterschiedlichen Anwendungsformen, von Einbindungen in Drittinstitutionen usw.).

Nicht zuletzt veranlasst eine holistische Sicht, auch sehr weit außerhalb der unmittelbaren Aktivitäten des Fachs wirkende Impulse, Rahmenbedingungen, Vorgaben einzubeziehen (allgemeine Politik, Wirtschafts- und Technikentwicklung, Wissenschaftspolitik usw.). Die reale Wissenschaftspraxis in unterschiedlichen Epochen der Bundesrepublik Deutschland wird durch einen holistischen Ansatz sehr viel einprägsamer in ihren endogenen und exogenen Abhängigkeiten erkennbar (Personalkonstellationen, Schulen, Abgrenzungsrituale, Durchsetzungsstrategien usw.).

Die offenkundige Multivariabilität einer institutionalisierten „Kommunikationswissenschaft“ auf unterschiedlichen Aktivitätsebenen (hier als Sammelbegriff auch für unterschiedlich denominierte Fach-Zuständigkeiten) in ihrem historischen Verlauf (Themen- und Methodenvielfalt, Abgrenzungsprobleme zu Nachbarfächern, Spezialisierungsformen usw.) wird bei holistischer Betrachtung überdies auf weiterführend aufschlussreiche Fragestellungen stoßen (Beispiel: Was hat sich nicht durchsetzen können? Warum sind bestimmte „Richtungen“ und Arbeitsansätze untergegangen?) [2].

Dieser einleitende Hinweis sollte nicht so verstanden werden, als ginge es darum, eine weitere „Schule“ der Erkenntnisbildung zu etablieren (etwa neben Theoretisierungs-Ansätzen à la Luhmann, Bourdieu, Habermas, Berger/Luckmann usw.). Hier geht es eingangs nur darum, eine explorativ distanzierende und neutralisierende Meta-Ebene der Betrachtung zu gewinnen. Von dort aus soll es gelingen, gerade auch die erforderliche Distanz zu etablierten Erkenntnis-Schulen rückzugewinnen (die holistisch betrachtet jeweils in spezifische „Zusammenhangs-Faktoren“ eingebunden sind). Dabei ist durchaus geläufig, dass sich Fragen nach der Einordnung von Fachgeschichte immer wieder gerade im Sinn einer Vielzahl denkbarer und bereits genutzter Metaebenen von „Historisierung“ stellen. Mit derartigen Meta-Entscheidungen gehen selbstverständlich immer auch Abgrenzungen und Zuschnitte für Bearbeitungsweisen einher [3].

Ein solcher explorativ holistischer Ansatz führt beispielsweise direkt zur Frage nach der Instrumentalität bisher verwendeter Verfahren der Fachgeschichtsschreibung. Etwa zu Art, Ziel, Auswertung und Einordnung von Interviews mit „Fachbeteiligten“ (in der Anthropologie vergleichbar mit Befragungen und Gesprächen mit Informanten innerhalb des zu untersuchenden Soziotops).

Thesenbündel II: Mustererkennung und Analyse

Die folgenden Thesen stehen weiterhin unter den genannten Vorbehalten der angesprochenen „explorativen“ holistischen Sichtweise. Hier soll stärker auf Anwendungsverfahren eingegangen werden.

Blickt man auf Wissenschaftlerbiografien im Fach Kommunikationswissenschaft, auf deren Abbildungsweise und auf die genutzten Muster jeweiliger „Leistungsanzeige“, so ist daran eine Art verallgemeinerungsfähiges fachliches „Anstrengungsprofil“ zu erkennen. Diesen auffallenden Ähnlichkeiten innerhalb der Gesamtgruppe scheinen eine Reihe von Konformitätsmustern zugrunde zu liegen. Lassen sich diese aus der allgemeinen wissenschaftlichen Praxis (in welchem Bezugsrahmen) erklären? Welche Musteranforderungen beziehen sich spezifisch auf das Fach „Kommunikationswissenschaft in Deutschland“? Bisher wissen wir dazu nahezu nichts.

