Elisabeth Noelle-Neumann (Foto: privat)
Elisabeth Noelle-Neumann (Foto: privat)

Elisabeth Noelle-Neumann

19. Dezember 1916 bis 25. März 2010, amtlich zuletzt Elisabeth Noelle

Lexikoneintrag von Manuel Wendelin am 21. Juni 2013

Die Arbeiten von Noelle-Neumann zählen zu den Schlüsselwerken der Kommunikationswissenschaft (vgl. Holtz-Bacha/Kutsch 2002). Für kaum eine andere Person ist die Bezeichnung als „Klassiker“ des Fachs zutreffender (vgl. Meyen/Löblich 2006).

Stationen

Geboren in Berlin. Vater Ernst Noelle, Jurist und Kaufmann, ab 1928 Generaldirektor bei der Tobis Filmgesellschaft in Berlin, Mutter Eva Schaper. Großbürgerliche Familie, Großväter Ernst Noelle, Stahlfabrikant, und Fritz Schaper, Bildhauer. 1935 Studium der Philosophie, Geschichte, Zeitungswissenschaft und Amerikanistik in Berlin, Königsberg, München, Columbia (Missouri, USA). 1940 Promotion bei Emil Dovifat in Berlin (Amerikanische Massenbefragungen über Politik und Presse). 1940 bis 1945 zunächst Volontärin, dann Redakteurin (Deutsche Allgemeine Zeitung, Das Reich, Frankfurter Zeitung, Illustriertes Blatt, Tele). 1947 gemeinsam mit Erich Peter Neumann Gründung des Instituts für Demoskopie Allensbach. Instituts-Chefin (ab 1988 gemeinsam mit Renate Köcher). Ab 1956 Herausgabe des Jahrbuchs der öffentliche Meinung. Ab 1960 Allensbacher Werbeträger Analyse (AWA). 1961 bis 1964 Einladungen an die Freie Universität Berlin. 1965 Professur für Publizistik an der Universität Mainz (1968 Lehrstuhl, 1983 Emeritierung). 1968 bis 1970 Vorsitzende der DGPuK. 1978 bis 1980 WAPOR-Präsidentin. 1978 bis 1991 Gastprofessur für politische Wissenschaften in Chicago. 1993 bis 1994 Eric-Voegelin-Professur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Verheiratet mit Erich Peter Neumann (1946 bis 1973) und Heinz Maier-Leibnitz (1979 bis 2000).

Publikationen

  • Mass Communication, Media and Public Opinion. In: Journalism Quarterly 36. Jg. (1959), S. 401-409.
  • Umfragen in der Massengesellschaft. Einführung in die Methoden der Demoskopie. Reinbek: Rowohlt 1963. Sieben Auflagen, mehrere Übersetzungen. Neuausgabe: Alle, nicht jeder (1996, gemeinsam mit Thomas Petersen).
  • Öffentliche Meinung und Soziale Kontrolle. In: Recht und Staat (1966), Heft 329, S. 3-28.
  • Fischer Lexikon Publizistik. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 1971. Mehrere Auflagen (herausgegeben mit Winfried Schulz, seit 1989 auch mit Jürgen Wilke).
  • Return to the Concept of Powerful Mass Media. In: Studies of Broadcasting 9. Jg. (1973), S. 67-112.
  • The Spiral of Silence: A Theory of Public Opinion. In: Journal of Communication 24. Jg. (1974), S. 43-51.
  • Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale. Frankfurt/Main, Berlin: Ullstein 1980. Sechs deutsche Auflagen, zwölf Übersetzungen.
  • Manifeste und latente Funktion öffentlicher Meinung. In: Publizistik 37. Jg. (1992), S. 283-297.
Fischer Lexikon Publizistik, erste Auflage (Quelle: Noelle-Neumann/Schulz 1971)

Fischer Lexikon Publizistik (Quelle: Noelle-Neumann/Schulz 1971)

