Meine Verwandtschaft mit Karl Weber

Beitrag von Roger Blum am 21. März 2016

Roger Blum, emeritierter Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Bern, reflektiert über seine geistige und berufliche Nähe zu dem Historiker, Journalisten und Publizistikwissenschaftler Karl Weber und liefert so zugleich einen Baustein zur Geschichte des Fachs in der Schweiz.

Ich bin mit dem 65 Jahre älteren Publizistikprofessor Karl Weber nicht verwandt. Ich habe ihn auch nie getroffen, obwohl er in den 1950er-Jahren genauso wie ich in Liestal gelebt hat, im Hauptort des Schweizer Kantons Baselland. Und doch gibt es eine Verwandtschaft – im Geiste und in der Karriere.

Roger Blum anlässlich eines Vortrags im Sommer 2015 ni München (Foto: Markus Thieroff)

Roger Blum anlässlich eines Vortrags im Sommer 2015 in München (Foto: Markus Thieroff)

Im Progymnasium war sein Enkel Felix Maire mein Sitznachbar. Dessen Mutter, Ruth Maire-Weber, öffnete mir die Tür zum Journalismus, indem sie dafür sorgte, dass ein Gedicht von mir über die Selbstständigkeit des Baselbiets, das ich als 15-Jähriger geschrieben hatte, in der Basellandschaftlichen Zeitung veröffentlicht wurde. Intuitiv schloss sie damit an Anliegen ihres Vaters an: Dichtkunst, Kampf für Baselland, Journalismus. Karl Weber starb, als ich das Progymnasium bereits verlassen hatte. Keine Sekunde wäre ich auf die Idee gekommen, dass ich je mit ihm zu tun haben würde.

Die Parallelen beginnen früh: Unser beider Väter waren Aargauer. Sie heirateten Frauen, die ihre Kindheit in Liestal verbracht hatten – Webers Vater eine veritable Liestalerin, mein Vater eine Baslerin, die bis zur ersten Klasse der Grundschule in Liestal gelebt hatte. Ich wuchs wie Karl Weber in Liestal auf. Beide studierten wir in Basel – er Geschichte, deutsche und französische Philologie und Pädagogik, ich Geschichte und Staatsrecht. Beide doktorierten wir in Geschichte und zwar mit einem Thema, das Baselland im 19. Jahrhundert betraf: Weber über „die Revolution im Kanton Basel 1830-1833“ (Weber 1907), ich über „die Beteiligung des Volkes im jungen Kanton Baselland 1832-1875“ (Blum 1977). Beide begannen wir unsere journalistische Karriere bei der Basellandschaftlichen Zeitung.

Weber war bei diesem freisinnigen Blatt elf Jahre Redakteur. Dann wechselte er für zehn Jahre als Redakteur zu den liberalen Basler Nachrichten. Schließlich war er 22 Jahre lang Bundesstadt-Redakteur der freisinnigen Neuen Zürcher Zeitung. Ich wiederum arbeitete als freier Journalist zuerst für die Basellandschaftliche Zeitung, dann für die Basler Nachrichten, um dann als Ressortleiter Inland vollberuflich bei den unabhängigen, linksliberalen Luzerner Neusten Nachrichten einzusteigen und nach zwei Jahren für ein Jahrzehnt zum Zürcher Tages-Anzeiger zu wechseln, wo ich auch Mitglied der Chefredaktion wurde und Bundeshauskorrespondent war. Hauptberuflich arbeiteten wir beide für Blätter, die liberal positioniert waren – Weber für rechtsliberale, ich für linksliberale.

So war es auch im Bereich der Politik. Beide engagierten wir uns beim Freisinn. Als Weber in die Politik einstieg, gab es in Baselland noch zwei konkurrierende freisinnige Parteien – eine linke, die das Parlament dominierte, und eine rechte, die die Regierung stützte. Karl Weber tat bei der rechtsliberalen Gruppierung mit. 1919 schlossen sich die beiden Strömungen zusammen – nicht zuletzt als Reaktion auf den sozialistischen Landesstreik und auf die Einführung des Verhältniswahlrechts. Ich hingegen gehörte in der FDP zum linken Flügel; zusammen mit Gesinnungsfreunden war ich an der Gründung des linksliberalen Forums für liberale Politik beteiligt, und es gelang uns insgesamt, in Baselland sozialliberale und ökoliberale Positionen voranzubringen. Weber gehörte 1917 bis 1920 dem basellandschaftlichen Kantonsparlament, dem Landrat, an. Bei seiner Wahl war er 37-jährig. Ich saß 1971 bis 1978 im Landrat. Bei meiner ersten Wahl war ich 26-jährig.