Damit wird auch deutlich: Es handelt sich nicht nur um erkennbare Verhaltensmuster, sondern inhärent immer auch um einerseits wissenschaftspraktische, andererseits auch allgemeine Erkenntnismuster. Dies ist, entlang zum Beispiel empirisch ermittelbarer Leistungsmuster, offenkundig zugleich an Spektren innerhalb eines bestimmten wissenschaftlichen Methodenarsenals geknüpft (Untersuchungsverfahren, Themenvorlieben usw.). Musterbildungen dieser Art leiten schließlich zu Typisierungen über. Auf deren Grundlage ergeben sich Vergleichbarkeiten und Unterschiede.

Geht man von einer solchen Problembeschreibung aus, so könnte Fachgeschichte auch als Abfolge, Mit- und Gegeneinander spezifischer „Wettbewerbsstrategeme“ dargestellt werden. Und auf darunterliegenden Ebenen würde man auf die schon erwähnten auffälligen und spezifischen „Anstrengungsmuster“ und leitenden „Leistungsvorlagen“ stoßen. In den Sozialwissenschaften sind vergleichbare Betrachtungsweisen an bestimmten kritischen Entwicklungspunkten – außerhalb der jeweils herrschenden Orthodoxie – bereits ansatzweise eingebracht worden (man denke an Arbeiten von Bruno Latour; vgl. exemplarisch Latour 1995a, 1995b).

Bleiben wir kurz bei einem solchen Folgeschritt im Anschluss an den holistischen Ausgangspunkt. Eine Hypothese könnte darin bestehen, dass „fachintern“ die „anrechenbare“ Wertigkeit ermittelter „Anstrengungsmuster“ (die stets auch einem bestimmten Parameter von Konformität entsprechen) keineswegs identisch sein müssen mit einem – über längere Epochen und Phasen gemessenen – historischen Fortgang wissenschaftlicher Erkenntnis oder erkenntnisbezogener Innovationen.

Folgerichtig entstehen so weitere Anschlussfragen. Etwa nach einer folgerichtigen Typologie von Erkenntnisprodukten, nach genutzten Grundlagen für die Zumessung von Erkenntnisqualität usw. Damit stellt sich am Ende auch die Frage nach dem summarischen Erkenntniszuschnitt eines Fachs in sogenannten „langen Wellen“.

Thesenbündel III: Fachgeschichte als Erkenntnisinstrument allgemeiner Wissenschaftsentwicklung

Wissenschaftliche Fachgeschichte besitzt immer und notwendig auch systematische Grundlagen. Im 20. Jahrhundert fand eine systematische Entwicklung wissenschaftlicher Fachgeschichte jedoch unter eher abstrakten Kennungen statt. Eine der folgenreichsten ist die „Philosophy of Science“. Es handelt sich um eine kritische Sichtung und Grundlagenanalyse von Entwicklungen zentraler wissenschaftlicher Erkenntnisfelder mit dem Schwerpunkt Naturwissenschaft. Entscheidende Fundamente und Anstöße entwickelten sich im Vorlauf, in und um den „Wiener Kreis“ und finden sich später in Gruppen emigrierter europäischer Wissenschaftler vor allem in den USA. Die systematischen Auswirkungen in den Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften sind jedoch immens (vgl. Gunell 2014).

Dieser – häufig „verdeckt“ auftretende – Typus einer auf Grundlagen bezogenen Fachgeschichte und Wissenschaftsevaluation bestimmt bis heute zentrale Ansätze zur Analyse und Bestimmung allgemeiner Wissenschaftsentwicklung.

Zwar lagen Ausgangspunkte dabei überwiegend in den zusammenhängend betrachteten Untersuchungsbereichen: Physik, Mathematik, Philosophie, Erkenntnistheorie. Entwickelt haben sich daraus nicht nur neue methodologische Grundlagen (unter anderem logischer Positivismus), sondern sehr komplexe analytische Vorstellungen zur Entwicklung wissenschaftlichen Denkens schlechthin.

Eine analytische Revision von Fachgeschichte in einem sprachraumgebundenen Einzelfach wie der Kommunikationswissenschaft bleibt herausgefordert, die vorhandenen Querverbindungen, Anschlüsse und auch Abgrenzungen zu solchen Hintergrundprozessen des existierenden wissenschaftsanalytischen Denkens einzubeziehen und zu reflektieren.

