Horst Pöttker (Foto: privat)

Man muss konfliktbereit sein

Veröffentlicht am 14. August 2018

Horst Pöttker war und ist einer der stärksten Motoren des Fachs Journalistik. Michael Meyen hat ihn am 25. Mai 2018 in Wien getroffen und mit ihm auch über 1968 gesprochen, über den Umgang mit dem Erbe der DDR und über die Affäre Eumann.

Stationen

Geboren am 29. Dezember 1944 in Bad Segeberg. 1964 Abitur an der Walddörferschule in Hamburg. Studium in Hamburg, Zürich, Kiel und Basel. 1976 hauptamtlicher Redakteur der Zeitschrift blätter des iz3w in Freiburg (bis 1980). 1978 Promotion bei dem Soziologen Paul Trappe in Basel. 1982 Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Rainer Geißler in Siegen (Soziologie). 1985 bis 1996 Redakteur der Fachzeitschrift medium im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP). Lehraufträge für Soziologie in Freiburg und Siegen. 1992 bis 1995 Gastprofessor in Leipzig (Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Ethik des journalistischen Handelns). 1995 Habilitation in Siegen (Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziologie der Kommunikation und der öffentlichen Medien). 1995 Professor für Theorie und Praxis des Journalismus an der Universität Dortmund (bis zur Pensionierung 2013). 2001 verantwortlich für den Rezensionsteil der Publizistik (bis 2008). 2002 Geschäftsführer der Initiative Nachrichtenaufklärung (bis 2013). 2004 Mitgründer des Vereins zur Förderung der Publizistischen Selbstkontrolle. Gastaufenthalte in Iowa, Rostow am Don, St. Petersburg, Stawropol und Wien. 2015 Seniorprofessor an der Universität Hamburg (bis 2018). Mitherausgeber der Rezensionszeitschrift r:k:m. Herausgeber des Online-Lexikons Journalistikon. 2018 Gründer und Mitherausgeber der Fachzeitschrift Journalistik. Verheiratet, zwei Söhne.

Publikationen

  • Zum demokratischen Niveau des Inhalts überregionaler westdeutscher Tageszeitungen: Wissenschaftstheorie und Methodologie – Normative Theorie der Demokratie – Quantitative Inhaltsanalyse. Hannover: SOAK 1980 (Dissertation).
  • Entfremdung und Illusion: Soziales Handeln in der Moderne. Tübingen: Mohr Siebeck 1997 (Habilitation).
  • Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Klassiker der Sozialwissenschaft über Journalismus und Medien. Konstanz: UVK 2001 (Herausgeber).
  • Diffusion of the News Paradigm, 1850–2000. Göteborg: Nordicom 2005 (Herausgeber, mit Svennik Hoyer).
  • Stilistik für Journalisten. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag 2010 (mit Josef Kurz, Daniel Müller, Joachim Pötschke und Martin Gehr).

Könnten Sie mir zu Beginn etwas über Ihr Elternhaus erzählen, über Ihre Kindheit, Ihre Jugend?

Meine Eltern waren beide Mathematiker. Ich komme aus einem Elternhaus, in dem naturwissenschaftlich gedacht wurde. Beide Eltern waren aber auch evangelische Christen, mal mehr aktiv, mal weniger.

Was bedeutet aktiv?

Zur Kirche gegangen, in der evangelischen Akademikerschaft mitgemacht. Wenn man ein bisschen weiter zurückgeht, dann ist meine Herkunft aber nur bedingt bildungsbürgerlich. Der Vater meiner Mutter kam aus einer sächsischen Arbeiterfamilie. Er hatte nicht studiert und auch kein Abitur, sondern eine Bürolehre gemacht, bei einem Rechtsanwalt. Ein Selfmade-Mann.

In welchem Bereich hat er gearbeitet?

