Holger Böning (Foto: Andreas Amann)

Es ist ein Kunstfehler, wenn die Historiker die Medien übersehen

Veröffentlicht am 21. Februar 2019

Holger Böning hat mehr als zwei Jahrzehnte die Deutsche Presseforschung in Bremen geprägt und mit seinen Büchern den Blick auf die Aufklärung verändert. Michael Meyen hat mit ihm am 18. Januar 2019 über seinen Weg zur Professur gesprochen, über das Schreiben und über den Stellenwert historischer Forschung im Fach.

Stationen

Geboren am 16. Dezember 1949 in Delmenhorst. Lehre als Starkstromelektriker. Abitur am Oldenburg-Kolleg. 1972 bis 1978 Studium in Bremen (Geschichte, Germanistik, Pädagogik). Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Spätaufklärung. 1982 Promotion (Doktorvater: Hans-Wolf Jäger). 1987 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Deutschen Presseforschung an der Universität Bremen. 1991 Habilitation. Bis 2015 Professor für Neuere Deutsche Literatur und Geschichte der deutschen Presse am Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen. 2003 Sprecher der Deutschen Presseforschung. Mitherausgeber des Jahrbuchs für Kommunikationsgeschichte (seit 1999). Verleger (edition lumière). Zahlreiche Beiträge für Presse und Hörfunk. 2005 Lappenberg-Medaille des Vereins für Hamburgische Geschichte. Verheiratet, eine Tochter.

Könntest du mir zu Beginn etwas erzählen über dein Elternhaus, deine Kindheit, deine Jugend?

Die ersten drei Jahre haben wir in einem Bunker gelebt. Eine Notgeschichte für Leute, die aus dem Osten gekommen sind.

Wo kamen deine Eltern her?

Meine Mutter kam aus Frankfurt an der Oder. Sie hat in Delmenhorst einen Mann gefunden, mit dem sie acht Kinder bekommen hat. Ich bin der Älteste.

Was hat dein Vater beruflich gemacht?

Bei einer Diskussion in Bonn (Foto: Andreas Amann)

Er war Bauhilfsarbeiter und hat später bei den Deutschen Linoleumwerken gearbeitet. Ich hatte eine Kindheit, die durchaus typisch war für die 1950er. Mangel ist das Stichwort. Ich war zweimal für sechs Wochen zur Kur, weil ich viel zu wenig gewogen habe. Seitdem habe ich Gewichtsprobleme.

Wo gab es solche Kuren?

Ich bin einmal nach Langeoog gefahren und einmal nach Bad Salzdetfurth. Neben schönen Erinnerungen an das Meer war es eindrucksvoll, dass Kinder geschlagen wurden, die nicht genug gegessen hatten. Das Zunehmen wurde rigide durchgesetzt.

Wie lief es in der Schule?

Damals gab es nach der Grundschule noch Aufnahmeprüfungen für weiterführende Schulen. Ich konnte zunächst zu einer Realschule gehen, musste aber nach einem halben Jahr zurück auf die Volksschule.

Und dann?

Als die neun Jahre Schulzeit vorbei waren, habe ich eine Lehre bei einem Energieversorger begonnen. Als Starkstromelektriker.

War das dein Wunschberuf?

Meine Eltern wollten, dass ich ins Büro gehe. Das schien irgendwie doch was Feineres zu sein. Ich habe an der Volkshochschule Kurse im Maschineschreiben belegt und in Kurzschrift. Die Kurzschrift kann ich nicht mehr. Der andere Lehrgang war eine der nützlichsten Investitionen in meinem Leben.

Du wolltest aber trotzdem nicht ins Büro.

Nein. Ich habe mich auch bei der Post beworben. Genommen wurde ich bei dem Energieversorger und war neun Monate in einer Lehrwerkstatt. Das war eine gute Ausbildung. Die restliche Lehrzeit bestand vor allem aus Buddeln. Um an die Erdkabel heranzukommen, muss man buddeln. Um die Masten in die Erde zu bekommen, muss man auch buddeln.

Klingt nicht sehr aufregend.

Eigentlich ist das ja ein qualifizierter Beruf. Furchtbar viel gelernt habe ich trotzdem nicht. Das Ohmsche Gesetz kann ich noch.

Immerhin.

Nebenbei habe ich eine Berufsaufbauschule gemacht. Das war damals ein Äquivalent für die mittlere Reife und erlaubte zum Beispiel, eine Ingenieurschule zu besuchen.

Das ist aber noch nicht das Oldenburg-Kolleg.

Nein. Das kommt später. Die Aufbauschule lief drei Jahre neben der Lehre. Jede Woche zwei Abende und dann der Samstag.

Hast du dann auch in Deinem Beruf gearbeitet?

Drei Jahre, ja. Bei der Deutschen Post, als Fernmeldehandwerker.

Wieder mit Buddeln?

Da buddeln andere. Man selbst musste diese tausend Adern zusammenfriemeln. Das sieht schlimmer aus, als es ist. Es gibt klare Regeln, und man kann eigentlich keine Fehler machen.

Wie kam es dann zu dem Oldenburg-Kolleg?

Das gab es in meiner Heimatstadt Delmenhorst. Ein Institut, wo man als Erwachsener zweieinhalb Jahre lang in Vollzeit hingehen kann, mit Bafög. Das war damals ganz neu. Das werde ich der SPD nicht vergessen, denn das war eine soziale Großtat, von denen diese Partei seitdem ja kaum noch eine aufzuweisen hat.

Wer hat dort studiert?

Die Kollegiaten waren stark politisiert. Ich kam ab 1966 mit ihnen in Berührung. Es gab dort einen republikanischen Klub, in dem auch die illegalen Kommunisten waren.

Die KPD war 1956 verboten worden, und die DKP wird erst im September 1968 gegründet oder neu konstituiert, wie das die Genossen damals nannten, um die Kontinuität zu betonen.