Dabei sollte es darum gehen, eine erweiterte und vertiefte Reflexionsbefähigung des fachlichen Fokus der Kommunikationswissenschaft im Kontext allgemeiner Wissenschaftsentwicklung rückzugewinnen. Fachgeschichte kann Geschichtsschreibung aus dem Innenblick eines etablierten und institutionell geltend gemachten Kokon sein; sie kann aber auch mehr sein: etwa Wissenschaftsgeschichte anhand der Erkenntnisformate und -prozesse eines bestimmten Fachs innerhalb der allgemeinen Wissenschaftsentwicklung.

Soweit ein Plädoyer für Erkenntnisgewinn durch gezielte Distanzverhältnisse.

Thesenbündel IV: Zur Verbindung von Holistik und Praxis

Kehren wir von solchen hochgesteckten Zielformulierungen zurück zur Praxis und damit auch auf die „grass root“-Ebene und zum Ist-Zustand und damit schließlich zur wissenschaftlichen Alltagspraxis.

In der überwiegenden Zahl der Institute für Kommunikationswissenschaft existieren keinerlei geregelte Vorkehrungen zu einer fachgeschichtlichen Ressourcenbildung (personelle Beauftragungen, Archivierungsvorgaben, Bestandsaufnahmen usw.). Das Auftauchen/Verschwinden von Institutseinheiten, von Fachschwerpunkten, von Lehr- und Forschungseinheiten ist überwiegend daher kaum hinreichend, geschweige präzise rekonstruierbar. Gerade wichtige Aspekte des „Verschwindens“ von Betätigungsbereichen sind kaum erforschbar. Entscheidend dafür ist der Untergang der für derartige Auffindbarkeit erforderlichen „Entdeckungspunkte“.

Fachgeschichte als fortlaufende und verstetigte Gegenwartsverpflichtung auf der institutionellen Grundebene von Facheinheiten in ihrer Gesamtheit scheint somit eher ein Desiderat. Methodische Leitlinien für Basis-Aktivitäten existieren nicht oder sind nicht bekannt. Ob es für solche Aktivitäten überhaupt ein aktivierbares Interesse gibt, scheint fraglich.

Jenseits der in Beziehung zu setzenden Grobstatistiken zur Anzahl von Instituten, zur Zahl von Professoren, weiteren wissenschaftlichen Arbeitskräften sowie Lehr- und Forschungs-Denominationen existiert somit recht wenig verwertbares „Material“ (was keineswegs bedeutet, dass es nicht eine beträchtliche Zahl „klassischer“ historischer Arbeiten, statistischer Untersuchungen, bibliometrischer Messungen und Archivstudien zu Einzelfragen im Sektor Kommunikationswissenschaft gibt).

Zentrale, auf Zusammenhänge gerichtete Projekte zur Entwicklung und Lage der Kommunikationswissenschaft in einer distanziert analytischen fachgeschichtlichen Betrachtung sind – auch über Epochen betrachtet – rar. Dabei gibt es viele solcher erkenntnisfördernder Optionen: etwa Einblicke in den Wandel realer Arbeitsverhältnisse oder in kennzeichnende Spektren wissenschaftlicher Produktionsbedingungen (Stichworte: Formen der Zusammenarbeit, Themenermittlung, Differenzierungsformen von Arbeitsverfahren usw.).

Jede Fachgeschichtsschreibung zeichnet sich immer wieder durch eine Reihe „blinder Flecken“ aus. Diese sind das Ergebnis des Institutionalisierungsverlaufs von wissenschaftlichen Fächern (Stichworte: Nachfolgeberufungen, Schulen-Bildung, politische Einflüsse, Etatisierungs- und Finanzierungsvoraussetzungen usw.). Derartige „blinde Flecken“ lassen sich in Form von fachgeschichtlich evaluierten Hypothesen-Staffetten einkreisen und damit am Ende auch gezielt aufdecken. Für ein solches Verfahren sind jedoch aufwendige und solide Verfahren wissenschaftlicher Zusammenarbeit nötig, um Grundlagen und Suchverfahren für solche Hypothesen-Cluster zu erarbeiten. Das bisherige Wissen über derartige „blinde Flecken“ der Fachentwicklung der Kommunikationswissenschaft in Deutschland (oder in der deutschsprachigen Fachwissenschaft) ist bisher nur vereinzelt und kaum jemals als multi-methodisches Langzeit- und umfassend konsistentes Gruppenprojekt aufgenommen worden.

