Persuasive Kommunikation und Behaviorismus

Serge Tchakhotines vergessenes Buch über die NS-Propaganda von 1939

Beitrag von Stefanie Averbeck-Lietz am 7. August 2017

Stefanie Averbeck-Lietz porträtiert den Psychologen, Neurophysiologen, Zellforscher und Propagandataktiker Serge Tchakhotine nicht als Sozialwissenschaftler, sondern als Naturwissenschaftler mit sozialen und politischen Motiven. Die Autorin ist Professorin für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Bremen.

„Was die Menschheit erwartet, falls der Faschismus jemals triumphiert? Das ist die Degradierung des Menschen zu einer Art Automaten, dessen gesamte Reaktionen im Vorhinein determiniert werden [sollen], reguliert durch eine kleine Pseudo-Elite, umgetrieben von rassistischen Ideen, die wissenschaftlich absurd sind. Das ist die Degradierung des menschlichen Denkens zu einem Mittel der psychologischen Gewalt, eine permanente psychische Vergewaltigung, der Niedergang der Kunst zwecks Glorifizierung der Gewalt und die ebenfalls absurde Idee der Vorbestimmtheit von ‚Führern‘“ (Tchakhotine 1939: 231) [1].

„Oft besteht der Fehler suggestiver Propaganda darin, so zu handeln, als ob jede Person in der gleichen Weise reagiere. Tatsächlich ist die Mentalität diverser Gruppen der Gesellschaft sehr verschieden und relationale Propaganda muss daher differenziert sein“ (Tchakhotine 1939: 116).

1. Werk, Leben, Bedeutung

Die hier eingangs angeführten, sehr plakativen Zitate stammen von dem Psychologen, Neurophysiologen, Zellforscher und Propagandataktiker Serge Tchakhotine [2]. Ende der 1930er-Jahre bezichtigte er die NS-Diktatur, den Menschen ihre Freiheit, ihre Würde sowie ihren sozialen und intellektuellen Fortschritt zu nehmen (vgl. Tchakhotine 1939: 70f.). Freiheit – dies kann der folgenden Analyse vorweggeschickt werden – fasste der Wissenschaftler Tchakhotine als Widerständigkeit gegenüber Außenreizen (Tchakhotine 1939: 196), auch gegenüber solchen durch persuasive Kommunikation. Freiheit interessierte darüber hinaus den der Sozialdemokratie nahestehenden Propagandataktiker Tchakhotine als politische Freiheit in einer Demokratie [3].

Serge Tchakhotine (Quelle: Privatarchiv Boris Hars-Tschachotin)

Es ist für die folgende Darstellung zentral, Tchakhotine nicht als Sozialwissenschaftler zu lesen, der er nicht war, sondern als einen Naturwissenschaftler mit sozialen und politischen Motiven: Er war Sozialdemokrat und Pazifist und versuchte sein naturwissenschaftliches Wissen mit Gesellschafts- und Erziehungsidealen zu verbinden. Dabei richtete er sich gegen Faschismus und Nationalsozialismus. Thymian Bussemers Lesart der Tchakhotinschen Propagandatheorie ist, rechnet man diese Verbindung von wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse und politischer Ambition ein, reduktiv und würde Sozialwissenschaftler*innen nicht unbedingt zur Originallektüre verleiten: „Tschachotin zeichnete […] ein Bild vom Rezipienten im Propagandaprozess, das dem Klischee des völlig hilflosen Individuums, das durch finstere und dabei durch und durch rational eingesetzte Psychotechniken manipuliert wird, perfekt entspricht“ (Bussemer 2005: 321f.). Schon Rolf Hildebrandt sah Tchakhotine fälschlich nur als einen Pawlow-Schüler, der den Menschen auf eine „unpersönliche Reflexmaschine und Homunkulus“ reduziere (Hildebrandt 1956: 67f.) [4].

Der Freiheitsbegriff Tchakhotines ist allerdings keinesfalls nur naturwissenschaftlich oder behavioristisch abgeleitet. Denn er bindet Freiheit als Widerständigkeit an Kultur und eine übergreifende Idee der Humanität (Tchakhotine 1938: 7, 27ff.) [5]. Zwar unternahm Tchakhotine Experimente mit Amöben: Sie haben in seinem Buch Bedeutung für die reizphysiologische Seite seiner Argumentation (vgl. Vöhringer 2011), nicht aber für die triebpsychologische, die davon zu unterscheiden ist und von Sigmund Freud (1856-1939) und Alfred Adler (1870-1937) beeinflusst war. Tchakhotine war ein Schüler und Mitarbeiter Pawlows – aber dessen „Behaviorismus“ bezog sich nicht auf gesellschaftliche Kommunikation, sondern Verdauungsvorgänge und reizinduziertes Lernen. Tchakhotine kann bei allen Einflüssen, vor allem durch die Psychoanalyse und seine praktisch-politische Arbeit (vgl. Albrecht 2007, Averbeck-Lietz 2010), die seinen Ansatz zur Theorie und Praxis der Propaganda bestimmt haben, nicht vereinfachend als „Pawlowianer“ bezeichnet werden, wie Bussemer und Hildebrandt ihn auf einer eingeschränkten Quellenbasis bewerten. Gerade Tchakhotines Grenzgängertum zwischen Behaviorismus und Psychoanalyse legitimiert die Auseinandersetzung mit seinen politisch-sozialen Schriften, die zwar international oft zitiert, aber selten gelesen werden. Eine Ausnahme macht Katja Nündel (2005: 127) in ihrer unpublizierten Leipziger Diplomarbeit; sie kommt zu einem differenzierten Ergebnis und betont, dass Tchakhotine nicht davon ausgegangen sei, dass jeder Stimulus auf jedes Individuum in jeder Situation auf die gleiche vorgeplante Weise wirke [6]. Dies stützt die Argumentation der Wissenschaftshistorikerin, Kunst- und Medienwissenschaftlerin Margarete Vöhringer (2011: 112), die Tchakhotines und Pawlows Arbeiten voneinander abgrenzt und den Einfluss von Bechterev und dessen Psychotechnik auf Tchakhotine betont: „[…] stimulus and response were not always connected in the same way, they were bound to individual temper, to experience and even daily dispositions“.

Meiner Kenntnis nach hat sich neben Richard Albrecht, Thymian Bussemer, Katja Nündel, Margarete Vöhringer und mir niemand im deutschen Sprachraum tiefergehend mit dem Werk von Tchakhotine befasst. Hingegen kommt zumindest Tchakhotines zentralem Buch über die „Vergewaltigung der Massen durch die politische Propaganda“ („Le viol des foules par la propagande politique“) im Fachkontext der französischen Kommunikationswissenschaft der Stellenwert eines Gründertextes zu (vgl. Albert 2001: 40). Ein Buch, das 1939 kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges in erster und dann innerhalb nur eines Jahres in sieben weiteren Auflagen erschien, schließlich nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris verboten wurde – wohl um der Analyse der Semantik und Symbolik der nationalsozialistischen Propaganda willen. Die französische Neuauflage erfolgte 1952 wiederum bei Gallimard [7]. Das Buch hat aufgrund des Verbots nur eine marginale internationale Rezeptionsgeschichte aufzuweisen. Richard Albrecht (1986a) beschreibt es als zitiert oder benannt zumeist nur als Beleg für „die allgemeine Autoritätshörigkeit der Deutschen“ (bei Wallace Deuel), gelesen als Anti-Nazi-Propaganda (bei Lewis J. Edinger), als anti-totalitaristische Propaganda-Kritik (bei Jacques Driencourt, Lewis Fraser) und als Beleg für die Unwirksamkeit des Propagandakampfes gegen den Faschismus (bei Eike Henning und Timothy Mason). Hinzuzufügen ist, dass Tchakhotine als ein Vorvater für die Beschäftigung mit politischer Kommunikation jenseits der massenpsychologischen Tradition Gustave Le Bons und Gabriel Tardes gilt (vgl. Cazeneuve 1982: 370). Einen Wiederabdruck des Abschnitts „Le symbolisme et la propagande politique“ („Der Symbolismus und die politische Propaganda“) aus der Erstausgabe von 1939 publizierte die französische Fachzeitschrift Hermès 1988. Die frankophonen „Reporter ohne Grenzen“ verweisen auf Tchakothines Beschreibungen totalitärer Propaganda als Beleg für Kriegs- und Krisenpropaganda generell (vgl. de la Brosse 1995: 9). Währenddessen hat die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) die Spur des Erfinders ihrer publizistisch-aktionistischen „Dreipfeilkampagne“ gegen den Faschismus weitgehend verloren. Die Kampagne kommt in der Parteiliteratur als historisches Momentum zwar noch vor, ihr Autor nicht (vgl. Albrecht 1986a: 505, Averbeck-Lietz 2010: 143-161) [8].