Ich fand das dort toll. Ich war schon vorher ein großer Fan von Franz Josef Degenhardt. Ich habe alles genommen, was ich an politischen Liedern in die Hand bekommen konnte (vgl. Böning 2004). Biermann, Süverkrüp, später auch Hannes Wader. Ich dachte: Als Lehrer vor einer Schulklasse stehen und im Deutschunterricht Degenhardt-Lieder interpretieren. Eine größere Freude kann es gar nicht geben.

Das genügt als Motivation für das Abitur.

Mehr lernen zu wollen, war schon auch wichtig. In der sogenannten Volksschule, aus der es zu meiner Zeit weniger als zehn Prozent auf weiterführende Schulen schafften, hat man doch erbärmlich wenig gelernt.

Du kanntest außerdem schon die Kollegiaten.

Ja. Das waren interessante Leute. Ich habe mir gesagt: Wenn die das schaffen, dann schaffst du das auch. Beim Braunschweig-Kolleg bin ich durchgefallen. Beim Oldenburg-Kolleg hat es dann geklappt mit der Aufnahmeprüfung.

Hat die Politik in deinem Elternhaus eine Rolle gespielt?

Sagen wir es so: Mein Vater hat gerne über Politik diskutiert. Das war immer kontrovers.

Mit dir.

Nicht nur mit mir. Überhaupt mit seinen Kindern. Er hatte zum Beispiel Ansichten zur Sowjetunion, die ich heute vielleicht eher verstehen kann als damals. Politisiert wurde ich mit 17. Ich wollte auf keinen Fall zur Bundeswehr. Ich brauchte drei Instanzen, um als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden.

Das war damals noch ungewöhnlich.

Es ging gerade los. 1966, 1967. Vorher wurden nur religiöse Gründe anerkannt. Jetzt ging es auch um Politik. Ich habe diesen Herdenbetrieb abgelehnt. Ich hatte Tucholsky gelesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, in einer Kaserne zu sein, und wollte mich auch nicht instrumentalisieren lassen für Dinge, mit denen ich vielleicht nicht einverstanden war.

Wie kommt man als Arbeiter zu Tucholsky?

Ich hatte einen guten Freund. Wir haben Schach gespielt. Durch ihn habe ich auch Degenhardt kennengelernt. In den Sommerferien habe ich für die Stadt Delmenhorst gearbeitet, als Betreuer von Freizeiten. In der Ausbildung für diesen Job habe ich zum ersten Mal Biermann gehört.

Da war er noch in der DDR.

Bei uns kursierten Tonbänder. Das sind ja langsame Prozesse. Mein Blick auf die Gesellschaft hat sich jedenfalls verändert. Ich war empört, als man mir zweimal nicht glauben wollte, dass mir mein Gewissen verbietet, zur Armee zu gehen.

Wie ist das Verfahren damals gelaufen?

Für die ersten beiden Instanzen gab es eine Prüfkammer, angegliedert direkt beim Verteidigungsministerium. Im Grunde also Partei. Dort hieß es, meine Bedenken seien Unsinn. Das Grundgesetz sage eindeutig, dass wir unsere Armee nur zur Verteidigung einsetzen dürfen. Entgegen dieser Belehrung wurde unser Land drei Jahrzehnte später mit Bomben auf fremde Menschen in Jugoslawien verteidigt, inzwischen geschieht dies ja selbst in Afghanistan.

Und die dritte Instanz?

Das war ein reguläres Gericht. Ein Verwaltungsgericht. Dort wurden Leumundszeugen angehört. Unter anderem mein Vater.

Was hat er gesagt?

Ich bin in einer religiösen Familie aufgewachsen, pietistisch geprägt. Er hat gesagt, dass er mir beigebracht habe, der Obrigkeit Untertan zu sein. Dem König das geben, was des Königs sei.

Also auch zur Armee gehen.

Ja. Er wollte sagen, dass ich das nicht von ihm habe. Ich hatte aber auch einen alten Kommunisten als Zeugen. Er wohnte in einer wunderbaren Neubauwohnung, mit Zentralheizung. Vor Gericht sagte er, der Holger könne nur helfen. Der komme zweimal in der Woche, um die Kohlen hochzuschleppen.

Bist du damals irgendwo Mitglied gewesen?

Ich bin noch in die illegale KPD eingetreten und dann in die DKP.

Wie lange warst du dort?

Fast 15 Jahre. Aktiv war ich vor allem als Student, über den MSB Spartakus.

Marxistischer Studentenbund.

Ich war AStA-Vorsitzender hier in Bremen und habe eine Ausbildung in der DDR bekommen, ein Vierteljahr in Biesdorf. Das ging damals schon ziemlich weit.

Warum hat es aufgehört?

Nach der Zeit im AStA ging es darum, das Studium schnell zu Ende zu bekommen. Das ging in Bremen damals noch. Man brauchte sieben Leistungsscheine, um sich zur Prüfung anzumelden. Die konnte man in zwei Semestern machen. Für meine Dissertation habe ich mich dann intensiv mit einem bürgerlichen Demokraten auseinandergesetzt.

Heinrich Zschokke (vgl. Böning 1983).

Grundrechte waren für ihn unverzichtbar. Das hat mir geholfen, mich von meiner politischen Vergangenheit zu lösen.

Wie hat man sich die Arbeit in einer kommunistischen Gruppe damals vorzustellen?

Presse-Rückschau, Teil 1

Am Anfang war das ja dieser republikanische Klub. Da gab es fast jede Woche eine Demonstration. Vietnam. Das alles in Delmenhorst, in dieser kleinen Stadt. Ich habe mir später die Berichte im Kreisblatt angeschaut. Die Überschrift für einen rückschauenden Bericht im Jahre 2012 lautete: Eigentlich wussten die Kollegiaten fast alles besser. Basis war ein Interview mit mir. Wir haben den Lehrern erklärt, wie die Welt funktioniert. Ich habe in meinem Leben kaum einmal wieder so viel diskutiert.