Die Arbeiten von Noelle-Neumann zählen zu den Schlüsselwerken der Kommunikationswissenschaft (vgl. Holtz-Bacha/Kutsch 2002). Für kaum eine andere Person ist die Bezeichnung als „Klassiker“ des Fachs zutreffender (vgl. Meyen/Löblich 2006). Noelle-Neumann gilt als eine der wichtigsten Protagonistinnen der „empirisch-sozialwissenschaftlichen Wende in der Publizistik- und Zeitungswissenschaft“ und hat entscheidend dazu beigetragen, das Fach so zu entwickeln, wie es heute ist (vgl. Löblich 2010). Einführungsveranstaltungen in die Kommunikationswissenschaft oder Grundlagenlehrbücher sind ohne eine Besprechung der Theorie der Schweigespirale nicht denkbar. Dazu beigetragen haben der „Auflagenkönig“ Fischer Lexikon und eine große Anzahl von Aufsätzen, die in den wichtigsten deutsch- und englischsprachigen Zeitschriften des Fachs erschienen sind.

Die vielen und sehr erfolgreichen Schüler und Enkel-Schüler wie Wolfgang Donsbach, Werner Früh, Hans Mathias Kepplinger, Winfried Schulz, Jürgen Wilke und Hans-Bernd Brosius, Frank Esser, Patrick Rössler oder Helmut Scherer sind ebenfalls tragende Säulen der „Marke“ Publizistikwissenschaft aus Mainz (vgl. Meyen/Löblich 2006: 260-261). Auch international hat Noelle-Neumann mehr Resonanz ausgelöst als jeder andere Fachvertreter aus Deutschland.

Links: Werner Früh (Foto: privat); Rechts: Hans-Bernd Brosius (Foto: Michael Meyen)

Links: Werner Früh (Foto: privat); Rechts: Hans-Bernd Brosius (Foto: Michael Meyen)

Über die Fachgrenzen hinaus ist Noelle-Neumann einer breiteren Öffentlichkeit vor allem durch die Gründung des Instituts für Demoskopie in Allensbach als Ikone der Umfrageforschung in Deutschland bekannt geworden. Im Allensbacher Institut konnte sie nach dem Krieg das Wissen praktisch anwenden, das sie sich 1937/38 während eines Studienaufenthalts in den USA angeeignet hatte. Am 21. August 1957 wurde Noelle-Neumann auf dem Titelblatt des Spiegel zur „Herrin der öffentlichen Meinung“ erklärt. Vier Jahre zuvor war ihr Bild schon einmal auf der Titelseite des Nachrichtenmagazins abgedruckt worden – als Botschafterin der Demoskopie und in Anspielung auf ihre Unterstützung des Wahlkampfs von Konrad Adenauer („Guckloch des alten Herrn“). Die Zusammenarbeit mit der CDU setzte sich auch nach der Ära Adenauer fort. Mit Helmut Kohl verbanden Noelle-Neumann gegenseitige Wertschätzung und Freundschaft.

Elisabeth Noelle-Neumann auf dem Titel des Spiegel (Quelle: Der Spiegel, 21. August 1957)

Elisabeth Noelle-Neumann auf dem Titel des Spiegel (Quelle: Der Spiegel, 21. August 1957)