Serge Tchakhotine wurde am 13. September 1883 als Sohn des russischen Vizekonsuls und Chefdolmetschers an der russischen Botschaft in Konstantinopel und seiner griechischen Frau Alexandra geboren. Tchakhotine starb am Heiligen Abend 1973 in Moskau. Er hinterließ acht Söhne aus fünf Ehen [9].

Angeregt durch seine zeitweilige Arbeit mit Conrad Wilhelm Roentgen (1845-1923) erfand Tchakhotine das Strahlenskalpell, das für die Mikrochirurgie bahnbrechend werden sollte. Auch entwickelte er verschiedene Experimentaltechniken, die noch heute in der Zellphysiologie grundlegend sind (vgl. Bohn 2001: 20). Die Lebensschauplätze dieses vielseitigen Pioniers finden sich in ganz Europa: Der Moskauer Medizinstudent wurde nach der Teilnahme an Studentenprotesten gegen den Zaren des Landes verwiesen und brach zunächst nach Deutschland auf. In Heidelberg schloss er das Studium zum Dr. rer. nat. der Zoologie, Chemie und Physiologie 1908 mit einer Dissertation über die Gleichgewichtsorgane von Schnecken bei Otto Bütschli (1848-1920) ab. Er hörte aber auch Vorlesungen in Kunsttheorie und Ästhetik bei Max Dessoir (1867-1947) und Soziologie bei Georg Simmel (1858-1918) in Berlin. Ein weiterer Weg führte nach Messina in das pharmakologische Forschungslabor von Alberico Benedicenti (1866-1961). Von dort wechselte Tchakhotine 1912, wiederum auf ein entsprechendes Angebot hin, als Assistent in das Labor des russischen Physiologen und Nobelpreisträgers für Medizin und Physiologie, Petrowitsch Pawlow (1849-1936), an der Akademie für Militärmedizin in St. Petersburg. Mit ihm pflegte er bald freundschaftliche Beziehungen, überstrapazierte diese aber: Er nutzte Laborgerät zur Vervielfältigung von politischem Propagandamaterial und stellte sehr wahrscheinlich auch Nitrogylzerin für befreundete Revolutionäre her. Zudem nahm er den Posten des „Generalsekretärs des Rates der Geistigen Arbeiter“ an. Nach der Oktoberrevolution und der Auflösung des „Rates“ sowie der sozialrevolutionären Regierung unter Alexander Kerenski (1881-1970) und dessen Flucht vor den Bolschewiken, drohte Tchakhotine – der sich überdies mit Leo Trotzki überworfen hatte – 1917 die Verhaftung. Er floh und kämpfte gegen die Rote Armee. 1918 wurde er Leiter einer Propagandaabteilung in der Freiwilligenarmee („Weiße Armee“). Mit den „Weißen“, deren Gegenrevolution scheiterte, überwarf er sich ebenfalls bald wegen politischer Differenzen.

Er übersiedelte nach Frankreich, wo er ohne Festanstellung in verschiedenen Projekten „überlebte“ (Richard Albrecht). In Zagreb schließlich erhielt er 1920 eine Festanstellung als Assistent am Institut für Allgemeine und experimentelle Pathologie und Pharmakologie der Medizinischen Fakultät. Dort blieb er bis Ende 1921, erhielt den Professorentitel und erwarb die Venia Legendi für „Experimentelle Cytopathologie“. 1922 annullierte die Fakultät die Venia Legendi. Tchakhotine führte dies auf Intrigen, hier nun gegen ihn als (vermeintlich) „Roten“, zurück. Er kehrte nach Frankreich zurück und war in Paris als Publizist im Milieu der russischen Emigranten tätig, wechselte aber bald nach Berlin als Mitherausgeber und Journalist zur russischen Exilzeitschrift Nakanune („Am Vorabend“). Dieses Blatt, das gegen die nationalsozialistische Bewegung anschrieb, wurde 1924 eingestellt. Danach folgte, vermittelt über hochrangige persönliche Kontakte zu Leonid B. Krassin (1870-1927), eine Tätigkeit in der sowjetrussischen Handelsmission in Berlin bis 1927, die er nach Krassins Tod und Josef Stalins (1879-1953) Machtübernahme abbrach. Er distanzierte sich von der Sowjetunion. Mit Geldern des Vatikan nahm er eine Forschung am Pharmakologischen Institut in Genua auf und schließlich gelang Tchakhotine mithilfe eines Empfehlungsschreibens von Albert Einstein (1879-1955) eine Stipendiumsbewerbung auf drei Jahre bei der New Yorker Research Corporation. Diese Finanzierung ermöglichte ihm ab 1930 eine Tätigkeit als Gastwissenschaftler am Institut für Medizinische Forschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Heidelberg. Nach eigener Einschätzung verfügte Tchakhotine nun zum ersten Mal in seinem Leben über „ideale Arbeitsbedingungen“. Diese waren von kurzer Dauer:

Serge Tchakhotine in Villefranche-sur-Mer 1930 (Quelle: Privatarchiv Boris Hars-Tschachotin)

In Heidelberg lernte er den SPD-Politiker Carlo Mierendorff (1897-1943) kennen, damals Pressesprecher des hessischen Innenmisters, der ihn nachhaltig beeinflussen und mit dem er bald politisch zusammenarbeiten sollte. Gemeinsam verfassten die beiden die Schrift „Grundlagen und Formen politischer Propaganda“ (Tschachotin/Mierendorff 1932). Im gleichen Jahr wurde Tchakhotine Propagandachef der „Eisernen Front“. Im Frühjahr 1933 entließ die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft den sowjetischen Staatsbürger wegen politischer Betätigung [10]. Nach Durchsuchungen seines Labors und seiner Wohnung durch die Gestapo floh er mit seinem in Berlin geborenen, zehnjährigen Sohn Eugène ins dänische Exil. In Kopenhagen fand er eine Anstellung am Institut für Allgemeine Pathologie der Universität. Nachdem er in Dänemark aufgrund von Auseinandersetzungen mit emigrierten, führenden Köpfen der deutschen SPD und auch der Sozialdemokratie Dänemarks politisch isoliert war, wechselte er im Frühsommer 1934 wiederum nach Paris und ernährte Eugène von sporadischen Tätigkeiten in Forschungslaboratorien. Politisch betätigte er sich in der „Gauche révolutionnaire“ der Sozialistischen Partei Frankreichs. 1935 leitete er gemeinsam mit dem Filmregisseur Robert Talpain (1899-1985) die Kampagne für den französischen Sozialisten und späteren Ministerpräsidenten Léon Blum (1884-1977). Gleichwohl schrieb Tchakhotine, nun seit seiner Flucht aus Deutschland schon zum zweiten Mal, 1938 an Albert Einstein: „Vielleicht, wenn Sie mich empfehlen würden, ließe sich dort [in den USA] etwas finden. Ich wäre dann bereit, nach Amerika überzusiedeln und dort dann in Ruhe meine wissenschaftlichen Forschungen weiterzuführen“ (zitiert nach Vogt 2007: 216). Auch bat er Einstein schon im Dezember 1933 für geplante, aber nie umgesetzte Übersetzungen von “Dreipfeil gegen Hakenkreuz“ ins Englische und Französische um Vorworte (ebd.). Antwortbriefe seitens Einstein sind nicht überliefert.