Die praktisch eingespielte fachgeschichtliche Arbeitsweise ist geneigt, einer Reihe von Missweisungen zu erliegen. Dies geschieht nicht willkürlich, sondern aufgrund des „Blinde-Flecken-Teppichs“. Wir begnügen uns zur Illustration mit einem einzigen Beispiel, nämlich einer fachgeschichtlich kaum hinterfragten Kategorisierung: „empirische Forschung“ ( in Fassungen von „Methodik“ und vergleichbaren Begrifflichkeiten). In der traditionell konsekutiv, also chronologisch orientierten und damit an innerfachlich überlieferten und zumeist unkritisch etablierten Leistungsmustern ausgerichteten Fachgeschichtsschreibung werden solche Kategorisierungen gerne stereotypisch im Sinne einer methodischen Ja-/Nein-Zuordnung verwendet.

Damit fallen ausschlaggebende materielle Bedingungen und Hintergründe aus dem Darstellungsbild. Zur Verdeutlichung: Bis in den Beginn der 1970er-Jahre blieben viele empirisch methodische Einzelforschungsvorhaben (zum Beispiel Dissertationen) in vielen Fächern der Sozial- und Geisteswissenschaften an Universitäten der Bundesrepublik Deutschland aus ökonomischen und technischen Gründen auf zumeist einfach (durch Einzelforscher in begrenzter Zeit) zu bewältigende Untersuchungsmethoden beschränkt. Kennzeichnend dafür sind zum Beispiel manuell und über Karteibestände durchgeführte Inhaltsanalysen. Es fehlte an apparativen und finanziellen und zumal arbeitsteiligen Voraussetzungen für aufwendigere Formen der Datenerhebung und -auswertung innerhalb der Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland (technische und ökonomische Voraussetzungen, die etwa zur gleichen Zeit in US-Hochschulen bereits existierten). Der Einsatz von apparativen Datenverarbeitungssystemen und betrieblicher Auswertungshilfe nach dem Stand der Technik existierte demzufolge nur vereinzelt – mit einer Regelausnahme in einigen technischnaturwissenschaftlichen Fächern. Über einen langen Zeitraum war somit eine methodisch ausgeweitete und effektive Anwendung empirisch komplexer Fragestellungen, so auch in der Kommunikationswissenschaft, nur mithilfe außeruniversitärer Einrichtungen möglich. Indikatoren für Unterschiede in den Ausgangsbedingungen „empirischer Forschung“ existieren fachgeschichtlich nicht.

Die Abbildungsebene bisheriger kleinteiliger Fachgeschichtsschreibung tendiert zu einer Wahrnehmungstrübung bezogen auf viele vergleichbare und grundlegende Arbeits- und Gestaltungsvoraussetzungen von Forschung. Produktionsbedingungen (entsprechend auch: Projektbefähigungspotenziale) geraten selten in den Fokus. Die Problematik hinreichender materieller Tiefe von historischen Abbildungsebenen bildet jedoch eine entscheidende Voraussetzung für Analysegenauigkeit.

Thesenbündel V: Metaebenen fachhistorischer Evaluation

Durch Fachgeschichtsschreibung sollte im Anschluss an gewisse Epochenlängen mehr darüber zu erfahren sein, warum bestimmte Theorieansätze bevorzugt werden, andere nur eine Randexistenz führen, wieder andere vollständig verschwinden. Dafür wären Instrumente zur Ermittlung wissenschaftlicher Prozesse im Bereich der Kommunikationswissenschaft nötig.