Er war Versicherungsmakler, als Selbstständiger. Er hat für den Nordstern in ganz Norddeutschland Versicherungen verkauft, an Werften zum Beispiel. Relativ erfolgreich. Mir war früh bewusst, dass da etwas ökonomisches Kapital war. Ich weiß ja, dass Sie mit Bourdieu arbeiten. Das war kein enorm großes Vermögen, aber immerhin so viel, dass ich ein gewisses Sicherheitsgefühl hatte und lange studieren konnte. Ich wusste, dass mir nicht viel passieren kann. Vielleicht habe ich auch deshalb hin und wieder den Mund etwas weiter aufgemacht als andere, ein sehr bürgerliches Privileg.

Dieser Großvater hat dann ja offenbar auch seiner Tochter erlaubt zu studieren, als das noch gar nicht so üblich war.

Ganz so war es nicht. Meine Mutter wollte eigentlich Medizin studieren, aber ihre Eltern dachten, dass sie dabei mit Dingen in Berührung kommen würde, die sich nicht ziemten. Das waren etwas prüde Vorstellungen. Sie ist ein Jahr lang jeden Tag mit dem Hund um die Außenalster spaziert und hat schließlich das Mathematikstudium durchgesetzt. Sie war dann Lehrerin.

Was ist mit dem anderen Großvater?

Er war auch selbstständig, aber weniger erfolgreich. Ebenfalls aus einer Arbeiterfamilie, aus Ostwestfalen. Auch er kam vor dem Ersten Weltkrieg nach Hamburg, genauer: nach Harburg, das erst 1937 zu Hamburg kam. Er war Großhändler für Lebensmittel und hat Läden in der Lüneburger Heide beliefert. Ich erinnere mich an sein Lager mit großen runden Käserädern und an seinen Brennabor-Lieferwagen, ein Vehikel, wie man sie heute in Indien als Taxis hat. „Ein Stück Blech, ein Stück Rohr, fertig ist der Brennabor!“ Diesen Spruch habe ich noch im Ohr.

Hamburg ist kurz vor Ihrer Geburt schwer bombardiert worden.

Das hat mich indirekt geprägt. Meine Eltern und Großeltern hatten ihre Wohnungen verloren. Ich bin deshalb in Bad Segeberg zur Welt gekommen und zunächst vor allem auf dem Land aufgewachsen, zwischen Hamburg und Kiel. Eigentlich bin ich aber Hamburger.

Wie das?

Nach traditioneller Definition ist man Hamburger, wenn die Mutter und deren Mutter in Hamburg zur Welt gekommen sind. Das ist bei mir der Fall, auch wenn ich die ersten sechs Jahre viel auf dem Land war. Da gab es zu essen und es war nicht so viel zerstört.

Zur Schule sind Sie aber in Hamburg gegangen.

Von 1951 bis 1964, ja. In der Grundschule waren wir über 50 Kinder in der Klasse. Wenn man in den Baracken durch den Boden trat, kam gleich Sand. Gespielt haben wir in Trümmergrundstücken. Das war eine freie Kindheit, wenn man es mit heute vergleicht. Am ersten Schultag hat mich meine Mutter noch zur Schule gebracht. 20, 30 Minuten durch den Hamburger Verkehr. Am nächsten Tag bin ich schon alleine los.

Haben Sie Geschwister?

Eine Schwester, sechs Jahre jünger. Wir haben kein besonders enges Verhältnis. Ich war auch nicht im Kindergarten, sondern am liebsten bei meinen Großeltern auf dem Land. Dort gab es alle möglichen Tiere. Die grüne, wellige Landschaft ist tief in mir drin. Noch als Student habe ich Hausarbeiten bei meiner Großmutter geschrieben. Von Kiel war das nicht sehr weit.

Hat Politik in Ihrer Kindheit eine Rolle gespielt?

Nein. Mein Vater war sieben Jahre Soldat. Er hat 1934 Abitur gemacht. Als er studierte, wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Er war in Frankreich in einer Infanteriedivision, als Offiziersanwärter. 1940 gab es die Möglichkeit, sich für zwei Notsemester beurlauben zu lassen und so den Abschluss zu machen. Danach war er nur noch Unteroffizier bei einer Nachrichteneinheit und ist in Russland gewesen. Ich kann mich nicht erinnern, von ihm viel gegen die Nazis gehört zu haben, über den Krieg und seine Schrecklichkeiten aber schon. Er war absolut unmilitärisch. Für ihn waren diese sieben Jahre furchtbar. Eigentlich wäre er wohl gern Musiker geworden. Das wollten seine Eltern aber nicht.