Nach der Besetzung Nordfrankreichs internierten die Deutschen Tchakhotine Ende Juni 1941 im Konzentrationslager Compiègne. Auf Fürsprache zahlreicher deutscher Wissenschaftler entließ man ihn nach sieben Monaten.

Serge Tchakhotine, Moskau 1964 (Quelle: Privatarchiv Boris Hars-Tschachotin)

In den 1950er-Jahren arbeitete Tchakhotine in der experimentellen Krebsforschung in einem Pariser Labor, ab Mitte des Jahrzehnts wieder in Italien, an den Pharmakologischen Instituten Genua und Rom. In der Ära des Reformers Nikita Chruschtschow kehrte er, 75-jährig, 1958 nach Moskau zurück. Dort ging er an renommierten Instituten der UdSSR gut bezahlt seinen Forschungen nach. Die Akademie der biologischen Wissenschaften nahm ihn auf. Allerdings erteilte ihm die Regierung Reiseverbot. Nur noch einmal verließ der „nomadic scientist“ (Greulich et. al. 2007) sein Heimatland: Beigesetzt wurde seine Urne auf Korsika, wo er und seine erste Frau 1908 die Flitterwochen verbracht hatten.

2. Propaganda, Reiz und Reaktion

Meine Lesart des Buchs über die „Vergewaltigung der Massen“ von 1939 kontrastiere ich mit der von Tchakhotine und Carlo Mierendorff verfassten populärwissenschaftlichen Broschüre „Grundlagen und Formen politischer Propaganda“ von 1932, die eine Art Leitfaden zur angewandten Propaganda gegen den Faschismus enthält. Das Buch dokumentiert zahlreiche zeithistorisch wertvolle Abbildungen und Fotografien, die sich vorrangig auf die Propagandaaktionen Tchakhotines und Mierendorffs 1932 in Hessen für die SPD und die „Eiserne Front“ beziehen bzw. während derselben entstanden (dazu ausführlich Averbeck-Lietz 2010, ein kleiner Ausschnitt dieser Fotografien findet sich auch in Harms 2012). Aus der Straßenpropaganda leiteten die beiden Autoren Grundsätze „wirksamer“ Propaganda ab. Die Inhalte der Broschüre werden in weiten Teilen in Veröffentlichungen von 1933 (vgl. Tschachotin 1933). und auch in „Le viol des foules“ 1939 resümiert und im zuletzt genannten Buch in den reizphysiologischen Kontext der Forschungen Tchakhotines eingebettet [11].

Das sogenannte „Reiz-Reaktions-Modell“ [12] wird heute retrospektiv und häufig unterschiedslos (dabei bleibt dies oft implizit) für zwei voneinander abweichende Phänomene verwendet:

  • a) Reiz-Reaktions-Vorstellungen aufgrund politisch-normativer, teilweise auch massenpsychologischer oder massensoziologischer Überlegungen: In solchen Vorstellungen führt eine (vermeintliche) Elite aus Journalisten und Professoren die sogenannte „Masse“ „durch Überzeugung zur Tat“ (Beispiele etwa im Werk von Emil Dovifat, vgl. Averbeck 1999). Es handelt sich um eine „kulturelle“ Reiz-Reaktions-Vorstellung (vgl. Averbeck 1999, Joußen 1990). Die Reiz-Reaktions-Vorstellungen, die sich zeitgleich mit der Tchakhotines in der deutschen Zeitungswissenschaft fanden, waren fast nie naturwissenschaftlich begründet, sondern argumentierten aus einer kulturpessimistischem Auffassung heraus und einem einhergehenden reduktiven hierarchischen Gesellschaftsverständnis (vgl. auch Nündel 2005: 127). Davon abgrenzen lassen sich
  • b) naturwissenschaftlich motivierte Reiz-Reaktions-Vorstellungen, beruhend auf Laborexperimenten an Tieren und weitläufig unter „Behavorismus“ firmierend. Für diese ist es allerdings schwierig, Beispiele, die in der Kommunikationsforschung wirklich relevant wurden, zu finden (vgl. auch Brosius/Esser 1998). Selbst die deutsche psychotechnische Werbeforschung des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts ging nicht von rein behavioristischen Prinzipien aus (vgl. Regnery 2003). Gleichwohl spielten behavioristische Perspektiven in der frühen Propagandaforschung eine weitreichende Rolle (vgl. Bussemer 2003, 2005).

Im Falle Tchakhotines überlappen sich kulturelle und naturwissenschaftlich motivierte Reiz-Reaktions-Vorstellungen (vgl. auch Vöhringer 2011). Seine Reiz-Reaktions-Vorstellung ist lerntheoretisch-behavioristisch begründet und stellt Mensch, Situation und Reiz in einen Zusammenhang. Mit „Mensch“ ist hier zunächst nicht die wie auch immer definierte Person der kulturellen Reiz-Reaktions-Vorstellung gemeint, sondern die bloße biologische, vor allem nervöse und triebbasierte „Grundausstattung“ des Menschen. Gleichwohl wendet sich die spezifische politische Ethik Tchakhotines immer auch an Individuen als sozial verantwortliche Persönlichkeiten. Das einhergehende zeittypische kulturpessimistische Moment finden wir ebenfalls: Tchakhotine ging davon aus, dass nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung widerständig gegen politische Propaganda seien (also per se „Persönlichkeiten“ seien, wie es bei Dovifat und anderen sogenannte „publizistische Persönlichkeiten“ qua definitionem auch sind). Aber: Die übrigen 90 Prozent können doch zu einer solchen Widerständigkeit erzogen werden (Tchakhotine 1939: 152 sowie das Kapitel „Résistance à l’Hitlerisme“, S. 169ff.).

Propaganda soll Tchakhotine (1939: 248) folgend zur Sozialtechnologie einer demokratischen Gesellschaft werden. Der Begriff Propaganda ist folglich für ihn nicht per se pejorativ besetzt; man könnte durchweg auch „strategische Kommunikation“ dafür einsetzen. Diese soll persuasive Elemente haben, allerdings nicht ausschließlich. Strategische Kommunikation richtet sich an verschiedene Rezipientengruppen: die sogenannte Masse und die „Militanten“, also die schon vor dem Einsetzen einer Kampagne von einem bestimmten politischen Programm Überzeugten. Die Letzteren agieren eher rational („ratio-propagande“, Tchakhotine 1939: 152), die Ersteren eher emotional, dann im Sinne Tchakhotines auf „reizphysiologischer“ Basis und seien mit Konditionierung erfolgreich anzusprechen („senso-propagande“, Tchakhotine 1939: 152, auch Tschachotin/Mierendorff 1932: 4).