Beide publizierten wir als Historiker. Karl Weber verfasste den umfangreichen Teil über das 19. und 20. Jahrhundert in der zweibändigen Geschichte von Baselland, die 1932 zum 100-jährigen Bestehen des Kantons erschien (vgl. Weber 1932). Ich hingegen regte eine neue Kantonsgeschichte nur an, war an der Erarbeitung des Konzepts beteiligt und wirkte in der Aufsichtskommission des Projekts mit, das dann im sechsbändigen Werk Nah dran, weit weg. Geschichte des Kantons Basel-Landschaft gipfelte. Es kam 2001 zum 500. Jubiläum des Beitritts Basels zur Eidgenossenschaft heraus. Sowohl Karl Weber als auch ich veröffentlichten eine Anzahl geschichtswissenschaftlicher Aufsätze.

Karl Weber (Quelle: Universitätsbibliothek Basel)

Während ich mich wissenschaftlich mehr und mehr der Politologie zuwandte und dort auch publizierte, strebte Karl Weber gezielt Richtung Publizistikwissenschaft. Er habilitierte sich an der Universität Zürich mit der Arbeit über „die schweizerische Presse im Jahre 1848“ (Weber 1927). 1928 – mit 48 Jahren – erhielt er die Venia legendi für Zeitungskunde und praktische Journalistik, 1938 wurde er zum Leiter des Journalistischen Seminars und zum Titularprofessor ernannt, 1942 wurde er zudem außerordentlicher Professor für Journalistik an der Universität Bern. Er war insgesamt 24 Jahre lang akademischer Lehrer, davon 14 Jahre lang als Professor in Zürich, zehn Jahre lang als Professor in Bern, alles im Nebenamt, neben seinem Hauptberuf als NZZ-Bundesstadtkorrespondent. Ich hingegen hatte nie eine Habilitation im Sinn, und es war eher überraschend, dass ich 1989 – mit 44 Jahren – als Professor für Medienwissenschaft an die Universität Bern berufen wurde. Es handelte sich ebenfalls bloß um eine halbe Stelle, angelegt als Kombination mit einer Aufgabe im praktischen Journalismus, was sich allerdings angesichts der Studierendenzahlen und der damit verbundenen Verpflichtungen als Illusion erwies (vgl. Blum 2015). 1995 wurde die Stelle auf 75 Prozent, 2005 auf 100 Prozent aufgestockt. Die Professur übte ich 21 Jahre lang aus. Außerdem versah ich acht Jahre lang (1995 bis 2003) einen Lehrauftrag für Medienwissenschaft an der Universität Basel.

Als Weber zum Privatdozenten ernannt wurde, gab es das Fach Journalistik in der Schweiz nur in Zürich. Als er emeritiert wurde, existierte es an drei Universitäten – in Zürich, Bern und Freiburg (Schweiz); Weber war allerdings der einzige Professor. Vier Jahrzehnte später, als ich meine Professur antrat, hatte sich im Grunde wenig verändert: Es gab das Fach an den fünf Universitäten Zürich, Bern, Freiburg, Lausanne und Neuenburg. Der große Aufschwung und Ausbau in der Schweiz vollzog sich in der Zeit bis zu meiner Emeritierung: 2010 war die Kommunikations- und/oder Medienwissenschaft an den neun Universitäten von  Zürich, Bern, Freiburg, Basel, Luzern, St. Gallen, Lugano, Neuenburg und Genf sowie an vier Fachhochschulen – in Winterthur, Luzern, Olten und Chur – etabliert. Die Zahl der Professoren hatte sich inzwischen auf über 50 erhöht.

Karl Weber war in Zürich der Drittletzte, der direkt aus der journalistischen Praxis auf eine Professur berufen wurde, und in Bern der Fünftletzte. In Zürich folgten Siegfried Frey, Direktor der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA), und Christian Padrutt, der Redakteur des freisinnigen Freien Rätiers in Graubünden gewesen war. In Bern war ebenfalls Siegfried Frey der direkte Nachfolger, danach versahen Peter Dürrenmatt, gewesener Chefredakteur der Basler Nachrichten und liberalkonservativer Abgeordneter im Schweizer Nationalrat, Hans Stark, Chefredakteur des liberalen Berner Bund, und schließlich ich die Professur. Die Abkoppelung von der Medienpraxis erfolgte in Zürich 1975/77 mit der Berufung von Ulrich Saxer, in Bern 2010 mit der Berufung von Silke Adam.

