Hertha Sturm (Quelle: Historisches Archiv des SWF)

Hertha Sturm

22. Januar 1925 bis 14. Mai 1998

Lexikoneintrag von Gabriel Wonn am 21. Februar 2019

Das Vokabular der Kommunikationswissenschaft verdankt Hertha Sturm den Begriff der „fehlenden Halbsekunde“. Die Medienpsychologin setzte sich im Bildungsfernsehen für eine zuschauerfreundliche Dramaturgie ein – und half quasi nebenbei, die sozialwissenschaftliche Wende in München zu festigen.

Stationen

Geboren in Nürnberg. Vater Wieland Sturm, Mutter Maria Magdalena Sturm. Keine Geschwister. 1942 Abitur in Nürnberg. Studium der Psychologie und Rechtswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg (ein Gastsemester in Freiburg). 1945 Abschluss als Diplompsychologin. Leiterin der Abteilungen Jugendfunk und später Schulfunk beim Südwestfunk. 1948 Promotion an der Universität Freiburg (Doktorvater: Robert Heiß). Ab 1960 Lehraufträge an den Universitäten Mainz und Freiburg. 1963 Aufbau und Leitung der Abteilung Bildung & Erziehung beim Zweiten Deutschen Fernsehen. 1967 Habilitation. 1968 Privatdozentin an der Universität Freiburg. 1974 Professorin in München. Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) beim Bayerischen Rundfunk. 1982 Wechsel nach Landau und dort Aufbau des Studiengangs Kommunikationspsychologie. Nicht verheiratet, keine Kinder. Gestorben in Ehrenkirchen.

Publikationen

  • Masse – Bildung – Kommunikation. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1968 (Habilitation).
  • Grundlagen einer Medienpädagogik. Zug: Klett & Balmer 1979.
  • Informationsverarbeitung durch Kinder: Piagets Entwicklungstheorie auf Hörfunk und Fernsehen angewandt; eine empirische Studie zu Wirkungen von Fernsehen und Hörfunk. München: Saur 1980.
  • Fernsehdiktate: die Veränderung von Gedanken und Gefühlen; Ergebnisse und Folgerungen für eine rezipientenorientierte Mediendramaturgie. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 1991.
  • Der gestreßte Zuschauer: Folgerungen für eine rezipientenorientierte Dramaturgie. Stuttgart: Klett-Cotta 2000.

Als Hertha Sturm 1974 auf die neu geschaffene Professorenstelle für empirische Kommunikationswissenschaft am Münchner Institut berufen wurde, endete eine Phase des intensiven Werbens um die renommierte Praktikerin. Der damalige Institutsleiter Otto B. Roegele (1997: 106) bezeichnete ihre Stelle im Nachhinein als „großartiges Geschenk“ der bayerischen Staatsregierung, die sich ebenso wie der Bayerische Rundfunk stark um Sturm bemüht hatte.

Zum Zeitpunkt der Berufung war Hertha Sturm bereits 42 Jahre alt. Das ist deshalb bemerkenswert, weil der Beginn ihrer akademischen Karriere rasant verlaufen war: mit nur 20 Jahren Abschluss als Diplompsychologin (nach Abitur mit 17), drei Jahre später bereits promoviert (vgl. Mahler et al. 2008: 120-121). Sturm war aber in der Zwischenzeit alles andere als untätig gewesen. Sie hatte sich durch ihre Leitungsfunktionen im Jugend- und Schulfunk des Südwestfunks sowie in der Abteilung Bildung und Erziehung beim ZDF als Medienpsychologin und -pädagogin in der Praxis einen Namen gemacht (vgl. ebd.: 121-125; Sturm 1997: 185).

Die Praxisnähe, ihre Habilitation und vor allem ihr empirisches Wissenschaftsverständnis machten Hertha Sturm in München so begehrt. Im Zuge der sozialwissenschaftlichen Wende (Löblich 2010) im Fach wurden in den Folgejahren auch an den anderen traditionellen Fachstandorten Professuren für Empiriker geschaffen (Winfried Schulz in Münster, Hans Mathias Kepplinger in Mainz, Lutz Erbring in Berlin; vgl. Mahler et al. 2008: 116). Obgleich die Psychologin Sturm sich nie wirklich in das Fach Publizistik integrierte, half sie, diesen Paradigmenwechsel zu konsolidieren. Ihre direkten Nachfolger in München: Klaus Schönbach, Werner Früh und Hans-Bernd Brosius (vgl. ebd.: 116).

Als Wissenschaftlerin setzte sich Sturm (die neben ihrer Münchner Professur auch das Internationale Zentralinstituts für Jugend- und Bildungsfernsehen beim Bayerischen Rundfunk leitete) unter anderem für eine zuschauerfreundliche Dramaturgie in Fernsehprogrammen ein. Hierzu prägte sie den Begriff der „fehlenden Halbsekunde“: Laut Sturm werden vor allem Kinder durch zu hohes Tempo in TV-Darstellungen überfordert, was zu einer oberflächlichen Verarbeitung führt (vgl. Sturm 1984). Mit der Etablierung dieses Begriffs hat es die Professorin vor allem im Bereich der Medienpädagogik in den kommunikationswissenschaftlichen Sprachkanon geschafft.

Literaturangaben

  • Maria Löblich: Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistik- und Zeitungswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2010.
  • Melanie Mahler/Michael Meyen/Manuel Wendelin: „Empirifizierung“ als Nebenwirkung. Die Berufung der Psychologin Hertha Sturm (1925–1998) auf eine Professur für empirische Kommunikationsforschung. In: Michael Meyen/Manuel Wendelin (Hrsg.): Journalistenausbildung, Empirie und Auftragsforschung. Neue Bausteine zu einer Geschichte des Münchener Instituts für Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2008, S. 116-149.
  • Otto B. Roegele: Ausbreitung, Lähmung, Konsolidierung – München 1963-1985. In: Arnulf Kutsch/Horst Pöttker (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 62-109.
  • Hertha Sturm: Wahrnehmung und Fernsehen: die fehlende Halbsekunde. In: Media Perspektiven (1984), Heft 1, S. 58-65.
  • Hertha Sturm: Auf der Suche nach den dominanten Wirkungspotentialen bei Medien und Rezipienten. In: Arnulf Kutsch/Horst Pöttker (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 184-222.

Weiterführende Literatur

  • Marianne Grewe-Partsch/Hertha Sturm: Mensch und Medien: zum Stand von Wissenschaft und Praxis in nationaler und internationaler Perspektive; zu Ehren von Hertha Sturm. München: Saur 1987.
  • Gertrude Joch Robinson: Freundschaft, auch wissenschaftlich: Hertha Sturm und Marianne Grewe-Partsch. In: Aviso (2003), 34, S. 6-7.
  • Martina Thiele: Gesehen werden. Lebenswege und Karrieren von Kommunikationswissenschaftlerinnen der Aufbaugeneration – ein Beitrag zur feministischen Fachgeschichtsschreibung. In: Feministische Studien 33. Jg. (2015), Heft 1, S. 75-89.

Weblink

Empfohlene Zitierweise

Gabriel Wonn: Hertha Sturm. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2018. http://blexkom.halemverlag.de/hertha-sturm/ (Datum des Zugriffs).