Eine schlichte Übertragung aus Science-Bereichen („Paradigmen-Wechsel“ à la Thomas S. Kuhn, vgl. Kuhn 2010), aus der Dekonstruktions-Philosophie usw. können in der Regel nur Eingangshypothesen liefern. Es fehlt an fach-endogenen Ansätzen für Prozesstheorien wissenschaftlicher Entwicklung der Denk- und Ermittlungsansätze gerade im spezifischen Sektor Kommunikationswissenschaft. Dies ist umso erstaunlicher, als gesellschaftliche und politische Schlüsselfragen in diesem Segment zur Genüge existieren. Man denke nur an das gesellschaftlich entscheidende Verständigungskonglomerat „Öffentlichkeit“. Allein ein derart hochkomplexes „Systemaggregat“ sollte Herausforderung genug sein, daraus fachgeschichtliche Ableitungen zu entwickeln.

Durch eine tradierte und methodisch immer wieder gestärkte Personalisierung der „Fachentwicklung“ haben sich gebräuchliche Erkenntnismodi etabliert. Wichtige Steuerungsfaktoren und -einflüsse von dritter Seite auf ein wissenschaftliches Fach werden demzufolge nicht hinreichend hinterfragt. Eines von vielen Beispielen: Hypothetisch müsste man von einer beträchtlichen Steuerungsfunktion der Auftragsvergabe kommunikationswissenschaftlicher Forschungsaufträge durch die Bundesregierung über mehrere Jahrzehnte, durch die Landesregierungen über einen kürzeren Zeitraum, durch Verbandsinstitutionen in besonderen Entscheidungssituationen ausgehen. Zu derartigen Steuerungselementen gehören auch Fachzeitschriften und deren fachstrategisch operative Kontrolle. Auch das fachbezogene wissenschaftliche Verbandswesen übernimmt solche Steuerungsfunktionen. Ein aufgearbeitetes, nachvollziehbares Erkennen der hierbei ausschlaggebenden Prozesse (Austausch, Bindungen, Bedingungen, Regularien usw.) fehlt.

Erkenntnisse aus dem Fach Kommunikationswissenschaft durchlaufen in ihrer gesellschaftlichen Rangbildung und darauf bezogenen wissenschaftlichen Anwendung einen mehrstufig konsultativdiskursiven Prozess bis hin zum realen Einsatz und zur nachwirkenden Anerkennung. Dies ist nachweisbar in vielen gesellschaftlich kommunikativen Sphären (Werbung, PR, Verbände, Unternehmensberatungen, politische Akteure). Gleichzeitig ist über den Zeitraum von inzwischen mehr als zwei Jahrzehnten ein wachsender Abstand der universitären Kommunikationswissenschaft im Rahmen möglicher institutioneller Konsultationsprozesse unmittelbar aus den Hochschulen heraus zu beobachten. Über diverse Anbindungs- und Ausgliederungsverfahren aus der Sphäre der Hochschulen heraus entstehen Herausforderungen für die Fachgeschichtsschreibung: Reflektiert sie ausschließlich die hochschulgebundenen Aktivitäten? Inwieweit folgt sie den mehrstufig konsultativen Prozessen in unterschiedlichen Anwendungsbereichen gerade auch außerhalb der Hochschulen? Diese Problemlage wird dadurch in besonderem Maß unübersichtlich, dass offensichtlich Erkenntnisse aus solchen externen Konsultationsverfahren wiederum in die hochschulinterne Fachwirklichkeit zurückfließen, dies aber implizit und intransparent geschieht. Wie stellt sich Fachgeschichtsschreibung auf Phänomene derartiger, überwiegend verdeckter Einfluss- und Wirkungspotenziale ein?