Ihre Verbindung zur Politik und ihre klare Parteienpräferenz machten Noelle-Neumann insbesondere im vorwiegend linksgerichteten studentischen Milieu der 1960er- und 1970er-Jahre verdächtig. Aber auch in Kollegenkreisen war sie nicht unumstritten. Vor allem die immer wiederkehrenden Spekulationen zu ihrer Rolle im Dritten Reich sorgten für Diskussionsstoff. Anders als viele andere Sozialwissenschaftler und Intellektuelle war Noelle-Neumann nicht emigriert. Der Studienaufenthalt in den USA wurde ihr mittels eines Stipendiums des DAAD ermöglicht. Außerdem hat sie fast bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft als Journalistin gearbeitet. Dafür müsse man zumindest Mitläufer gewesen sein, wird von Kritikern argumentiert (vgl. Köhler 1989, Pöttker 2005). Die neuere historische Forschung liefert deutliche Belege, die solche Anschuldigungen stützen und Hinweise darauf geben, dass die Verstrickungen Noelle-Neumanns mit dem NS-Regime über eine bloße Mitläuferschaft hinausgegangen sind (Becker 2013, Heinelt 2007). Auch international fand eine Auseinandersetzung mit diesem Thema statt (vgl. Simpson 1996, Kepplinger 1997). Wie wichtig Elisabeth Noelle-Neumann für die kollektive Identität der internationalen Fachgemeinschaft ist, zeigen die gerichtlichen Auseinandersetzungen um die monumentale Biografie von Jörg Becker (2013), der zahlreiche autobiografische Äußerungen mit Archivmaterial konfrontiert und Noelle-Neumann vorgeworfen hat, ihren Aufstieg nur mit Hilfe eines Netzwerkes von Alt-Nazis geschafft sowie ihrer Gesinnung bis zum Tod treu geblieben zu sein. Von dem Rechtsstreit sind auch Rezensionen in den Zeitschriften tripleC (Christian Fuchs) und European Journal of Communication (Slavko Splichal) betroffen (vgl. hierzu auch die Webseite Elisabeth Noelle-Neumann. Leben und wissenschaftliches Werk, die von Weggefährten betrieben wird).

Noelle-Neumann selbst hat die Vorwürfe zu Ihrer Vergangenheit im Dritten Reich stets vehement zurückgewiesen und immer wieder versucht, ihre oppositionelle Haltung zu belegen (vgl. Noelle-Neumann 1997, 1998, 2006). Die ständigen öffentlichen Auseinandersetzungen mit der eigenen Vergangenheit, das Interesse für Demoskopie, die elitäre Herkunft Noelle-Neumanns und ihre politische Orientierung helfen bei der wissenssoziologischen Einordung der Theorie der Schweigespirale (vgl. Meyen/Löblich 2006, Wendelin 2011). Diese Faktoren gehören auch zum Kontext der teilweise journalismuskritischen Forschung Noelle-Neumanns und einiger ihrer Schüler. Unter anderem mit Aussagen zum Thema Binnenpluralismus in Zeitungen und der Stärkung von Verleger-Argumenten bei der Frage nach der inneren Pressefreiheit brachte Noelle-Neumann auch Journalisten gegen sich auf.

Weggefährten aus dem Fach haben immer wieder darauf bestanden, dass die Lebensleistung Noelle-Neumanns durch die genannten Kritikpunkte nicht geschmälert werden soll (vgl. Erbring 2010). Zeugnis für ihr hohes öffentliches Ansehen liefern die vielen Nachrufe, die in der Qualitätspresse erschienen sind. Für die deutsche Kommunikationswissenschaft ist Noelle-Neumann somit beides, ein Glücksfall und Mahnung, sich mit der eigenen Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen. Wie bei anderen Professoren des Fachs aus dieser Zeit erscheint ihr Weg in die Wissenschaft rückblickend alles andere als vorgezeichnet. Erst 1961 wurde sie von Fritz Eberhard als Lehrbeauftragte an die Freie Universität Berlin geholt. Der Plan Eberhards, Noelle-Neumann dort zur Honorarprofessorin zu ernennen, scheiterte. 1964 wurde ihr dann die neu eingerichtete Professur für Publizistik in Mainz angeboten. Die Verbindung zum Institut für Demoskopie in Allensbach erwies sich dabei durch den Austausch von Know-how und Ressourcen für beide Seiten als außerordentlich fruchtbar. Das hat nicht nur zur Etablierung des Mainzer Instituts beigetragen, das gesamte Fach hat sowohl institutionell als auch inhaltlich profitiert.