Wie groß war diese Gruppe?

Presse-Rückschau, Teil 2

Etwa 20 Leute. Die meisten waren Kollegiaten. Es kamen aber auch einige alte Kommunisten aus ihren Verstecken. Die waren begeistert, dass da etwas Neues heranwächst.

Welche Reputation hatte man als DKP-Mann im AStA?

Ich war dort ja für den MSB Spartakus. Diese Gruppe war in Bremen akzeptiert. Und nicht nur dort. Bei uns an der Universität waren wir so stark, dass wir zusammen mit dem SHB die absolute Mehrheit im Studentenrat hatten.

Der Sozialistische Hochschulbund. SPD, wenn man so will.

Dadurch konnten wir auch den AStA-Vorsitzenden stellen. Es gab unendliche Diskussionen damals. Mit Maoisten, mit Sozialdemokraten, mit den eigenen Genossen. Ich war beim MSB auch Gruppenvorsitzender. In meiner Zeit ist die Gruppe dreimal so stark geworden. Ich war ausgesprochen diskussionsfreudig und habe das alles als sehr demokratisch erlebt. Ich fühlte mich jedenfalls nicht indoktriniert.

Was waren eure Themen?

Die soziale Situation der Studenten und auch Studieninhalte. Wer sich darum kümmerte, dass der Kaffee wieder zehn Pfennig teurer geworden war, wurde als Sozialrevisionist beschimpft.

Hat die Gründungsgeschichte der Universität Bremen eine Rolle gespielt bei deiner Entscheidung, hier zu studieren?

Absolut. Meine Frau meint zwar, dass ich nicht von hier weg wollte, für mich kam aber wirklich nur Bremen infrage. Das Modell der Drittelparität. Sogenannte Dienstleister, Professoren und Studenten in allen Gremien gleichberechtigt, mit dem gleichen Stimmenanteil. Selbst in den Berufungskommissionen.

Wie siehst du das heute, im Rückblick?

Als eine sehr gute Zeit. In aller Regel gab es selten ideologische Entscheidungen. Es wurde viel diskutiert. Ich war ja auch im Akademischen Senat und Vorstandsvorsitzender des Studentenwerks.

Weißt du noch, wie deine Fächerkombination zustande gekommen ist?

Über Germanistik haben wir ja schon gesprochen. Dieser romantische Gedanke mit dem politischen Lied. Dass das ein Korrekturfach ist, habe ich nicht bedacht. Geschichte war für mich auch klar. Das muss man haben, egal was man sonst studiert. Ohne historische Fundierung geht gar nichts.

Mit Lehrer als Berufsziel.

Es gab in Bremen keine Alternative. Damals zielten hier alle Fächer auf das Lehramt. Auch Mathe und Physik.

Gibt es jemanden, den du als deinen akademischen Lehrer bezeichnen würdest?

Hans-Wolf Jäger. Seine Vorlesungen habe ich alle genossen. Seit 2015 gebe ich diese Texte in einer Schriftenreihe heraus. Vom Humanismus bis zur Literatur am Anfang des 20. Jahrhunderts (vgl. exemplarisch Jäger 2015). Gerade ist Band 9 erschienen. Es gibt aber noch einen zweiten Lehrer, der mir wichtig war: Gerhardt Petrat.

Was hast du von ihm mitgenommen?

Petrat hat sich für Dinge interessiert, von denen damals noch kaum jemand gehört hatte. Kalender, Intelligenzblätter. Das hat er in seinen Seminaren gemacht.

Wie bist du zu Heinrich Zschokke gekommen, zu deinem Promotionsthema?

Über Hans-Wolf Jäger. Zschokke hatte eine Dorferzählung geschrieben, das „Goldmacherdorf“. Eine utopische Geschichte (vgl. Zschokke 2012). Wie organisieren Menschen sich selbst, wie helfen sie sich gegenseitig? Von Pestalozzi gibt es etwas Ähnliches. Die Dorfgeschichten der deutschen Aufklärung waren eines meiner Themen für die mündliche Prüfung.

Ein Gegenstück zu hoher Literatur.

Das war ein Charakteristikum des Germanistikstudiums in Bremen. Sozialgeschichtliche Fragen. Nicht nur Goethe und Schiller. Auch Tausende Romane, die heute keiner mehr kennt. Und die Literatur, die mit Aufklärung und Gemeinnützigkeit verbunden ist.

Wann hast du gewusst, dass du nicht mehr Lehrer werden möchtest, sondern Wissenschaftler?

Zunächst überhaupt nicht. Nach dem Examen habe ich mich um ein Referendariat bemüht. Da dachte ich das erste Mal, dass es in Bremen irgendeinen Filz geben muss. Ich hatte in allen Fächern eine glatte Eins und habe trotzdem drei Jahre keinen Platz bekommen. Vielleicht war das auch mein Glück.

Wie das?

Ich bekam eine halbe Stelle in einem Forschungsprojekt zur Spätaufklärung. Ich konnte mich dort drei Jahre ganz auf die Dissertation konzentrieren. Wunderbar, ungestört. Mein Lehrer hat jedes Kapitel gelesen. Es war immer alles rot angestrichen, von oben bis unten.

Das hast du ausgehalten?

Ich war jedes Mal unglücklich, wenn ich etwas zurückbekam. Es war sehr intensiv. Mir ist das Schreiben nicht schwergefallen. Das ist bis heute so. Wenn ich die Tastatur unter meinen Fingern habe, dann fällt mir schon etwas ein. Es war trotzdem gut, über einzelne Sätze nachzudenken und auch stilistisch etwas Gepflegtes hinzubekommen. Vielleicht hört sich das etwas böse an: Bei Hans-Wolf Jäger konnte man über alles schreiben. Entscheidend war das Wie.

Es ist ein Glück, einen Betreuer zu haben, der so viel Zeit investiert.

Da bin ich in jeder Hinsicht zu Dank verpflichtet, ja.