Also auch da Probleme mit dem Berufswunsch.

Ja. Seine Eltern meinten, das sei brotlos und führe zu nichts. Er hat dann wohl zwangsläufig das gemacht, was er in der Schule auch gut konnte.

Mathematik.

Er war das aber dann gern. Wie meine Mutter. Ich kann mich an unsere Gespräche beim Abendbrot erinnern. Da kamen irgendwelche griechischen Buchstaben vor. Ich fand das nicht so anregend, war dann aber trotzdem auf dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig. Es kam ja fast nichts anderes für mich infrage.

Haben Sie dann nicht auch selbst angefangen, Mathematik zu studieren?

Das war ein bisschen komplizierter. Ich habe geschwankt. In Mathematik war ich ganz gut, wir hatten in der Oberstufe einen jungen Mathelehrer, der uns alles auf Basis der Mengenlehre beigebracht hat. Aus den Matrizen für uns hat er später ein Lehrbuch gemacht. Und man kriegt das ja auch so mit, von den Eltern. Ich konnte aber auch Aufsätze schreiben. Schnell und mit guten Noten. Die Lehrer haben sich am Anfang gewundert. Sie kannten meine Mutter als Kollegin und dachten, dass Schreiben für mich nicht so infrage kommt. Ich habe dann ein Semester Geisteswissenschaften studiert, bin kurz zur Mathematik und schließlich wieder zurück.

Wie erklären Sie dieses Hin und Her?

Auch mit der Aufbruchstimmung in jenen Jahren. Es war noch nicht 1968, aber es gärte schon. Ich sah auch, was meine Eltern im Beruf machten. Lehrer wollte ich nicht werden. Mein Vater war bei einer Versicherungsgesellschaft. Ich kann gleich noch erzählen, warum er nicht Hochschullehrer geworden ist. Er saß an einer Rechenmaschine und schrieb irgendwelche Gutachten. Richtig prickelnd war das nicht.

Also lieber in Richtung Journalismus.

Ja. Damals hat man dafür Geisteswissenschaften studiert. Deutsche Philologie, Soziologie. Das habe ich sehr intensiv gemacht. Philosophie, Sprach- und Literaturwissenschaft. Auch ein bisschen Geschichte, aber ohne Abschluss. Den mathematischen Umweg konnte ich mir vielleicht auch wegen meines familiären Hintergrunds erlauben. Eigentum macht frei. Ich habe mich schon als Schüler mit Lehrern angelegt.

Sie wollten die Geschichte Ihres Vaters noch zu Ende bringen.

Er hat bei Wilhelm Blaschke promoviert. Ein weltbekannter Mathematiker. Blaschke war kurz vor der NS-Zeit Rektor der Universität Hamburg und dann mit dem Regime verbunden. Nach dem Krieg war er stark umstritten. Mein Vater hat so seinen Förderer verloren. Er war 30 Jahre lang Lehrbeauftragter für Versicherungsmathematik an der Uni Hamburg. Als dieser Bereich danach eine Professur wurde, hat ihn das schon getroffen.

Haben Sie als Student schon journalistisch gearbeitet?

In Kiel noch nicht, aber später als Doktorand. Ich bin aus privaten Gründen nach Freiburg gezogen.

Eine Frau.

Eine Sportstudentin, die für ein Semester nach Kiel gekommen war, um zu segeln. Ich bin eher ihr gefolgt als meinem Doktorvater aus der Soziologie, der nach Basel gegangen ist. Das ist nicht weit weg von Freiburg. Später habe ich das manchmal bedauert.

Warum das?

Ich hatte mit meinem Doktorvater nicht das beste Verhältnis, weder menschlich noch fachlich. Das ist erst besser geworden, als ich selbst Professor wurde. Paul Trappe war auf jeden stolz, der das geschafft hat. Der Erfolg vieler seiner Doktoranden beruhte auch darauf, dass wir uns mit ihm auseinandersetzen mussten.