Ferner lassen sich Epochen der Ausgliederung/Anbindung und Externalisierung von kommunikationswissenschaftlicher Forschung aus den Hochschulen heraus geschichtlich unterscheiden. Beispiele: Konzentrationsforschung, innere Pressefreiheit, Rundfunkfinanzierung, Journalistenausbildung. Neue Formen der Externalisierung (unter anderem auf der Grundlage neuer IT-Verfahren) könnten als Fortsetzung früherer Formen angesehen werden.
An diesem Punkt wird erkennbar, dass einer Fachgeschichtsschreibung auch eine evaluative Rolle zuwachsen kann. Sie könnte in der Lage sein, Bewegungsverläufe vor den dargestellten Hintergründen sichtbar zu machen. Wohlgemerkt Bewegungsverläufe, die etwa bei rein inhaltsanalytischen und eng konfigurierten historischen Analysen (Themenauswahlverfahren, Methodennutzungen, bibliometrische Statistiken usw.) nicht sichtbar werden. Man denke an Erkenntnisse zu Formen der Einengung, Formen methodischer Konzentration und Orthodoxie-Bildung, Formen der Abgrenzung einzelner „Schulen“ gegeneinander, Grenzbildungen gegenüber anderen Fächern usw.

Die Kommunikationswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland wird in der Fachgeschichtsschreibung durch kennzeichnende Modi einerseits äußerer, aber auch fachinterner Verortung gekennzeichnet (von außen, so in den 1950er-Jahren: eher als Hilfswissenschaft; von innen: Zeitungswissenschaft vs. empirische Kommunikationswissenschaft; differenzierungsfähige Sozialwissenschaft vs. medien- und methodenoffene Kulturwissenschaft usw.). Eine hinreichend allgemeine, dabei fachübergreifende wissenschaftsgeschichtliche Perspektivhöhe (in der holistischen Perspektive: Kontext) blieb bisher weitgehend ausgespart.
Erforderlich wäre eine solche angemessene Perspektivhöhe zur Rekonstruktion gerade auch von Einflüssen starker epochenspezifischer Bewegungen und Konstellationen in traditionellen Nachbarfächern (Soziologie, Zeitgeschichte, Politische Wissenschaft usw.).

Ein kennzeichnendes Beispiel ist die bekannte Planung einer grandios umfassenden Zeitungsenquête durch Max Weber. Sie wurde bekanntermaßen nicht durchgeführt. Ansatz, Planungskategorien und theoretischer Blick kennzeichnen dennoch bis heute einen immer wieder aufgerufenen Forschungs- und Erkenntniszuschnitt von beachtlicher fachlicher Wirkung. Fachgeschichte muss sich maßgeblich gerade auch um Elemente des „nicht Verwirklichten“, des „Gescheiterten“, des „aus dem Blick Geratenen“ kümmern. Auch hierzu ein instruktives Beispiel: Der DGPuK-Vorstand setzt sich Ende der 1970er-Jahre für ein umfassendes Antragsprojekt des Fachs bei der DFG, nämlich eine theoriebasierte übergreifende „Grundlagenforschung“, ein. Es folgen dazu fachinterne, institutsübergreifende Vorbereitungskonferenzen für ein gemeinsames, das gesamte Fach integrierendes Antragsverfahren. Weitere Zwischenschritte seien hier ausgespart. Endergebnis der Initiative ist eine von der DFG bewilligte Bestandsaufnahme und Forschung zur „Medienwirkung“ in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre. Die intendierte „Grundlagenforschung“ muss weiterhin als ein solches Element des „nicht Durchgeführten“ gelten.
Heute heißt es in einem Überblick zur Medienwirkungsforschung: „Die Forschung und Theoriebildung im deutschen Sprachraum orientierten sich stets mit einer gewissen Verzögerung an der amerikanischen Forschung.“ Darunter aufgeführt wird auch das geschilderte umfassende DFG-Projekt (Bonfadelli/Friemel 2011: 33).

Zu einer schon erwähnten evaluativen Ausprägung der Fachgeschichte müsste insofern etwa auch die Befähigung gehören, derartige untergründige und erkennbar wirkungsmächtige Ausrichtungsaspekte des Wissenschaftsbetriebs als historischen Prozess erkennbar werden zu lassen.