Wie ging es nach dieser halben Stelle weiter?

Die Promotion war 1982, zwei Tage, nachdem meine Tochter geboren wurde. Dann kam eine Thyssen-Finanzierung, über Gerhardt Petrat, für drei Jahre. Das war auch eine Bremer Besonderheit: Wissenschaftliche Hilfskräfte oder Mitarbeiter konnten eigene Projekte entwickeln. Ich hatte gemerkt, dass die Forschungsliteratur über die Volksaufklärung die populären Werke ausblendet.

Es ging immer nur um die Gelehrten, um die Gebildeten.

Genau. Meine Idee war eine Bibliografie zu den Schriften, die sich an einfache Adressaten gewendet haben. Wie viele das dann wirklich waren, habe ich damals nicht geahnt.

Wie bist du vorgegangen?

Ich habe jede Schrift in die Hand genommen, gelesen und dann beschrieben. Insgesamt sind sieben Bände erschienen, nach dem ersten Band dann gemeinsam mit meinem Freund Reinhart Siegert. Es war damals wichtig, für den ersten Band einen solch renommierten philosophischen Verlag wie Frommann-Holzboog zu gewinnen (vgl. Böning 1990). Das hat das Projekt geadelt.

War dann die Mitarbeiterstelle bei der Deutschen Presseforschung für dich eine Art Traumjob?

Mein Traum war eine Stelle, die mich versorgt und mir erlaubt zu forschen. Lehre war schon damals nicht mein Lieblingsthema. Das darf man ja heute gar nicht mehr sagen. Seit ich mit der Dissertation begonnen hatte, gab es für mich im Beruf nichts Schöneres, als am Schreibtisch zu sitzen. Dass es in Bremen seit 1957 die Deutsche Presseforschung gab, war mir gar nicht recht bewusst, obwohl ich ja schon zur Zeitungsgeschichte gearbeitet hatte, über das erste Schweizer Blatt für einfache Leser.

Wie ist das möglich?

Das war ja eine Abteilung der Staatsbibliothek, gegründet lange vor der Universität (vgl. Blome/Böning 2008, Böning et al. 2013). Die saßen in der obersten Etage der Bibliothek. Als Germanist kam ich da gar nicht hin.

Wie kam der Kontakt dann zustande?

Durch einen Anruf von Martin Welke, der dort schon gekündigt hatte. Er kannte meine Arbeit. Sie suchten jemanden, der eine Tagung zum Jubiläum der Französischen Revolution vorbereitet, für drei Jahre.

Also eher ein Zufall.

Ja. Im Nachhinein war das natürlich eine Traumstelle. Das war ein Forschungsinstitut, wie es das heute praktisch nicht mehr gibt. Elger Blühm hat ein, zwei Lehrveranstaltungen gemacht. Hartwig Gebhardt erst gar nicht und Martin Welke auch nicht. Die haben alle nur geforscht. Für mich war das perfekt. Später habe ich Emmy Moepps geerbt, die Sekretärin von Martin Welke.

Emmy Moepps taucht häufig als deine Co-Autorin auf.

Das hatte sie schon bei Martin Welke gelernt. Nicht Briefe tippen, sondern inhaltlich zusammenarbeiten. Wir haben zusammen die Idee für eine Pressebibliografie entwickelt. Nicht immer nur darüber reden, sondern das tatsächlich auch machen.

Hast du damals geahnt, worauf ihr euch da einlasst?

Irgendwie war uns das klar. Wir hatten schon so viel gefunden, was bei Kirchner (1969) gar nicht stand, obwohl der mehr als 3000 Zeitschriften hatte. Wir gingen von 20.000 bis 25.000 Periodika aus, von den Kalendern im 16. Jahrhundert bis 1815. Da sollte für uns Schluss sein. Danach wird es unübersichtlich und für Einzelkämpfer kaum noch zu bearbeiten. Wir haben dann angefangen, das für Norddeutschland zu machen. Göttingen, Hannover, Hildesheim, Hamburg bis hin zu Danzig und Greifswald.

Und?

Nach zwei Jahren haben wir gemerkt, dass das nicht zu schaffen ist. Die Dateien habe ich alle noch, mit viel Material. Wir haben dann entschieden, uns auf Hamburg und Umgebung zu konzentrieren. Altona, Harburg, Wandsbek, Schiffbek. Wir wollten an einem Beispiel zeigen, dass die Idee einer regional ausgerichteten Bearbeitung funktioniert, vermutlich sogar die einzig mögliche. Vielleicht gibt es ja irgendwann Leute, die das nachmachen (vgl. exemplarisch Böning/Moepps 1996).

Arnulf Kutsch (2005: 244) hat die Deutsche Presseforschung in einem Eintrag für die Publizistik als „eines der wenigen wissenschaftlichen Forschungsinstitute unseres Fachs“ beschrieben. Wie hast du das Verhältnis zu diesem „Fach“ erlebt, zur Publizistik- und Kommunikationswissenschaft?

Mein Fach ist die Geschichte und bis zu einem gewissen Grade auch die Germanistik. Ich habe diese Kombination als sehr befruchtend empfunden. Auch für einen Historiker ist es nicht verkehrt, Texte ernst zu nehmen und sie sorgfältig zu interpretieren. Ich habe mich jedenfalls nie als Publizistikwissenschaftler empfunden.

Immerhin warst du in der DGPuK.

Eine Zeit lang, ja. Ich will nicht überheblich sein, aber 90 Prozent der Dinge haben mich dort nicht interessiert. Die ganzen empirischen Sachen schienen mir eher ahnungslos zu sein und hatten aus meiner Sicht mit Wissenschaft wenig zu tun. Diese Telefonumfragen zum Beispiel, gemacht von schlecht bezahlten Hilfskräften. Da habe ich mich nie so richtig zugehörig gefühlt.

Es gab und gibt auch in der DGPuK Menschen, die historisch arbeiten.