Gab es denn eine Alternative?

Ja. Karl Otto Conrady aus der Germanistik. Zu ihm habe ich heute noch eine gute Beziehung. Vor zwei Jahren habe ich ihm zu seinem 90. gratuliert und mich mit ihm auch noch einmal über meine Seminararbeiten ausgetauscht. Conrady hat mir das Selbstbewusstsein gegeben, dass ich in der Wissenschaft etwas werden kann.

War 1968 auch in Kiel ein Thema?

Ja. Und wie. Die Seminare für Soziologie und Politik waren im achten Stock, auf einer Ebene. Die haben wir besetzt. Ich war dort nicht der Aktivste, aber das war schon wichtig für mich. Es hingen rote Fahnen aus den Fenstern, und wir haben den Wissenschaftsminister bei einer Veranstaltung ausgepfiffen. Gerhard Stoltenberg von der CDU. Es war schon heftig in Kiel. Norbert Gansel war einer der Studentenfunktionäre.

In welchem Jahr sind Sie nach Süden gezogen?

Ich bin 1969 mit Paul Trappe nach Basel gegangen und habe ein halbes Jahr dort gewohnt. So richtig gut gefallen hat es mir in der Schweiz aber nicht. Es gab da auch Fremdenfeindlichkeit, gerade gegen Deutsche. Ich hatte vorher schon mal ein Jahr in Zürich studiert und dort kaum Schweizer Kommilitonen kennengelernt. Immer irgendwelche Ausländer. Neuseeländer, Mexikaner, Holländer, Engländer. Im Frühjahr 1970 bin ich von Basel nach Freiburg gezogen.

Zu Ihrer Freundin.

Zu meiner damaligen Freundin, ja. Sie ist dann nicht meine Frau geworden. Das hatte auch einen politischen Grund. Als sie Examen machte, nahm Baden-Württemberg nur Landeskinder als Referendare auf. Nur in diesem einen Jahr, es stellte sich dann als verfassungswidrig heraus. Meine Freundin kam aus der Nähe von Dortmund und ist dann für das Referendariat nach Rheinland-Pfalz gegangen. Sie hatte noch mehr von 1968 in sich als ich und blieb später auch so. Aufmüpfig, dagegen sein. Nicht nur politisch. Ein anstrengendes Leben. Sie ist im vergangenen Jahr an einem Herzinfarkt gestorben.

Und Sie?

Ich war eher unorganisiert-spontan. Parteien mochte ich nicht. In meiner allerersten soziologischen Publikation ging es um anarchistische Literatur (vgl. Pöttker 1971). Ich habe in Freiburg eine Gruppe gesucht, die mir als 68er Heimat geben konnte. Nicht nur politisch. Ich wollte auch Genossen und Freunde haben.

Deshalb die Aktion Dritte Welt.

Das Informationszentrum Dritte Welt, iz3w, ja. Dort gab es eine Zeitschrift. Die gibt es immer noch. Ich war der erste hauptamtliche Redakteur. Ich konnte mit Texten umgehen und wusste, wo das Komma hingehört.

So fing es mit dem Journalismus an.

Genau genommen noch nicht. Das war eine politische Gruppe. Ich hatte noch kein journalistisches Selbstverständnis. Wir wollten die Befreiungsbewegungen unterstützen. In den portugiesischen Kolonien, in Indochina. Wir haben auch Geld gesammelt. Robert Mugabe als Vertreter der noch nicht regierenden ZANU soll sogar mal in meinem Bett geschlafen haben. Ich war an dem Abend nicht in Freiburg.

Das ist doch was.

Das ist kein Kapitel, auf das ich besonders stolz bin, aber damals wussten wir ja nicht, wie sich alles entwickeln würde. Als die Befreiungsbewegungen sich durchgesetzt hatten, waren sie nicht so sozialistisch und demokratisch, wie wir uns das vorgestellt hatten. Sie führten plötzlich gegeneinander brutale Kriege. Auch was in Kambodscha unter Pol Pot geschah, sickerte durch. Ich meinte, dass wir darüber berichten müssten in den blättern des iz3w.