Karl Weber versuchte, wie später auch ich, Theorie und Praxis zu verbinden, die kommunikationswissenschaftliche und die journalistische Community für einander zu interessieren – mit begrenztem Erfolg. Weber sagte einmal, es gebe zwischen den beiden Lagern sowohl einen Bindestrich als auch einen Trennstrich. Im empirisch-analytischen Bereich befruchtete Weber zunächst vor allem die Mediengeschichtsforschung. Später wandte er sich der Soziologie der Presse zu. Mir war es lange ein Anliegen, den politischen Journalismus zu erforschen. Danach widmete ich mich der Theorie der Mediensysteme, und erst nach meiner Emeritierung lieferte ich mit Lautsprecher und Widersprecher. Ein Ansatz zum Vergleich der Mediensysteme (Blum 2014) dazu ein größeres Werk nach.

Die Chefredakteurinnen (v.l.) Ursula Fraefel (Thurgauer Zeitung), Colette Gradwohl (Landbote) und Catherine Duttweiler (Bieler Tagblatt) im Interview mit Roger Blum (Quelle: Blum 2010)

Beide fanden wir indes ein wichtiges fachnahes Betätigungsfeld außerhalb von Lehre und Forschung – im Bereich der Medienpolitik und der Medienregulierung. Weber war noch vor seiner akademischen Zeit Präsident des Vereins der Schweizer Presse. Während des Zweiten Weltkrieges engagierte er sich in der gemischten pressepolitischen Kommission und in der Medienkontrolle des Bundes, und zwar vor allem als Mahner. Er wandte sich gegen die Kompetenzfülle der Armee, gegen Beschränkungen der Pressefreiheit im Sinne eines vorauseilenden Gehorsams und gegen intransparente Verfahren. Seine Erfahrungen publizierte er nach dem Krieg im Buch Die Schweiz im Nervenkrieg (Weber 1948). Mein Engagement betraf die Medienregulierung in Friedenszeiten – sowohl in der Form der Selbstkontrolle als auch der unabhängigen Fremdkontrolle. So war ich Präsident des Schweizer Presserates, Co-Präsident des Leserrates des Bund, stellvertretender Ombudsmann der SRG Deutschschweiz und Präsident der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI). Meine Erfahrungen fasste ich im Buch Unseriöser Journalismus? Beschwerden gegen Radio und Fernsehen in der Schweiz (Blum 2015) zusammen.

Noch etwas: Beide reimten wir gerne. Karl Weber schrieb viele Verse, auch Wahlkampfverse für die Freisinnigen, die der Kunstmaler Otto Plattner illustrierte. Er verfasste aber auch Festspiele und einen Roman. Ich hingegen schrieb Gedichte nur als Jugendlicher und nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Später trat ich an allen möglichen privaten oder halbprivaten Anlässen mit Reimen auf – meist mit „Schnitzelbänken“, der baslerischen Form des Spottverses. Beiden war also auch ein Hang zur Unterhaltung eigen.

Nichts war abgesprochen oder abgeguckt. Aber die Verwandtschaft ist ziemlich auffällig.

Literaturangaben

  • Roger Blum: Die politische Beteiligung des Volkes im jungen Kanton Baselland 1832–1875. Liestal: Kantonale Drucksachen- und Materialzentrale 1977.
  • Roger Blum: 20 Jahre Brückenschlag zwischen Medientheorie und Medienpraxis. Ein Rechenschaftsbericht. Bern: Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft 2010.
  • Roger Blum: Lautsprecher und Widersprecher. Ein Ansatz zum Vergleich der Mediensysteme. Köln: Herbert von Halem 2014.
  • Roger Blum: Den Journalismus trage ich im Herzen. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.
  • Roger Blum: Unseriöser Journalismus? Beschwerden gegen Radio und Fernsehen in der Schweiz. Konstanz: UVK 2015.
  • Karl Weber: Die Revolution im Kanton Basel. Liestal: Lüdin 1907.
  • Karl Weber: Die schweizerische Presse im Jahre 1848. Basel: Frobenius 1927.
  • Karl Weber: Entstehung und Entwicklung des Kantons Basellandschaft 1798 bis 1932. In: Karl Gauss/Ludwig Freivogel/Otto Gass/Karl Weber: Geschichte der Landschaft Basel und des Kantons Basellandschaft. Bd. 2. Liestal: Lüdin 1932, S. 319-744.
  • Karl Weber: Die Schweiz im Nervenkrieg. Aufgabe und Haltung der Schweizer Presse in der Krisen- und Kriegszeit 1933-1945. Bern: Lang 1948.

Empfohlene Zitierweise

    Roger Blum: Meine Verwandtschaft mit Karl Weber. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2016. http://blexkom.halemverlag.de/verwandtschaft/(Datum des Zugriffs).