Einige, ja. Ich schätze Jürgen Wilke sehr. Auch Arnulf Kutsch und Rudolf Stöber, um nur diese Namen zu nennen.

Es hat lange gedauert, bis du Sprecher der Deutschen Presseforschung wurdest.

Vorher gab es Auseinandersetzungen.

Magst du darüber sprechen?

Die Deutsche Presseforschung war von der studentischen Bewegung wenig betroffen gewesen. Es lief dort wie in einer Behörde. Vielleicht kann man den Konflikt am Beispiel der Tagung zur Französischen Revolution zeigen, die ich vorbereiten sollte.

Deine erste Stelle.

Ja. Für mich war selbstverständlich, dass derjenige den Tagungsband herausgibt, der inhaltlich verantwortlich ist. Wie das bei Forschern üblich sein sollte. Für Hartwig Gebhardt war dagegen völlig selbstverständlich, dass er der Herausgeber ist. Der Behördenchef und nicht irgendein Untergebener. Ich habe das Problem in den wissenschaftlichen Rat getragen, der uns begleitet hat und auch den Sprecher wählte.

Was ist dort passiert?

Gebhardt war verärgert und hat das Sprecheramt hingeworfen. Wir haben dann Hans-Wolf Jäger gewählt. Er hat uns machen lassen. Ich bin schließlich sein Nachfolger geworden.

Hast du wahrgenommen, was die Vertreter der Kommunikationswissenschaft hier in Bremen gemacht haben?

Überhaupt nicht. Franz Dröge habe ich gar nicht wahrgenommen. Mit dem Fach kam ich erst über Andreas Hepp in Berührung, auf leidvolle Weise.

Die Deutsche Presseforschung ist 2006 in das Institut für Medien, Kommunikation, Information aufgenommen worden, aus dem dann 2011 das ZeMKI wurde – das Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung. Im Rückblick betrachtet: War dieser Schritt 2006 ein Fehler?

Schwierig. Ich hätte die Deutsche Presseforschung natürlich gern so gelassen, wie sie war. Als zentrale wissenschaftliche Einheit. Es hatte aber auch durchaus etwas für sich, die historische Perspektive mit den Medienforschern zu verbinden. Ich verstehe, warum die Hochschulleitung das so gesehen hat.

Forciert hat das vor allem Andreas Hepp.

Er wollte das Institut gern in sein Reich holen, ja. Ich habe uns zwar immer eher bei den Historikern gesehen, es war aber inhaltlich auch gut, unser Wissen in die Ausbildung der Studierenden am ZeMKI einzubringen. Dagegen konnte man wenig sagen. Es gab trotzdem unerfreuliche Auseinandersetzungen.

Worum ging es dabei?

Um unsere Existenz als Institut. Ich habe an all das keine besonders guten Erinnerungen.

Hätte es einen Weg gegeben, die Deutsche Presseforschung zu erhalten?

Vielleicht hätten wir uns freudiger in das ZeMKI eingliedern sollen. Die Verhältnisse an den Hochschulen sind heute einfach nicht mehr so. Es gibt keine Institute mehr, an denen vier, fünf Mitarbeiter nichts anderes tun als zu forschen.

Zumal nicht historisch.

Das meine ich. In den Naturwissenschaften und in der Medizin ist das üblich. Ich halte das auch für nötig. Tatsache ist, dass Andreas Hepp mehr Einfluss auf die Universitätsleitung hatte als wir.

Die Liste deiner Monografien ist länger als bei den meisten Kolleginnen und Kollegen die Publikationsliste überhaupt.

Ich sitze seit 30 Jahren am Schreibtisch. Das darf man nicht vergessen. Mir hat das Schreiben immer Spaß gemacht, und ich hatte immer ein Projekt. Was schreibe ich als Nächstes. Das kann man nicht vergleichen mit Kolleginnen und Kollegen, die den ganzen Universitäts- und Lehrbetrieb haben. Meinen Bedarf an Selbstverwaltung hatte ich schon als Student gedeckt. Später war ich höchstens mal in einer Berufungskommission.

Trotzdem: Welche deiner Bücher sollte man lesen, um den Wissenschaftler Holger Böning kennenzulernen?

Vielleicht meine Mattheson-Biografie (vgl. Böning 2014). Die ist mir besonders wichtig. Eigentlich sind mir alle Biografien wichtig. Da ist erstens am meisten von mir eingeflossen. Und zweitens habe ich immer Personen gewählt, die für mich eine Bedeutung hatten. Das geht mit Heinrich Zschokke los (vgl. Böning 1983). Dann Ulrich Bräker, dieser lesende Bauer aus dem 18. Jahrhundert mit seinem Tagebuch von vielen Tausend Seiten (vgl. Böning 1985, 1998). Später Justus Möser. Anwalt der praktischen Vernunft (vgl. Böning 2017).

Möser gilt als Konservativer oder gar als Reaktionär.

Wer das behauptet, der hat ihn nicht gelesen. Ich weiß, dass ihn die Nazis in Beschlag genommen haben. Auch Julius Moses hat mir dann eine Menge bedeutet. Ein jüdisches Leben außerhalb der Zeit, die ich sonst bearbeitet habe.

Wie bist du dazu gekommen?

Über Kurt Nemitz, den Vorsitzenden unseres Fördervereins und Landesbankchef hier in Bremen. Julius Moses war sein Vater. Als 14-Jähriger hat er ihn zum Transport nach Theresienstadt gebracht. Das Buch ist ein Dank an Nemitz. Mir hat das ganz neue Welten erschlossen.

Und Johann Mattheson?

Er war der Erste, der sich 1712 in einer Zeitschrift gegen das Schlagen von Kindern ausgesprochen hat. Wo die Ehre der Musik oder das Ansehen von Musikern in Gefahr war, konnte er ausrasten. Das war ein knorriger Mensch. Das schätze ich. Möser war auch ein bisschen so. Die Zeitgenossen haben Mattheson für etwas seltsam gehalten. In seinem Kampf für das Ansehen der Musik war er ein Eiferer. Er war stolz, jedes Jahr mindestens ein Buch geschrieben zu haben.