Das klingt nach Streit.

Einige aus der Gruppe haben gesagt, das schade den Befreiungsbewegungen. Mir wurde das mehr und mehr egal. Ich wollte einfach eine gute Zeitschrift machen, in der Dinge stehen, die stimmen und wichtig sind. Ich nehme das heute nicht für alles in Anspruch, was ich in der Zeit geschrieben habe. Ich merkte aber damals, dass Journalismus etwas anderes ist als Politik. Gegen meine Umgebung habe ich ein journalistisches Selbstverständnis entwickelt. So ähnlich wie mit meinem Doktorvater.

Der Titel Ihrer Dissertation klingt sehr kommunikationswissenschaftlich (vgl. Pöttker 1978). Haben Sie damals mit dem Forschungsstand aus diesem Fach etwas anfangen können?

Nein. Das ist eine reine Soziologie-Arbeit. Ich hatte zwar schon gemerkt, dass es ein Fach gab, das damals meist noch Publizistik hieß. Ich habe mich aber als Soziologe mit dem Gegenstand Massenkommunikation beschäftigt. Bei Trappe gab es schon in Kiel ein Seminar, wo es um Stereotypen in den Medien ging. In der Dissertation habe ich untersucht, ob es nicht vielleicht doch möglich gewesen wäre, Axel Springer zu enteignen. Zu diesem Thema habe ich gerade wieder etwas für Anno geschrieben, für das Heft von Markus Behmer (vgl. Pöttker 2018).

Und: Wäre eine Enteignung damals möglich gewesen?

Ich meine, ja. In meiner Dissertation habe ich damit unwissentlich auch Kurt Koszyk widersprochen, dessen Nachfolger ich später wurde. Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes sagen, dass Enteignungen zulässig sein können, wenn es um das Allgemeinwohl geht. In meiner Studie stellte sich heraus, dass der Unterschied zwischen Springer-Blättern und anderen Zeitungen größer war als der zwischen Boulevard und seriösen Blättern.

Woran haben Sie das festgemacht?

An mehr Ethnozentrismus und Nationalismus in den Springer-Blättern. Völkisches, das heute offen zutage tritt, hat sich in Teilen der Presse seit Jahrzehnten vorbereitet. Ich halte es per se für undemokratisch. Dazu gibt es in der Dissertation eine Theorie, die meinen Zweitgutachter Arnold Künzli überzeugt hat. Was kann Demokratie heißen, wenn man darunter nicht nur eine Staatsform versteht, sondern darüber hinaus nach gesellschaftlichen Qualitäten fragt, nach sozialen Beziehungen, nach Handlungsweisen? Für mich ist Demokratie die Chance, echte Konflikte auszutragen.

Was sind echte Konflikte?

Konflikte, die sich an Machtverhältnissen entzünden oder an sozialer Ungleichheit und eben nicht an ethnischer Zugehörigkeit. Je zulässiger es ist, solche Konflikte auszutragen, desto weniger gewaltsam sind sie. Wahlen sind regelmäßige gewaltlose Konflikte um Herrschaft.

Wie ist das rezipiert worden?

Haben Sie das Buch mal in der Hand gehabt?

Noch nicht.

Das sind über 1000 Seiten. Empirie, Demokratietheorie und ein erkenntnistheoretischer Teil, in dem es um den Positivismusstreit geht. Hans Albert fand das gedankenreich. Ich sage dort, übrigens mit Max Weber, dass man nicht um Wertaxiome herumkommt, die man deshalb explizit machen muss. Meine Demokratievorstellung hat ja etwas mit Werten zu tun.

Was ist Ihr Axiom?

Freiheit und Gleichheit sollten das gleiche Gewicht haben. Selbstkritisch würde ich heute sagen, dass ich die dritte revolutionäre Forderung, Brüderlichkeit, besser Zwischenmenschlichkeit, nicht berücksichtigt habe und dass der Arbeit die historische Perspektive fehlt. Diese Kritik kann ich gut akzeptieren. Sie kam im Gespräch von Heinrich Popitz, dem Freiburger Soziologen, der sonst an der Arbeit nichts auszusetzen hatte. Ich habe das rein normativ behandelt. Was ist Demokratie, was sind demokratische Presseinhalte?