Folgt man Klaus Merten (2000), definiert die „Kommunikationssituation“, nicht die Textsorte oder deren Wirkung, Propaganda. Einem modernen Kommunikationsbegriff, respektive Zeichen- und Symbolbegriff, der nach den Bedingungen und Prozessen von Bedeutungszuweisung fragen würde [13], wird Tchakhotine allerdings noch nicht gerecht. Spreche ich im Folgenden mit Blick auf Tchakhotine von „Kommunikation“, so ist damit kein klar definierter Kommunikationsbegriff gemeint, wohl aber

  • a) ein symbolisch induzierter Prozess, der
  • b) intentional gerichtet ist und
  • c) emotionale Dispositionen erhalten und erzeugen soll.

Handelt dabei der Kommunikator rational und interessegeleitet, so ist der Rezipient zwar abhängig von der an ihn gerichteten Mitteilung, er wird aber nicht in seinen gesamten kognitiven, psychischen oder physischen Regungen von ihr dominiert. Er kann sich der Propaganda, der er unterliegen soll, auch entgegenstellen: z.B. durch Gegenkampagnen, Demonstrationen und Aktionismus, in die Tchakhotine zumindest potenziell jedes Mitglied einer Bevölkerung involviert sah. Jeder kann zum Propagandisten werden, und: Es kommt auf jeden an. Keiner muss der NS-Propaganda unterliegen. Allerdings ist das Mittel der Gegenstrategie wiederum Propaganda, die damit zum Modus wird, Konsens und Handlungsfähigkeit innerhalb gesellschaftlicher Gruppen zu erzeugen. Tchakhotine unterschied „gute“ und „schlechte“ Propaganda; die Differenz ist ethisch und strategisch zugleich begründet. Die „gute“ Propaganda stellt Regeln für „Wahlkampagnen in demokratischen Gefügen“ (Tschachotin 1932a: 1093-1097, Tschachotin 1932b: 1131-1136) auf (hier der SPD) und soll Überredungs- und Überzeugungskommunikation sein (über einen Begriff von Öffentlichkeitsarbeit verfügte Tchakhotine noch nicht). Den eigenen Anspruch hielt er allerdings nicht durch und empfahl als aktiver Propagandastratege auch der SPD „Aufpeitschdialoge für die gute Sache“ (Tschachotin/Mierendorff 1932: 9ff.).

Serge Tchakhotine (Quelle: Privatarchiv Boris Hars-Tschachotin)

Es gibt eine weitere historische Perspektive, die hier nur am Rande mitlaufen kann: Die Quellenbasis, die „Le viol des foules“ (1939), aber auch die Broschüre „Grundlagen und Formen politischer Propaganda“ (1932) sowie die Schrift „Dreipfeil gegen Hakenkreuz“ (1933) als Zeitdokumente darstellen für erstens die Geschichte der politischen Werbung der SPD, insbesondere der „Eisernen Front“, und zweitens die Beschreibung der NS-Propaganda, besonders der Formulierung von Kampagnen bestimmenden Begriffen und Slogans, die Tchakhotine auf ihre Semantik hin untersuchte. Hier lehnte er sich in Stil und Intention an Willy Münzenbergs Schrift „Propaganda als Waffe“ von 1937 an. Wie Münzenberg kommt auch Tchakhotine und Mierendorff das Verdienst zu, die Propaganda des Nationalsozialismus als Zeitzeugen detailliert beschrieben zu haben und eine Öffentlichkeit zu skizzieren, die auf Terror, Wahrnehmung von Terror, Angst vor Terror und einer manifesten sanktionsmächtigen Isolations-, schließlich Vernichtungsdrohung beruhte. Bis heute gibt es keine dezidierte Theorie einer totalitären Öffentlichkeit. Ernst Manheim (1933) hat schon 1932 mit seinem Konzept der „qualitativen Öffentlichkeit“, in der nur noch ein bestimmter Konsens legitim ist (und ggf. durch Staatsterror abgesichert wird), Grundlagen für eine solche gelegt. In Elisabeth Noelle-Neumanns Konzept der Schweigespirale, erstmals publiziert 1981, finden wir das Motiv der Isolationsdrohung. Sie entwickelt es allerdings aus einer sozialpsychologischen, nicht einer behavioristischen Argumentation heraus sowie nicht dezidiert mit Blick auf spezifische Isolationsdrohungen in totalitären Gesellschaften. Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardts (1991) modellhafte Vorstellung des Zusammenspiels von massenmedialer Öffentlichkeit, Versammlungsöffentlichkeit und Encountern ermöglicht ebenfalls Ansatzpunkte: So ist die Grundlage einer (repräsentativen) demokratischen Öffentlichkeit die funktionale Vermittlung dieser drei Ebenen. In totalitären Staaten dürfte diese Vermittlung nicht mehr in ausreichendem Maße gegeben sein, da die Encounter sich von institutionalisierten Kommunikationsformen abkoppeln, um schließlich eine sogenannte „zweite“ Öffentlichkeit oder Gegenöffentlichkeit zu bilden (vgl. Bathrick 1995, Rühle 2003, Meyen 2010). Eike Hennig diskutiert „Aspekte der Analyse faschistischer Öffentlichkeit als Beziehungs- und Lernform“ und stellt die forschungsleitende These auf: „Faschismus muss […] als eine Beziehung von Menschen, als ein Kommunikationsgeflecht, als eine Summe von Lernprozessen und als eine spezifische Form der Präsentation einer politischen Bewegung in der Öffentlichkeit verstanden werden“ (Henning 1975: 107ff.). Er illustriert die These mit Verweis auf Arbeiten auch von Serge Tchakhotine. Tatsächlich ist dessen Buch „Le viol des foules par la propagande politique“ von 1939 für zwei Denkmotive [14] relevant:

  • a) eine behavioristische Perspektive, die reizphysiologisch argumentiert, zugleich aber lern-, trieb- und kulturtheoretisch erweitert wird. Referenzen Tchakhotines sind die Psychoanalyse Sigmund Freuds und Alfred Adlers sowie der Pragmatismus von William James (1942-1910).
  • b) eine symboltheoretische Perspektive, die es erlaubt, Kommunikationsprodukte und -formen zu klassifizieren. Hier finden wir kommunikationspraktische Überlegungen für symbolische Politik. Sie ergeben sich aus Tchakhotines Tätigkeit als Propagandastratege (vgl. Averbeck-Lietz 2010) und sind praktizistisch ebenso wie praxeologisch motiviert, wirken aber auf die reizphysiologische Theoriebildung zurück.

Aus heutiger Perspektive handelt es sich um (vermeintlich) dichotomische Denkmotive: Behaviorismus hier, Symboltheorie dort. Tchakhotines Beschreibungen von Propaganda und ihrer Symbolik muten modern an, ihre reizphysiologische Begründung nicht. Dabei ist das physiologische Motiv auch in der jüngeren Theoriengeschichte der Kommunikationswissenschaft keine außergewöhnliche Position: So hat die moderne Neurobiologie die Kybernetik (Vöhringer 2011: 120) und den (radikalen) Konstruktivismus beeinflusst (vgl. Rusch/Schmidt 1999, Pörksen 2005). Experimentelle Rezeptions- und Wirkungsforschung findet heute u.a. über reizphysiologische Indikatorenmessungen (vgl. Fahr/Hofer 2013) statt. Schon Tchakhotine bemühte Experimente zur Reizung von Gehirnfeldern, die besagen: Fällt ein Teil im Gehirn aus, übernimmt ein anderer die Funktionen. Er bezog sich auf Forschungen von Goldschneider und von Frey zur Rezeption von Schmerz (die ergaben, dass Schmerz ohne Beteiligung des Willens physische Reaktionen hervorruft) sowie im Bereich der Hirnforschung auf die damals jüngsten Experimente mit dem EEG und die Erkenntnis, dass Hirnzellen variabel arbeiten: Funktionen von Hirnarealen etwa nach einem Unfall von einer anderen Hirnregion ersetzt werden können. Tchakhotine band „eingeborene Reflexe“, wie sie Goldschneider und von Frey besprachen, direkt an die dispositionale Triebstruktur: so z.B. das muskuläre Zurückweichen bei Schmerz an das Triebsystem „Verteidigung“ (bzw. Selbsterhaltung, vgl. Tchakhotine 1939: 76).