Über das politische Lied hast du am Ende auch ein Buch geschrieben (Böning 2004).

Die Kombination von Musik und Sprache bedeutet mir bis heute besonders viel. Ich habe auch das politische Lied in der DDR verfolgt, soweit das hier ging. Hans-Eckardt Wenzel hatte zum Beispiel eine Platte und Gerhard Gundermann auch. Wenn ich daran denke, wie mühsam das war. Heute ist der allerletzte Dorfsänger auf YouTube.

Warum gründet ein Wissenschaftler einen Verlag?

Ganz einfach: weil es dann billiger wird. Der Tagungsband zur Französischen Revolution ist bei Saur erschienen (vgl. Böning 1992). Als wir gehört haben, wie hoch der Druckkostenzuschuss ist, wussten wir: Sehr viele Bücher können wir nicht machen. Book on demand wurde damals gerade bezahlbar. 1000 Mark für 30 Exemplare Grundauflage. Inzwischen hat sich das ja rasant entwickelt. Für viele Druckereien ist es kein Problem, mit 200 Exemplaren zu starten und dann schnell 30 nachzuliefern.

Trotzdem muss man nicht unbedingt einen eigenen Verlag haben.

Ich wollte frei entscheidend publizieren können. Meine Hoffnung war, dass es für Aufklärung und Pressegeschichte eine Nische gibt.

Hat sich diese Hoffnung erfüllt?

Ja. Die Reihe Presse und Geschichte ist bei Band 126. Historische Forschung hat dort eine Heimstatt. Ich veröffentliche ja auch viele Dissertationen. Und die Zuschüsse sind niedriger als bei anderen Verlagen. Ohne Angestellte kannst du ganz anders kalkulieren.

Wie viel Prozent deiner Arbeitszeit kostet dich der Verlag?

Die Hälfte inzwischen. Es ist die letzten Jahre immer mehr geworden. Ich bin ja auch Lektor und Setzer und gestalte außerdem die Umschläge. Meine Frau erledigt den Vertrieb und was sonst dazugehört.

Ist das ein Modell, das du jüngeren Kollegen empfehlen würdest?

Finanziell muss das kein Zuschussgeschäft sein. Es ist mit einer Menge Arbeit verbunden. Das muss einem Spaß machen. Es gibt jedenfalls keinen Grund, davon abzuraten.

Gab es irgendetwas, was dir gefehlt hat für diesen Zweitjob?

Man muss sich mit den Details der Buchproduktion beschäftigen. Verlagskaufmann war ja nicht umsonst ein Lehrberuf und Schriftsetzer auch. Ich habe schon meine Dissertation auf einem Composer von IBM gesetzt. Üblich war damals Schreibmaschinendruck.

Bist du zufrieden mit der Resonanz auf das Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte?

Viel Resonanz spürt man da nicht, ehrlich gesagt. Es gibt ungefähr 100 Abos, Bibliotheken meist. Als Verlag würde ich das trotzdem sofort machen. Das Jahrbuch kostet 80 Euro, und wir liefern das Manuskript druckfertig.

Ihr haltet schon 20 Jahre durch, obwohl die Auflage eher stagniert.

Wer sich für diese Themen interessiert, wird da schon irgendwann reingucken.

Wie ist es zu dem Jahrbuch gekommen?

Die Idee hatte Arnulf Kutsch. Wir haben dann überlegt, wen wir von den Jüngeren noch dazuholen können.

Rudolf Stöber.

Damals Privatdozent, ja. Er dachte, dass er nie eine Stelle bekommen würde.

Welchen Stellenwert hat die Kommunikations- und Mediengeschichte?

Ich habe gerade die Wälzer studiert, die über den Dreißigjährigen Krieg erschienen sind (vgl. Böning 2018b). Keiner der Autoren scheint je davon gehört zu haben, dass es damals schon Zeitungen gab. Die schreiben über ein Ereignis, das lückenlos durch Medien begleitet wurde, und nehmen das nicht zur Kenntnis. Es gibt Zeitungsberichte zur kleinsten Schlacht und zu jeder Stadtbesetzung.

Unglaublich.

Wenn man das als Beispiel nimmt, dann ist der Stellenwert der Pressegeschichte gar nicht messbar. Man hofft natürlich, dass das irgendwann klar wird. Dass es ein Kunstfehler ist, wenn man als Historiker die Medien nicht beachtet. Dort werden ja die Meinungen zum Zeitgeschehen geprägt. Wenn es dort ständig um die Rekatholisierung durch die Habsburger geht und um die Vertreibung der Protestanten, dann macht das etwas mit den Lesern. Dann wissen die Protestanten, dass sie einfach nicht darum herumkommen, ihren Glauben notfalls auch mit militärischen Mitteln zu verteidigen. Die Dauer dieses Krieges hat vielleicht auch etwas damit zu tun gehabt, dass auch über die Zeitungen Woche für Woche bekannt wurde, mit welcher Brachialgewalt die Gegenreformation betrieben wurde.

Frustriert es dich als Forscher, dass die Historikerzunft deinen Gegenstand ignoriert?

Ganz so schlimm ist es ja nicht. Es gibt schon Kolleginnen und Kollegen, die das wahrnehmen. Du kennst das ja selbst aus der DGPuK. Es gibt dort die Fachgruppe Kommunikationsgeschichte. Ganz tot ist es nicht, auch wenn der Schwerpunkt dort sicher nicht beim 17. und 18. Jahrhundert liegt.

Wie bist du überhaupt zu diesem Zeitraum gekommen?

Das hat auch mit der politisierten Zeit zu tun, in der ich studiert habe. Ich wollte raus aus der Gegenwart. In der Aufklärung finde ich alles, wofür ich je eingetreten bin. Im 17. Jahrhundert entsteht das, was die Aufklärung möglich macht. Das erste Mal umfassende Information.