Literaturangaben

  • Jörg Becker: Elisabeth Noelle-Neumann. Demoskopin zwischen NS-Ideologie und Konservatismus. Stuttgart: Schöningh 2013.
  • Lutz Erbring: Elisabeth Noelle (19.12.1916-25.3.2010). In: Publizistik 55. Jg. (2010), S. 308-309.
  • Peer Heinelt: Von Hitler bis Kohl – Elisabeth Noelle-Neumann und ihre Meinungsforschung im Dienst der Macht. In Konkret 4/2007, S. 28-30.
  • Christina Holtz-Bacha/Arnulf Kutsch (Hrsg.): Schlüsselwerke für die Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002.
  • Otto Köhler: Wir Schreibmaschinentäter. Journalisten unter Hitler – und danach. Köln: Pahl-Rugenstein 1989.
  • Hans Mathias Kepplinger: Political Correctness and Academic Principles: A Reply to Simpson. In: Journal of Communication 47. Jg. (1997), S. 102-107.
  • Maria Löblich: Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistik- und Zeitungswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2010.
  • Michael Meyen/Maria Löblich: Klassiker der Kommunikationswissenschaft. Fach- und Theoriegeschichte in Deutschland. Konstanz: UVK 2006.
  • Elisabeth Noelle-Neumann: Über den Fortschritt der Publizistikwissenschaft durch Anwendung empirischer Forschungsmethoden. Eine autobiographische Aufzeichnung. In: Arnulf Kutsch/Horst Pöttker (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 36-61.
  • Elisabeth Noelle-Neumann: Lehrer und Schülerin – ein Doppelportrait. In: Bernd Sösemann (Hrsg.): Emil Dovifat. Studien und Dokumente zu Leben und Werk. Berlin, New York: de Gruyter 1998, S. 17-32.
  • Elisabeth Noelle-Neumann: Die Erinnerungen. München: Herbig 2006.
  • Elisabeth Noelle-Neumann/Winfried Schulz (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 1971.
  • Horst Pöttker (Hrsg.): Abgewehrte Vergangenheit. Beiträge zur deutschen Erinnerung an den Nationalsozialismus. Köln: Herbert von Halem 2005.
  • Christopher Simpson: Elisabeth Noelle-Neumann’s “Spiral of Silence” and the Historical Context of Communication Theory. In: Journal of Communication 46. Jg. (1996), S. 149-173.
  • Manuel Wendelin: Medialisierung der Öffentlichkeit. Kontinuität und Wandel einer normativen Kategorie der Moderne. Köln: Herbert von Halem 2011.

Weiterführende Literatur

  • Wolfgang Donsbach: Elisabeth Noelle zum 85. Geburtstag. In: Die Politische Meinung 46. Jg. (2001), Nr. 385, S. 66.
  • Michael Meyen: Elisabeth Noelle-Neumann. In: Wolfgang Donsbach (Hrsg.): The International Encyclopedia of Communication. Oxford and Malden: Wiley-Blackwell 2008, S. 3320-3332.
  • Horst Pöttker: Mitgemacht, weitergemacht, zugemacht. Zum NS-Erbe der Kommunikationswissenschaft in Deutschland. In: Aviso, Nr. 28 (2001), S. 4-7.
  • Kurt Reumann: Öffentlichkeit als Thema und Element. Zum 65. Geburtstag von Elisabeth Noelle-Neumann. In: Publizistik 26. Jg. (1981), S. 605-608.
  • Thomas Roessing: Schweigespirale. Baden-Baden: Nomos 2011.
  • Manuel Wendelin/Michael Meyen (2009): Habermas vs. Noelle-Neumann. The Impact of Habitus on Theoretical Construction of the Public Sphere. In: Javnost 16. Jg. (2009), Nr. 2, S. 25-40.
  • Jürgen Wilke (Hrsg.): Öffentliche Meinung – Theorie, Methoden, Befunde. Freiburg, München: Alber 1992.
  • Jürgen Wilke (Hrsg.): Die Aktualität der Anfänge. 40 Jahre Publizistikwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Köln: Herbert von Halem 2005.

Weblinks

Empfohlene Zitierweise

    Manuel Wendelin: Elisabeth Noelle-Neumann. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2013. http://blexkom.halemverlag.de/elisabeth-noelle-neumann/ (Datum des Zugriffs).