Liegt also eine theoriengeschichtliche Verbindung zu Tchakhotine über das physiologische Motiv selbst vor, so verbinden uns heute überdies drei fast mythische, aber gleichwohl die Wissenschaft beeinflussende Denkmotive, mit ihm:

Ein Aufklärungsmythos: Wissenschaft und Analyse sind Mittel zum Fortschritt

So setzte Tchakhotine (1939:256) sein Wirken ein für eine „wahre Psychagogie zu Diensten des Menschen für eine friedvolle Zukunft voll Wohlbefinden und Freiheit“. Er entwarf im Zuge dessen gar eine instinktphilosophisch begründete Geschichtsphilosophie: Nach den „Stufen“ des Christentums (Instinkt der Fürsorge/„maternité“) und des Kapitalismus (Instinkt der Selbsterhaltung/„alimentation“) habe sich nun der Kampftrieb (Instinkt des Kampfes/„lutte“) als aktuelles Triebmotiv der beiden kämpfenden Ideologien, Faschismus und Sozialismus, erwiesen [15]. Rückblickend auf friedlichere Zeiten galt ihm Frankreich, das Land Rousseaus und der Revolution, zugleich das Land, das die Ideale der Demokratie am ehesten vertrat. Mit dem Fortschritts- und einem damit verbrämten Aufklärungsmythos (der nicht recht zum instinktphysiologischen Ansatz passen will) einher ging sein Glaube an die „Rationalisierung“ von Arbeitswelt und gesellschaftlicher Kommunikation mit „wissenschaftlichen Methoden“. Dabei verstand er Rationalisierung nicht als „Zwang“, sondern als notwendigen Fortschritt, hin zu einer weniger irrational geleiteten Welt (vgl. Tschachotin/Mierendorff 1932; Tchakhotine 1938: 7, 27ff.). Damit stand er in der Tradition der naturwissenschaftlichen Psychologie zu Jahrhundertbeginn: Nicht nur der Behaviorismus, auch die Psychotechnik, die er explizit und in Ergänzung zum Taylorismus als Grundlage moderner gesellschaftlicher Organisation benannte, lässt sich hier einordnen (Tschachotin 1932a: 1094, Tchakhotine 1938: 52, Vöhringer 2011) [16]. Und damit stellte er sich zugleich und ausdrücklich in die sozialistischen Tradition des Bündnisses zwischen „Wissenschaft und Arbeitern“ (vgl. Tschachotin/Mierendorff 1932: 5). Mit Tchakhotine verbindet uns weiterhin:

Ein Steuerungsmythos: Kommunikation wird bei Tchakhotine zum Mittel der gesellschaftlichen Steuerung schlechthin

Kommunikationswissenschaftler wie Philippe Breton (1997) weisen diesen Mythos den Nachkriegsgesellschaften nach 1945 zu, insbesondere den Vertretern kybernetischer Kommunikationstheorien.

Ein Kulturmythos: Kultur sublimiert die Triebstruktur des Menschen und ermöglicht erst eine wahre „Humanität“ (vgl. Tchakhotine 1939: 256)

Kultur, die hier Bildung und Erziehung umfasst, ist dabei nicht als Gegenteil zur Arbeitswelt zu sehen, sondern als integraler gesellschaftlicher Bestandteil. Der Sozialist Tchakhotine war kein Anhänger einer Hochkultur, die ausschließlich exklusiven Zirkeln zugänglich sein sollte, wohl aber ein Verächter der “Kulturindustrie“ [17]. Dabei sah er keinen Widerspruch zwischen kulturtheoretischen und reizphysiologischen Überlegungen: „Behaviorismus“ heißt ihm folgend, dass die dem Menschen eingeborene Reiz-Reaktions-Struktur sich mit der Umwelt des Menschen auf komplexe Weise verbindet. „Konditionierte Reflexe“ sind nicht monokausal begründbar, sondern beruhen auf Ursachenbündeln (Tchakhotine 1939: 263, auch Vöhringer 2011). Es ging Tchakhotine offensichtlich um die Sublimierung von Trieben in differenziertere Emotionen. Darin sah er nicht zuletzt die Möglichkeit, Menschen gegenüber einer Lügenpropaganda, die mit Hass, Verachtung und Herabwürdigung anderer arbeitet, zu stärken. Eine Theorie oder eine Psychologie der Emotionen blieb er zwar schuldig, suchte allerdings danach, so bei Sigmund Freud, vor allem aber bei William James.

3. Serge Tchakhotine und William James

James war Reizphysiologe, Philosoph, Experimentalpsychologe und gilt als Gründervater der amerikanischen Psychologie. U.a. legte er Forschungen zu eingeborenen Muskelreflexen, ihren Reaktionszeiten, zur Hypnose und zum sogenannten automatischem Schreiben vor. Er dachte Körper und Geist als unabdingbar aufeinander angewiesene funktionale Einheit (vgl. Pajares 2003, Hunt 2007). In dem Sinne, dass das Gehirn physiologisch gebunden arbeite und nur auf der Basis der Physiologie des menschlichen Körpers überhaupt arbeiten könne, tat dies auch Tchakhotine. Er verstand sich dabei explizit nicht als Materialist, erstens seien psychische Tatsachen nicht weniger „real“ als wirtschaftliche oder andere, zweitens habe die Wissenschaft mit den neueren physiologischen Erkenntnissen die Auffassung einer mechanistischen Menschennatur abgelegt (vgl. Tschachotin 1932a: 1093). Tchakhotine allerdings unterstellte das „konstruktive“ Potenzial des menschlichen Wahrnehmungsapparates und des Gehirns als weit eingeschränkter als James und betonte die Außenreize stärker. In Bezug auf Emotionen hob zwar auch James die Wirksamkeit von Außenstimuli hervor, die allerdings niemals autonom wirken: So verstand James Emotionen als zum Teil bewusst erlebte „Bewertung“ durch das „System Mensch“ auf der Basis autonomer nervöser Prozesse und deren innerer Wahrnehmung als Gefühl. James äußerte in einem berühmten Zitat: „Our natural way of thinking […] is that mental perception of some fact exhausts the mental affection called the emotion, and that this latter state of mind gives rise to the bodily expression. My theory, on the contrary, is that the bodily changes follow directly the perception of the existing fact, and that our feeling of the same changes as they occur IS the emotion” (zitiert nach Hunt 2007: 12). Die bis dato unterstellte Wirkungskette Reiz > Wahrnehmung des Reizes > Emotion > körperliche Reaktion findet sich bei James umgedeutet in Reiz > Wahrnehmung des Reizes > körperliche Reaktion > Bewertung der körperlichen Reaktion durch den Geist als „Gefühl”. Der Reiz existiert damit (im menschlichen Gehirn) nicht mehr unabhängig von seiner Wahrnehmung und der kognitiv-emotionalen Qualität, die diese Wahrnehmung dem Reiz selbst zumisst. Diese Auffassung gilt in der Emotionsforschung bis heute: „Affekte [als Oberbegriff für Emotionen] sind ganz allgemein mentale Zustände, die evaluative Gefühle als Antwort auf Situationen umfassen“ (Wirth 2014: 29). Allerdings wird heute die kognitive Komponente von Emotionen weit stärker betont, als dies bei William James der Fall war (ebd.: 32) [18].