Du hättest ja auch einfach deine AStA-Arbeit in die Wissenschaft verlängern und in den Kämpfen deiner Zeit bleiben können.

Ich will auch als Wissenschaftler aufklärend auf meine eigene Zeit wirken. Das ist ja ganz unabhängig von den Zeiträumen, die man bearbeitet. Ich habe sicher nicht alle meine Überzeugungen für die Wissenschaft aufgegeben. Ich kann im 18. Jahrhundert Dinge sagen, für die ich im 21. Prügel bekommen würde.

Das kennt man eigentlich nur aus der DDR.

So viel anders ist das hier auch nicht. Ich würde keinem jungen Wissenschaftler empfehlen, so einen Literaturbericht zu veröffentlichen, wie ich das gerade zu Fake News und Lügenpresse gemacht habe (vgl. Böning 2018a). Wenn du das mit diesem Tenor machst, dann wird es schwer. Ich beobachte zum Beispiel Uwe Krüger ganz genau. Was wird aus ihm nach diesen Büchern (vgl. Krüger 2013, 2016)?

Hast du dich jemals auf Stellen außerhalb der Deutschen Presseforschung beworben?

Ich war ja zwischendurch zwei Jahre arbeitslos, nach der Tagung zur Französischen Revolution. Ich habe vor dem Arbeitsgericht gegen die Befristung geklagt und am Ende Recht bekommen. Ich wollte schon gern dort bleiben. Da das ungewiss war, habe ich mich in Rostock beworben, bei den Germanisten. Da hatte ich aber mit meinen Themen keine Chance. Es wäre vermutlich auch sonst schwierig geworden, wie immer, wenn man sich zwischen den Disziplinen bewegt.

War deine politische Vergangenheit bei der Einstellung egal?

Bremen ist ein ziemlich liberales Land. Man hat erst ein Zeichen gesetzt und die Leute dann machen lassen. Wir hatten ja hier den Fall Horst Holzer. Das erste Berufsverbot in unserem Fach (vgl. Scheu/Wiedemann 2008, Scheu 2012). Alle anderen hat man dann reingelassen. Es war ja bekannt, dass ich AStA-Vorsitzender war. Große Sorgen hat mir das nie gemacht. Den Arbeitsrichter kannte ich aus dem AStA. Auch das ist Bremen.

Hat der Professorentitel für dich noch einmal etwas verändert?

Ich habe mir nie träumen lassen, dass ich mal Professor werde. Ich fand schon völlig unvorstellbar, dass ich mal Abitur haben würde. Die Titel haben mir, auch wenn man sie als Bremer nicht benutzt, alle etwas bedeutet. Abitur, Doktor, Professor.

Die Arbeit hat sich aber nicht geändert.

Überhaupt nicht. Ich musste eine Lehrveranstaltung machen, aber da habe ich mir auch immer Sachen einfallen lassen, die mir Spaß gemacht haben. Drei Semester lang eine Ausstellung vorbereiten, drei Semester eine Edition von volksaufklärerischen Schriften, fünf Semester Vorlesung über das politische Lied.

Als Reihe, ohne etwas zu wiederholen?

Ja. Da gab es einen Kreis von 30 oder 40 Leuten, von denen ich unheimlich viel gelernt habe. Gruftis und alle möglichen schrägen Figuren. Die kannten Dinge, von denen ich noch nie gehört hatte.

Gibt es Wissenschaftler, die du als Vorbild bezeichnen würdest?

Es gibt Wissenschaftler, denen ich viel verdanke. Als Lehrer. Als Inspiration. Aber Vorbild?

Was ist mit Hans-Wolf Jäger?

Es war vorbildlich, wie er sich um die schriftlichen Erzeugnisse seiner Schüler gekümmert hat.

Und bei den Historikern?

Enkelin Hannah am 1. Mai

Vorbildlich ist für mich, wenn man empirisch gesättigt arbeitet, aus den Quellen. Das finde ich in der Kommunikationswissenschaft nicht so oft. Dort gibt es schon viel Geschwätz. Nur bewundern kann man zum Beispiel Paul Raabe, der in Marbach mit dieser wundervollen Bibliografie zum Expressionismus begonnen hat (vgl. Raabe 1964) und dann so viel auf die Beine gestellt hat, als Wissenschaftler, als Manager. Er hat erst die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel zu einem Forschungszentrum ersten Ranges gemacht und dann nach der Wende die Franckeschen Stiftungen in Halle geleitet.

Ist Raabe ein Vorbild?

Ich bewundere das, hätte aber keine Lust auf so ein Manager-Dasein. Auch auf ein Dasein als normaler Hochschullehrer nicht.

Wenn du auf 40 Jahre in der Wissenschaft zurückblickst: Gibt es etwas, worauf du besonders stolz bist?

Ich habe mit Reinhart Siegert dazu beigetragen, dass sich der Blick auf die deutsche Aufklärung verändert hat. An den sieben Bibliografiebänden zur Volksaufklärung kann man nicht so einfach vorbei.

Und andersherum: Gibt es etwas, was du heute anders machen würdest?

Wüsste ich eigentlich nicht, auch wenn das komisch klingen mag. Vielleicht hätte ich früher anfangen sollen, bei der DFG Geld zu beantragen. Die ersten Projekte haben wir noch aus Bordmitteln finanziert. Einen richtigen Irrweg sehe ich aber nicht.

Zu welchen Kolleginnen und Kollegen hattest oder hast du einen besonders guten Draht?

Zu Reinhard Siegert. Mein ältester Kollege. Er hat das Thema Volksaufklärung schon sehr früh gründlich bearbeitet (vgl. Siegert 1978). Ich habe ihm 1982 meine Dissertation geschickt und vorgeschlagen, so eine Bibliografie zu machen. Seitdem arbeiten wir zusammen. Das ist die intensivste berufliche und persönliche Freundschaft in meinem Leben.