Können Sie das in zwei Sätzen zusammenfassen?

Konflikte nicht nach außen, an den Rand der Gesellschaft projizieren. Das ist nationalistisch oder ethnozentrisch. Demokratisch ist die Presse, wenn sie Konfliktlinien innerhalb von Gesellschaften zeigt und solche Konflikte nicht delegitimiert. Um das zu messen, habe ich in der Dissertation ein ziemlich aufwendiges Verfahren entwickelt. Wissen Sie, dass ich in Berlin fast eine Methodenprofessur bekommen hätte?

Nein. Wann war das?

Anfang der 1980er-Jahre, als Peter Glotz Wissenschaftssenator war (vgl. Meyen/Löblich 2007: 246-261). In der Dissertation hatte ich viel über die Methode der Inhaltsanalyse geschrieben, in sprachwissenschaftlicher Terminologie. Ich habe jedenfalls in Berlin vorgesungen und bin dort wohl auch gut angekommen. Nach dem Machtwechsel in Berlin von der SPD zur CDU wurde das Verfahren gestoppt. Später ist Lutz Erbring auf die Stelle berufen worden.

Bedauern Sie, dass das nicht geklappt hat?

Überhaupt nicht. Ich habe in Dortmund zwar auch zwei Jahrzehnte die Methodenveranstaltung gemacht, weil ich ja der Soziologe im Institut war. Auch meine mathematischen Wurzeln konnte ich dabei nutzen. Meine Lieblingsveranstaltungen waren das aber nicht. Da verändert sich ja nicht allzu viel.

Gab es nach der Promotion ein Fernziel? Das ist die Stelle, auf der ich gern mal in Rente gehen würde?

Damals ging es zunächst auch um Existenzfragen. Ich hatte mittlerweile eine kleine Familie. Ich habe mich an Universitäten beworben und in Siegen eine Stelle bekommen.

Bei Rainer Geißler.

Bei meinem älteren wissenschaftlichen Bruder, ja. Rainer Geißler war auch Doktorand bei Trappe gewesen und an Medien interessiert. Seine Dissertation habe ich in den „Schlüsselwerken“ vorgestellt (vgl. Pöttker 2002). Er hatte meine Dissertation gelesen und fand sie innovativ. Vieles von dem, was dort steht, prägt mich bis heute.

Zum Beispiel?

Dass man konfliktbereit sein sollte, Meinungsverschiedenheiten offen austragen, nicht hintenherum.

In den frühen 1980ern haben Sie sowohl Tagungen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) besucht als auch Tagungen der DGPuK. Wenn Sie die beiden Fachgesellschaften von damals vergleichen müssten: Wie würden Sie das machen?

Die Soziologie war damals schon ein großes Fach. Hunderte von Leuten. Bei meinen ersten DGPuK-Tagungen waren wir vielleicht 20 oder 30. Herr Saxer, Herr Wilke. Viel war das nicht. Ich bin immer noch Mitglied in beiden Fachgesellschaften, obwohl sie sich leider nicht als Lobbyorganisationen für eine wissenschaftlich fundierte Berufsbildung von Journalisten betätigen.

Nathalie Huber (2006) haben Sie erzählt, dass Klaus Merten Sie für die DGPuK vorgeschlagen hat. Wie kam es zu diesem Kontakt?

Ich hatte mich in Gießen beworben, auf eine Assistentenstelle.

Wo er eine Professur hatte.

Genau. Bevor ich nach Siegen gekommen bin. Die Stelle ging an Hauke Brunkhorst. Ich war auf dem zweiten Platz und hatte den Eindruck, dass Merten mir zugetan war.

Hat Sie als Redakteur von medium interessiert, was die Kommunikationswissenschaft so gemacht hat?

Ja, klar. Ich habe medium immer als Zeitschrift an der Grenze zwischen Journalismus und Wissenschaft gesehen und hatte viele Fachvertreter im Blatt. Einer hat mir mal erzählt, wenn ich das und das publiziere, würde das seine Chancen erhöhen, sich zu habilitieren.