Psyche und Physis sind untrennbar verbunden. Auch Tchakhotine band Psyche an Physis, allerdings unterschied er – anders als James – die Wahrnehmung des Reizes nicht vom Reiz selbst und die äußerlich sichtbare, beobachtbare Emotion nicht von deren innerer Wahrnehmung durch denjenigen, der sie empfindet. Überhaupt erläuterte er nicht, was Emotion sei, wie sie generiert werde, und band sie an ein starkes Triebsystem. Die Betonung liegt auf einem Zusammenspiel von Triebsystem und Wirkungsfaktor. Demgegenüber liegt die Betonung bei James stärker auf dem Gehirn/Geist als bewusstseinsgebender Instanz – wie auch immer dies sich physiologisch vollzieht: Es ist das Individuum, das Bewusstsein hat, dem ist die Triebstruktur letztlich untergeordnet. James schritt zum Begriff der intentionalen, willensgeleiteten Handlung fort (vgl. Diaz-Bone/Schubert 1996: 38ff., 42ff.) [19].

4. Gute Propaanda versus NS-Propaganda [20]

Tchakhotine hat als Physiologe die Position vertreten, dass man unterschiedliche Reize legieren, assoziieren könne, und als politischer Propagandist beobachtet und analysiert, dass die Nationalsozialisten nach dem Prinzip arbeiten, bestimmte Symbole an bestimmte Ängste binden. Dem müsse man die „gute Propaganda“ entgegensetzen, „eine gewaltige Propaganda der Gewaltlosigkeit“ („une propagande violente de non-violence“, Tchakhotine 1939: 251). Dabei widersprechen sich die Triebstruktur des Menschen und die Idee des Guten ebenso wenig wie die Triebstruktur und die Idee des Bösen (ebd.: 250).

Reiz und Reaktion bilden keinen unbedingt kausalen Zusammenhang, sie sind situations- und gebunden an dasjenige, typisch werdende Reizmuster, das ein Individuum bereits durch zahlreiche Erfahrungen (hier im Sinne von Konditionierungen und Inhibitionen) aufgebaut hat (ebd.: 56, im gleichen Sinne die Einordnung der Tchakhotinschen Reizphysiologie bei Vöhringer 2011). Dabei spielt die individuelle Situation eine große Rolle: So wirke Tchakhotine folgend Angstkommunikation am stärksten auf solche Menschen, die bereits eingeschüchtert oder in einer desolat Lage befindlich sind (Tchakhotine 1939: 79). Prägungen Hitlers wie „Köpfe werden rollen“ und „Nacht der langen Messer“ seien angepasst an eine verzweifelte und verarmte Bevölkerung. Die Hoffnung auf den, so Tchakhotine, „guten Ausgang der bösen Zeit“ werde auf ein besseres Leben in die Zukunft verlegt (ebd.: 97, zur Beschreibung semantischer Drohkulissen auch Tchachotin 1932d).

Solche Momente finden wir in Mertens (2000) Klassifikation der „Struktur von Propaganda“ ebenfalls: Ausschließlichkeitscharakter des Inhalts, Einforderung von Gehorsam, Skizzierung von Sanktionen (die bei Nichtbefolgung der kommunikativen oder einer anderen Handlungsanweisung greifen oder vermeintlich greifen werden), Unüberprüfbarkeit der Aussagen, Verlegen der Sanktionen (positiv oder negativ) in die Zukunft. Planmäßiger Terror (wie Hinrichtungen zur Statuierung von „Exempeln“) erhöht auf perfide Weise die Glaubwürdigkeit der Drohung und deren Antizipation, Tchakhotine nannte 1939 (210) die Verfolgung der Juden ausdrücklich.

Wiederholt betonte er, dass die NS-Propaganda Enthusiasmus erzeugen wolle und darüber vermittelt schließlich Opferbereitschaft („Einer für alle“) sowie zugleich Angst und Schrecken bei Gegnern und potenziellen Opfern des Regimes, Letzteres durch martialische Sprache und Gestus, Gewalt und Rassenideologie. Sein Buch mit Bezug auf die Jahre 1931 bis etwa 1935 sah eine kommende Schreckensherrschaft Hitlers, die in Vernichtung, Rassenhass und sehr wahrscheinlich einem Weltkrieg (vgl. Tchakhotine 1939: 260) münden werde. Die historischen Tatsachen (der Aufstieg Hitlers schon in der Weimarer Republik, die „Machtergreifung“, das Münchner Abkommen, die Annektierung Tschechiens etc.) sind korrekt und relativ nüchtern, in berichtendem Stil und auf der Basis zahlreicher Zitate aus der zeitgenössischen Presse dargestellt. Um eine systematische Presseauswertung handelt es sich allerdings nicht.

Sowohl die gute als auch die schlechte Propaganda richten sich an eine decouragierte Bevölkerung, schreibt Tchakhotine (1939: 97). Seine Leitlinien für die sogenannte „gute“ Propaganda zeigen Tchakhotines praktisch-politische und ethische Motivation (ebd.: 256):

  • 1. Koordination und Organisation von Propaganda in entsprechenden Partei- und/oder Regierungsapparaten;
  • 2. Abstimmung der Propaganda auf (politische) Ereignisse, strategische Planung und Evaluation der Propagandamethoden (vgl. ebd.: 184);
  • 3. Gestaltung der Aufmerksamkeitsentwicklung (so die Erweckung von „Neugier“ vor allem der politisch Indifferenten, auch Tschachotin 1932b: 1132, Tschachotin/Mierendorff 1932);
  • 4. Verwendung ironischer und satirischer Elemente, um Emotionen zu „moderieren“, sie in eine positiv-enthusiastische, aber nicht fanatische Richtung zu lenken;
  • 5. Verzicht auf Lügen, ästhetisch und moralisch entrüstende Elemente der Darstellung;
  • 6. Bebilderung der Kampagne durch Zeichnungen, Abbildungen, Embleme und Fotografien (vgl. Tchakhotine 1939: 256) sowie
  • 7. Anpassung der kommunizierten Inhalte und der Formen der Kommunikation als „berechnete Maßnahmen“ an und auf verschiedene Rezipientengruppen, en gros (1) die Masse derer, die (noch) überzeugt werden soll, ergo die „Indifferenten“, (2) die Anhänger der eigenen Position, die „aktiven Mitstreiter“, (3) die Kontrahenten, die „aktiven Gegner“.

Dabei sei das „Mitreißen der Unschlüssigen und Indifferenten“ das vorrangige Ziel von Gefühlspropaganda (vgl. Tschachotin/Mierendorff 1932: 4, Tschachotin 1932c: 425-431, Tschachotin 1932d: 1357). Kommunikationsziele nach innen seien z.B. Ironie gegenüber dem Feind, Festigung eigener Ziele und Ideale, Mut und Enthusiasmus. Kommunikationsziel gegenüber dem Gegner ist zumal dessen Einschüchterung. Sogar das Lachen („le rire“, Tchakhotine 1939: 187) könne anti-propagandistischen Zwecken dienen. Tschkhotine benannte im Vorfeld der Juli-Wahlen 1932 zahlreiche Spottlieder (zur „Verspottung“ des Gegners auch Tschachotin/Mierendorff 1932: 7ff.) und Sprechverse gegen Hitler und die NSDAP sowie andere NS-Organisationen, die noch in der Wahlnacht an die Wände vor allem der südwestdeutschen Städte geschrieben worden seien. Jene hätten für die Hoffnung und den Optimismus der Sozialdemokratie gestanden: „Adolf mach Dir keine Sorgen, bist erledigt Montag Morgen“, „Wer Goebbels hört und Hitler kennt, sagt Hindenburg wird Präsident“, oder in Abwandlung bekannter Schlager: „Adolph ade, scheiden tut weh“ (Tchakhotine 1939: 173, 189) [21].