Fachgeschichte – wir wagen um der Klarstellung willen diese Zuspitzung – muss daher zwangsläufig auch immer Elemente einer Art „Kriegsberichterstattung“ enthalten. Der Wissenschafts-„Betrieb“ und die wissenschaftliche „Praxis“ gründen immer auch auf bestimmten Frontstellungen, wie immer sie in der vorliegenden kritischen Literatur auch benannt werden (sehr deutlich und einsichtig dazu, trotz erkennbarer Selbstbetroffenheit, Pierre Bourdieu 1984 in seiner Analyse Homo Academicus). Dies bedeutet, eine Fachgeschichtsschreibung, die derartige Frontverläufe und „heiße“ Konflikte ausspart oder beschwichtigend umgeht, verliert nicht nur ihren analytischen Ansatz, sondern wird sehr leicht auch dienstbar.
Nur aufgrund der Klarheit und Ungeschminktheit der Analysen entstehen brauchbare Grundlagen für mögliche historische Einordnungen. Ansonsten wird niemand die in bestimmten Zeitabschnitten für notwendig gehaltenen, aber möglicherweise gescheiterten wissenschaftlichen Offensiven jemals zur Kenntnis nehmen können. Damit entstehen Schlussfolgerungen aufgrund unvollständiger Zusammenhänge. Die Folge sind falsch gezeichnete Panoramen von Entwicklungsabläufen und damit auch wenig verlässliche Gewichtungen.

Fußnoten

  • 1 „Holism is not a mere assumption. It is a research proposal or direction in which it is assumed that there are structured orders of social reality that can be discovered and understood, and that the world is not the mere result of interaction of individual subjects. These orders are not overt but consist of the properties of social life that are by and large inaccessible to those who participate in it. The wholes are in this approach equivalent to the underlying logics of the social order. They are not immediately observable, unlike their effects. They are the products of hypothetical thinking, which is always asymptotic insofar as hypotheses are inadvertently limited and as such falsifiable. The holistic program is nothing more than the search for adequate explanations. And the latter are hypotheses concerning the wholes that account for the observable in terms of the relation between them and their their parts.”
  • 2 Vorhandene Beispiele – die Aufzählung ist keineswegs erschöpfend – sind: Semiotik, Kybernetik, mathematisch inspirierte Kommunikationswissenschaft.
  • 3 In einer anderen theoretischen Sprechweise könnte man dies als die Ermittlung „der Bedingungen der Selektivität“ – bezogen auf das Gesamtphänomen der Wissenschaftspraxis Kommunikationswissenschaft – bezeichnen (vgl. etwa Luhmann 1973).

Literaturangaben

  • Heinz Bonfadelli/Thomas N. Friemel: Medienwirkungsforschung. 4. überarbeitete Auflage. Konstanz: UVK 2011.
  • Pierre Bourdieu: Homo Academicus. Paris: Édition de Minuit 1984.
  • Jonathan Friedman: Holism and the Transformation of the Contemporary Global Order. In: Ton Otto/Nils Bubandt (Hrsg.): Experiments in Holism. Theory and Practice in Contemporary Anthropology. Oxford: Wiley-Blackwell 2010, S. 227-248.
  • John G. Gunell: Social Inquiry after Wittgenstein and Kuhn: Leaving Things as They Are. New York: Columbia University Press 2014.
  • Thomas S. Kuhn: The Natural and the Human Sciences. In: Thomas S. Kuhn (Hrsg.): The Road since Structure. Philosophical Essays 1970-1993. Chicago: University of Chicago Press 2000, S. 216-223.
  • Bruno Latour: La science en action. Introduction à la sociologie des sciences. Paris: Gallimard 1995a.
  • Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin: Akademie Verlag 1995b (Übersetzung aus dem Französischen: Nous n’avons jamais été modernes. Essai d’anthropologie symétrique. Paris: Éditions La Découverte).
  • Niklas Luhmann: Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme. In: Peter Christian Ludz (Hrsg.): Soziologie und Sozialgeschichte. Aspekte und Probleme. Opladen: Westdeutscher Verlag 1973, S. 81-115.
  • Ton Otto/Nils Bubandt: Anthropology and the Predicament of Holism. In: Ton Otto/Nils Bubandt (Hrsg.): Experiments in Holism. Theory and Practice in Contemporary Anthropology. Oxford: Wiley-Blackwell 2010, S. 1-15.

Empfohlene Zitierweise

    Gerd Kopper: Zukunft einer Fachgeschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland. Thesen. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2016. http://blexkom.halemverlag.de/zukunft-der-fachgeschichte/ (Datum des Zugriffs).