Dann waren Sie ein Gatekeeper zu den Professuren.

Nein, nein. Das war ein Einzelfall. Wenn das so gewesen wäre, hätte ich nicht gleichzeitig ein Buch schreiben können (vgl. Pöttker 1997).

Die Habilschrift.

Ja. Ein rein soziologisches Buch. Medien kommen da nur am Rande aus soziologischer Perspektive vor.

Wie ist es zu der Gastprofessur in Leipzig gekommen?

Dorthin hat mich die Kirche geschickt.

Wie hat man sich das vorzustellen?

Die Zeitschrift medium hatte einen Beirat. In dem war auch Karl Friedrich Reimers, der Gründungsdekan in Leipzig. Die Kirche wollte sich am Neuaufbau des traditionsreichen, 1916 von Karl Bücher gegründeten Instituts beteiligen, aus dem in der DDR die Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität geworden war. Ich war wohl derjenige im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP), der am nächsten dran war an der Wissenschaft.

Mit welchem Ziel sind Sie nach Leipzig gegangen?

Ich hatte das Ende von medium schon in der Nase. Wenn die Zeitschrift so unabhängig hätte bleiben können, wie sie es war, dann hätte ich das gern bis zum Ruhestand weitergemacht. Ich habe dort auch nicht weniger verdient als später auf der Professur.

Wie das?

Ich wurde nach Journalistentarif bezahlt. Ich war verantwortlicher Redakteur und gehörte zum Leitungskreis des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik, als Leiter der kleinsten Abteilung. Der epd war die größte, mit Hans Hafenbrack als Chefredakteur.

Haben Sie von Leipzig aus weiter für medium gearbeitet?

Ja. Ich habe die Konzeption gemacht. Themenschwerpunkte zum Beispiel. Ich war weiter verantwortlich. Bei der Redaktionsarbeit gab es Hilfe, zuerst von Winfried Günther und später auch von Bärbel Röben.

Und Ihr Ziel in Leipzig?

Das war offen. Ostdeutschland hat mich interessiert. Ich wollte aktiv am Prozess der Wiedervereinigung teilnehmen. Dafür steht dann ja auch das Stilistik-Lehrbuch, an dem neben meinen Dortmunder Mitarbeitern Daniel Müller und bei der zweiten Auflage noch Martin Gehr von Anfang an auch zwei DDR-Kollegen beteiligt waren (vgl. Kurz et al. 2010).

Josef Kurz und Joachim Pötschke.

Genau. Die NRZ-Stiftung von Dietrich Oppenberg hat das Stilistik-Projekt gefördert. Ihr und Oppenbergs Nachfolger Heinrich Meyer verdanke ich die Förderung weiterer Projekte. Im Bereich Sprache und Stil hatten sich die Leipziger um Dinge gekümmert, die im Westen kaum behandelt worden waren. Jedenfalls nicht auf einer wissenschaftlichen Grundlage. Bei uns gab es Stilbücher von Praktikern.

Wolf Schneider (2001) zum Beispiel.

Das sind subjektive Stilvorlieben, ohne sprachwissenschaftliche Grundlage. Die besondere Leistung der DDR-Journalistik bei Stil und Darstellungsformen gilt für Osteuropa ganz allgemein. In der Sprachwissenschaft waren sie dem Westen überlegen. Dafür gab es weniger zur Recherche. Worüber man zu schreiben hatte, das wurde ja von der Partei geliefert. Dass man das dann aber verständlich macht und so der Ideologie hilft, ist letztlich eine sprachwissenschaftliche Frage. Ich dachte, dass man das nicht wegschmeißen darf. Auch nach unserem Verständnis sollen Journalisten mit ihren Informationen ja beim Publikum ankommen.

Sind Sie zufrieden mit der Resonanz auf diesen Versuch?

Nein. Das Buch hat sich zwar ganz gut verkauft, und es gab 2010 eine zweite, gründlich überarbeitete und erweiterte Auflage. Die erste ist 2000 erschienen. Sonst ist aber beim Umgang mit dem, was in Leipzig geleistet wurde, viel schiefgelaufen. Viele durften nicht weitermachen, obwohl sie es eigentlich verdient gehabt hätten. Bei manchen war es genau andersherum.