5. Fazit

Es ist legitim und sicher richtig, allerdings nicht sehr interessant, Tchakhotine zum Vorwurf zu machen, dass er uns mit seiner Propagandatheorie viele Erklärungen schuldig bleibt, ihn also am Maßstab sachlicher Richtigkeit zu messen. Sein Denkmotiv war die Kopplung von Neurophysiologie und Lerntheorie Pawlowscher Prägung [22] zu einem komplexen Dispositionssystem des Menschen als „Antwort“ auf Außenreize. Diese Antwort ist ihm folgend nicht nur reizabhängig, denn es folgt ja gerade nicht Reiz auf Außenreaktion: Die neurophysiologische Grundausstattung/Triebstruktur geht dem Reiz vielmehr schon voraus. Reiz und Reaktion sind als zyklische Verbindung anzusehen: Auf der Basis der neuro-pyhsiologischen Grundausstattung, zuzüglich Triebstruktur, kann konditioniert werden („reflexe constructive“). So können Verbindungsketten zwischen Triebmotiven und Assoziationen gebildet werden, etwa dem Trieb nach Selbsterhaltung und der Assoziation eines politischen Führers, oder dem Trieb nach Geborgenheit und der Idee der Humanität. Aber diese Konditionierung ist immer die Grundlage für den nächsten Reiz und damit wandlungsfähig. Es gibt keine Reizung ohne Reizgrundlage, so weit Tchakhotines behavioristische Auffassung eines Reiz-Reaktionssystems („les phénomènes biologiques, base réelle de tout acte“, Tchakhotine 1939: 44).

Kognitionstheoretische oder sozialwissenschaftliche Fragen nach der Beschaffenheit menschlichen Bewusstseins im Zusammenspiel mit menschlichem Handeln prallen daran gleichwohl ab. Tchakhotine kann uns heute nicht befriedigend, nicht einmal hinreichend erklären, warum und unter welchen Bedingungen Propaganda wie funktioniert, trotz der vielen illustrativen Beispiele, die er uns zeigt. Diese Beispiele – wie das des politischen Witzes – sind allein triebpsychologisch nicht zu erklären (vgl. Merziger 2010 zu den kommunikativen Kontexten politischer Witze in der NS-Zeit). Dennoch können wir mit Tchakhotine unsere eigene Theoriengeschichte – das Stimulus-Response-Modell und dessen „Mythos“ (Brosius/Esser 1998) – besser verstehen.