Dann sicher Arnulf Kutsch und Rudolf Stöber.

Auch sehr eng, ja. Zu nennen ist ein Gefühl der Verbundenheit aus langen Jahren bei der Presseforschung auch mit Astrid Blome, die ja heute das Dortmunder Zeitungsinstitut leitet, mit Michael Nagel, der an unserem Institut den Schwerpunkt zur deutsch-jüdischen Presse begründet hat, mit ihm war über viele Jahre immer ein fruchtbarer Austausch möglich, nicht zu vergessen aber auch mit Martin Welke, dessen Lebensziel eines Zeitungsmuseums sich jetzt hoffentlich in Augsburg verwirklicht. Und dann lernt man ja auf den Tagungen immer wieder Leute kennen, von denen man lernen kann.

Hast du ein Beispiel?

Ich habe ja 15 Jahre lang die Germanisten-Partnerschaft mit Danzig betreut. Zu vielen Kolleginnen und Kollegen von dort habe ich heute noch Kontakt.

Und umgekehrt: Gab es Gegner, Konkurrenten, Feinde?

Ich glaube nicht. Ich bin nie neidisch und kann immer das Positive sehen, wenn andere etwas leisten. Bei meinen Themen gab es außerdem keine unmittelbare Konkurrenzsituation. Ich habe immer über Dinge gesprochen, über die die anderen wenig wussten.

Was bleibt eines Tages von Holger Böning in der Pressegeschichtsschreibung? Was sollte bleiben, wenn du es beeinflussen könntest?

Die feste Überzeugung, dass man die Sachen kennen muss, über die man schreibt.

Literaturangaben

  • Astrid Blome/Holger Böning (Hrsg.): Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung. Bremen: edition lumière 2008.
  • Holger Böning: Heinrich Zschokke und sein „Aufrichtiger und wohlerfahrener Schweizerbote“. Die Volksaufklärung in der Schweiz. Bern: Lang 1983.
  • Holger Böning: Ulrich Bräker. Der arme Mann aus dem Toggenburg. Leben, Werk und Zeitgeschichte. Königstein: Athenäum 1985.
  • Holger Böning: Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1990.
  • Holger Böning (Hrsg.): Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit: Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. München: Saur 1992.
  • Holger Böning: Ulrich Bräker. Der Arme Mann aus dem Toggenburg. Eine Biographie. Zürich: Orell Füssli 1998.
  • Holger Böning: Der Traum von einer Sache. Aufstieg und Fall der Utopien im politischen Lied der Bundesrepublik und der DDR. Bremen: edition lumière 2004.
  • Holger Böning: Zur Musik geboren: Johann Mattheson, Sänger an der Hamburger Oper, Komponist, Kantor und Musikpublizist. Eine Biographie. Bremen: edition lumière 2014.
  • Holger Böning: Justus Möser. Anwalt der praktischen Vernunft. Der Aufklärer, Publizist und Intelligenzblattherausgeber. Bremen: edition lumière 2017.
  • Holger Böning: „Lügen-Presse“, „Fake-News“ und „Medien-Mainstream“. Gedanken zu einigen Neuerscheinungen zum Thema und zum Zustand der Gegenwärtigen Presseberichterstattung. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20. Jg. (2018a), S. 122-155.
  • Holger Böning: Dreißigjähriger Krieg und Öffentlichkeit. Zeitungsberichte als Rohfassung der Geschichtsschreibung. Bremen: edition lumière 2018b.
  • Holger Böning/Emmy Moepps: Deutsche Presse. Biobibliographische Handbücher zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815. Band 1.1: Hamburg. Von den Anfängen bis 1765. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1996.
  • Holger Böning/Aïssatou Bouba/Esther-Beate Körber/Michael Nagel/Stephanie Seul (Hrsg.): Deutsche Presseforschung. Geschichte und Forschungsprojekte des ältesten historischen Instituts der Universität Bremen. Bremen: edition lumière 2013.
  • Hans-Wolf Jäger: Vorlesungen zur deutschen Literaturgeschichte. Band 1: Humanismus, Reformation und Bauernkrieg. Herausgegeben von Holger Böning. Bremen: edition lumière 2015.
  • Joachim Kirchner: Bibliographie der Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes bis 1900. 4 Bände. Stuttgart: Anton Hiersemann 1969.
  • Uwe Krüger: Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten. Eine kritische Netzwerkanalyse. Köln: Herbert von Halem 2013.
  • Uwe Krüger: Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen. München: C. H. Beck 2016.
  • Arnulf Kutsch: Lappenberg-Medaille für Holger Böning. In: Publizistik 50. Jg. (2005), S. 244f.
  • Paul Raabe: Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus. Repetitorium der Zeitschriften, Jahrbücher, Anthologien, Sammelwerke, Schriftenreihen und Almanache 1910-1921. Stuttgart: Metzler 1964.
  • Andreas M. Scheu: Adornos Erben in der Kommunikationswissenschaft. Eine Verdrängungsgeschichte? Köln: Herbert von Halem 2012.
  • Andreas Scheu/Thomas Wiedemann (2008): Kommunikationswissenschaft als Gesellschaftskritik. Die Ablehnung linker Theorien in der deutschen Kommunikationswissenschaft am Beispiel Horst Holzers. In: Medien & Zeit 23. Jg. (2008), Nr. 4, S. 9-17.
  • Reinhart Siegert: Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem „Noth- und Hülfsbüchlein“. Mit einer Bibliographie zum Gesamtthema. Frankfurt/Main: Buchhändlervereinigung 1978.
  • Heinrich Zschokke: Das Goldmacherdorf. Herausgegeben und kommentiert von Holger Böning. Bremen: edition lumière 2012.

Empfohlene Zitierweise

    Holger Böning: Es ist ein Kunstfehler, wenn die Historiker die Medien übersehen. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2019. http://blexkom.halemverlag.de/boening-interview/ (Datum des Zugriffs).