Fußnoten

  • 1 Tchakhotines Buch „Le viol des foules par la propagande politique“ („Die Vergewaltigung der Massen durch die politische Propaganda“) erschien 1939 in französischer Sprache. Übersetzungen in das Deutsche gehen in diesem Artikel auf die Verfasserin zurück. Anders als ich stützen sich Thymian Bussemer (2005) in seinen Ausführungen über den „Schüler Pawlows als sozialdemokratischen Kritiker“ und Margarete Vöhringer (2011) in ihrer Arbeit zur Reflextheorie Tchakhotines auf die übersetzte Ausgabe „The rape of the masses: The psychology of totalitarian political propaganda“, die 1940 beim Labour Book Service in London erschien (2. Auflage New York: Haskell House 1971). „Le viol des foules …“ wurde außerdem 1967 in das Portugiesische übersetzt.
  • 2 Es finden sich diverse Schreibweisen seines Namens, allein der Wikipedia-Artikel über ihn benennt 16, so Serge Tchakhotine (französisch), Sergej Chakhotin (dem Russischen entlehnt) und Sergej Tschachotin (zumeist in Deutschland verwendet). Ich orientiere mich an der französischen Variante; in den Literaturangaben zum vorliegenden Artikel sind die verschiedenen Schreibweisen, in denen er selbst publizierte, belassen.
  • 3 Zu den politisch-publizistischen Aktivitäten Tchakhotines vgl. meinen Aufsatz in der Festschrift für Jürgen Wilke (Averbeck-Lietz 2010).
  • 4 Hildebrandt (1956) lagen lediglich Auszüge aus Tchakhotines „Le viol des foules …“ vor.
  • 5 Der Sinn von Wissenschaft liegt Tchakhotine folgend in der „création de l’Homme pour le bien de l’Homme“, ergo dem Einsatz der menschlichen Denkfähigkeit („le travail mental“, „le travail intellectuel“) für die Menschheit und deren Wohl. Damit einher geht Tchakhotines ungebrochener Fortschrittsglaube − für einen (Natur-)Wissenschaftler vor dem Zweiten Weltkrieg sicher keine ungewöhnliche Haltung (vgl. Tchakhotines Studie über „Organisation rationelle et la recherche scientifique“, Paris 1938, hier S. 7, 27ff.). Diese Schrift ist auch als Dokumentation der Entwicklung der europäischen Wissenschaften und ihrer Gesellschaften wie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft interessant. Tchakhotine beschreibt Arbeitsteilung und Rationalisierung in naturwissenschaftlichen Laboren sowie internationalen Wissenschaftsaustausch. Nebenbei erhält man eine Lektion in Wissenschaftsethik, bezogen auf Dokumentationspflicht, Selbstmotivation und Zeitmanagement (mit Betonung regelmäßiger Mahl- und Ruhezeiten). Zweckdienlich sei dies dem Erhalt der geistigen und körperlichen Kräfte des einzelnen Wissenschaftlers, aber auch – sozialethisch gesehen – für das System Wissenschaft insgesamt. Einhergehend beschreibt er Rationalisierungsmethoden wie (1938!) die Tätigkeit am Mikrofilm-Lesegerät (ebd.: 30). Der Mensch scheint Tchakhotine zugleich Perpetuum mobile („machine humaine“) und Individuum „psychique et mentale“ zu sein; die „culture physique“ und die „culture psychique“ seien voneinander abhängig (ebd.: 47). Damit bezeichnet er eine Wechselwirkung, die er aber in keiner seiner Schriften auflöst: Was hängt ursprünglich von was ab: die Physis von der Psyche oder umgekehrt? Vgl. auch den Absatz in diesem Artikel über William James Werk als eine wissenschaftliche Quelle Tchakhotines.
  • 6 Weiterführend zu Theorien und Ansätzen öffentlicher Kommunikation, PR und Propaganda in der Zwischenkriegszeit in Deutschland Averbeck 1999, Busch 2007, Liebert 2003, Regnery 2003. Weder die deutsche Zeitungswissenschaft noch die Werbeforschung der Weimarer Republik haben Serge Tchakhotines reizphysiologisch basierte Propagandatheorie und -lehre rezipiert. Sein Buch von 1939 kam dazu wohl zu spät. Zu diesem Zeitpunkt war die Zeitungswissenschaft längst nationalsozialistisch orientiert (vgl. Kutsch 1987).
  • 7 Weiterhin erschien in Frankreich die Fassung: Le viol psychique des masses. Obstacles à une vraie démocratie. Paris: SAL 1946.
  • 8 Die Dreipfeilkampagne, die sich 1932 vor allem in Heidelberg und anderen südwestdeutschen Städten gegen die Hakenkreuzsymbolik der NS-Bewegung richtete, ist geschildert in Averbeck-Lietz 2010 und in Vöhringer 2011.
  • 9 Ich stütze mich in der Darstellung der verworrenen, schwer rekonstruierbaren Biografie Tchakhotines (hier eine Überarbeitung von Averbeck-Lietz 2010) auf Albrecht (1986a, 1986b, 1987, 2007) sowie Angaben zur Familiengeschichte Tschakhotines der Website zu „Makroskop“, einer Installation über Serge Tchakhotine seitens seines Enkels Boris Hars-Tschachotin (gemeinsam mit Hannes Nehls) im Berliner Museum für Fotografie 2006. Vgl. http://www.makroskop.org/ (Abruf 30.3.2009); die Website existiert so heute leider nicht mehr. Hars-Tschachotin ist überdies Regisseur eines Dokumentarfilms über den Großvater: „Sergej in der Urne“ (2006), der auf Gesprächen mit vier seiner noch lebenden Söhne beruht und 2010 mit dem Preis des Münchner Dokumentarfilmfestes ausgezeichnet wurde. Vgl. auch die Berichterstattung über den Film im Spiegel (Harms 2010) und in der ZEIT (Lenssen 2012). Weiterhin findet sich eine Kurzbiografie Tchakhotines im „Observatory of Freedom of Press in Latin America“, Infoamérica. Überaus hilfreich für eine Chronologie der Lebensstationen sind zwei Publikationen, die mir 2010 noch nicht vorlagen, und die auf Akten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft beruhen: Greulich et al. (2007) und Vogt (2007). Die Publikation von Greulich et al. enthält eine Bibliografie der politischen und der medizinisch-wissenschaftlichen Schriften Tchakhotines. Der Artikel von Vogt führt in den Abdruck einer seiner Briefe an Albert Einstein ein.
  • 10 Detaillierter zur Entlassung Tchakhotines, für den sich Max Planck (1858-1947), damals Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, unverrichtet einsetzte und dies mit der Forderung verband, Tchakhotine müsse sämtliche politische Aktivitäten einstellen, Vogt 2007: 202ff., 214.
  • 11 Mierendorff (1932a, 1932b) gibt in eigenen Veröffentlichungen auch die von Tchakhotine vertretene reizphysiologische Propagandalehre wieder. Man darf aber davon ausgehen, dass diese ausschließlich auf Tchakhotine zurückzuführen ist.
  • 12 Vgl. für den Kontext der US-amerikanischen Kommunikationsforschung Brosius/Esser 1998 zum „Mythos“ Stimulus-Response-Modell. Brosius und Esser berücksichtigen allerdings frühe europäische Entwicklungen vor 1940 nicht. Zu Reiz-Reaktions-Vorstellungen – und deren teilweiser Überwindung – in der deutschsprachigen Zeitungswissenschaft und verwandten Wissenschaften bis 1933 Averbeck 1999, Regnery 2003, Bussemer 2005.
  • 13 Vgl. einschlägig Krotz 2007, Kap. 2 „Grundlagen einer kulturwissenschaftlichen Kommunikationstheorie: Kommunikation als Form symbolisch vermittelten Handelns“, hier prägnant S. 52 gegen eine Konditionierung „von außen“, etwa durch Propaganda: „Im Gegensatz zum Pawlowschen Hund, dessen Speichelproduktion durch das Klingeln unmittelbar und automatisch angeregt wird, handeln Menschen im Normalfall nicht automatisch oder reaktiv im Hinblick auf beobachtbares Geschehen, auf Reize oder genormte Zeichen, sondern aufgrund der Bedeutungen, die ein Objekt, ein Geschehen oder ein Reiz oder allgemein, ein Zeichen für sie hat. Objekte, Geschehen, Reize sind Zeichen, die für etwas stehen, und dieses individuell und sozial konstituierte Etwas ist relevant, nicht das Zeichen [Hervorhebung durch die Verfasserin].“
  • 14 Der Begriff des Denkmotivs geht auf Peter Weingart (1976) zurück. Mehrere Denkmotive können einen Orientierungskomplex bilden, der zwar handlungsleitend für eine bestimmte Gruppe von Wissenschaftlern wird, aber noch kein Paradigma ist.
  • 15 Die grundsätzliche Einteilung in „Ideologien“ in der Stufenfolge Christentum, Materialismus, Sozialismus und Faschismus (Letztere als einander gegenläufig) weicht nicht von anderen zeitgenössischen Klassifizierungen ideologischer „Stufenfolgen“ ab, vgl. prägnant Mannheim 1929.
  • 16 Die Psychotechnik befasste sich vor allem mit Berufseignung und Wahrnehmungsvermögen. In Laborexperimenten wurden die Probanden entsprechenden Test unterzogen. Solche Tests fanden im Zuge des Taylorismus breite Anwendung in den Rekrutierungsstrategien von Unternehmen sowie der Werbeforschung (vgl. Schrage 2001, Regnery 2003).
  • 17 Dem Buch von 1939 steht ein Zitat von Ferdinand Lassalle voran, das Tchakhotine auch schon 1932 zitierte: „Die Allianz der Wissenschaft und der Arbeiter, diese beiden entgegengesetzten Pole der Gesellschaft, die, wenn sie sich umarmen, alle Kulturhindernisse in ihren ehernen Armen erdrücken werden – das ist das Ziel, dem ich, solange ich atme, mein Leben zu weihen beschlossen habe“, o.S. in Tchakhotine 1939.
  • 18 Vgl. weiterführend zum psycho-physischen Parallelismus bei James Diaz-Bohne/Schubert 1996: 32ff., prägnant S. 34: „Zentral für den psycho-physischen Realismus ist, dass die Physis nur die Bedingung der Existenz der Psyche ist. Ohne die Physis kann es keine Psyche geben, was aber nicht heißt, dass aus den Gesetzen der Physis, d.h. der Gehirntätigkeiten, die Bewusstseinsinhalte erschließbar wären.“
  • 19 Zur Frage, ob und wie Gehirnphysiologie und Bewusstsein zusammenhängen, weiterführend die auch in der Presse ausgetragene Debatte zwischen Jürgen Habermas und Wolf Singer zur Freiheit des menschlichen Willens (vgl. Habermas 2001, Singer 2004).
  • 20 Dieser Absatz ist auch enthalten in Averbeck-Lietz 2010, dort erweitert um die ausführliche Darstellung der praktischen Propagandaarbeit, die Tchakhotine gemeinsam mit Carlo Mierendorff gegen die Nationalsozialisten in Heidelberg 1932 für die „Eiserne Front“ organisierte und betrieb.
  • 21 Zum „Flüsterwitz“ in der Zeit des Nationalsozialismus quellen- und textkritisch Merziger (2010: 9-38). Merziger betont, dass Flüsterwitze nicht per se regimekritisch waren – sie wurden gerade auch innerhalb der NS-Organisationen mit vergemeinschaftendem, aggressivem Effekt kolportiert und nahmen abweichenden „Lachgemeinschaften“ (ebd.: 369) ihr widerständiges Potenzial.
  • 22 Anders als James B. Watson ging Pawlow nicht verhaltenstheoretisch von Lernen durch „Versuch und Irrtum“, sondern, physiologisch begründet, durch konditionierte Reflexe aus.

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  • Margarete Vöhringer: A concept in application: How the scientific reflex came to be employed against Nazi propaganda. In: Contributions to the History of Concepts Vol. 6 (2011), S. 105-123.
  • Werner Wirth: Emotion. In: Carsten Wünsch/Holger Schramm/Volker Gehrau/Helena Bilandzic (Hrsg.): Handbuch Medienrezeption. Baden-Baden: Nomos 2014, S. 29-43.
  • Peter Weingart: Wissensproduktion und soziale Struktur. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976.
     

 Empfohlene Zitierweise

Stefanie Averbeck-Lietz: Persuasive Kommunikation und Behaviorismus. Serge Tchakhotines vergessenes Buch über die NS-Propaganda von 1939. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2017. http://blexkom.halemverlag.de/tchakhotine/(Datum des Zugriffs).