Können Sie das an Personen festmachen?

Hans Poerschke zum Beispiel hätte bleiben müssen. Er war 1990 der letzte Direktor der Sektion Journalistik, von den Studenten gewählt (vgl. Poerschke 2015). Ich habe die Texte gelesen, die er vor der Wende geschrieben hatte, diese grauen Heftchen zur Öffentlichkeitstheorie (vgl. Poerschke 1988/89). Er hatte erkannt, dass die DDR-Gesellschaft mehr Öffentlichkeit braucht, wenn sie erfolgreich sein will. Mehr von dem, wofür sich der altmodische, von Slavko Splichal wiederentdeckte englische Begriff „publicness“ anbietet.

Poerschke war und ist Marxist.

Wir brauchen auch diese Richtung, wenn wir ein pluralistisches Wissenschaftssystem haben wollen. Es ist ja nicht alles verkehrt, was Marx geschrieben hat. Er hat auch viel von Öffentlichkeit und Pressefreiheit gehalten (vgl. Pöttker 2001a: 57-107). 1968 habe ich geglaubt, ich sei Marxist. Ich hatte damals aber fast nur den jungen Marx gelesen. Die Pariser Manuskripte und das Kommunistische Manifest. Das Kapital hat mich nie so interessiert. Eher die philosophischen Texte. Oder die Kritik des Gothaer Programms, weil er dort fragt, was nach der Revolution kommen kann.

Wie viel Horst Pöttker steckt in den Studiengängen, die damals in Leipzig neu gestartet wurden?

Relativ wenig. Das haben ja Kollegen wie Kurt Koszyk und Günther Rager implementiert, die in den Kommissionen waren. Deshalb ging es in die Dortmunder Richtung. Ich kam erst im Oktober 1992 und konnte mich mit manchen Bedenken dann auch nicht durchsetzen.

Was waren das für Bedenken?

Ich fand die ausgedehnten Aufnahmeprüfungen nicht gut. Die haben das Institut wochenlang lahmgelegt (vgl. Haller 2017). Wenn wir das als Numerus clausus nach Abiturnoten gemacht hätten, wäre das Ergebnis am Anfang nicht viel anders gewesen. Später haben sich dann diejenigen mit guten Noten in Dortmund beworben und die anderen in Leipzig. Ich fand damals etwas anderes wichtig.

Was meinen Sie?

Wir wollten allen einen Abschluss ermöglichen, die ihr Studium noch in der DDR angefangen hatten. Auch denen aus dem Fernstudium. Ich hatte zum Beispiel mit einer Olympiasiegerin zu tun, die im Fernstudium war. Sie wollte eine Hausarbeit über Theodor Geigers Journalismusauffassung schreiben.

Hat es Sie nicht gereizt, in Leipzig zu bleiben?

Doch. Ich habe mich ja sogar beworben. Plötzlich hatte ich drei Optionen innerhalb von einer Woche.

Drei?

Lüneburg. Das war eine C3 für Printmedien. Die Stelle, die Verena Blaum dann bekommen hat. Dortmund per Brief und Leipzig. Zweimal C4.

Dann war das nicht die Ethik-Dozentur.

Nein. Der Journalistik-Lehrstuhl. Wenn ich mich richtig erinnere, dann war die Liste Weischenberg, Pöttker, Haller. Weischenberg hat den Ruf abgelehnt. Danach wurde ich angesprochen.

Sind Sie immer noch zufrieden, dass Sie sich damals für Dortmund entschieden haben?

Nein. Die Universität Dortmund hat sich völlig anders entwickelt, als ich mir das vorgestellt habe. Damals war ein Germanist, Albert Klein, der Rektor, und es gab einen Journalistik-Studiengang mit einem integrierten Volontariats-Praktikum in der Mitte des Studiums.

Was ist dann passiert?

Die Uni wurde 2007 zur Technischen Universität, auf Betreiben des mittlerweile von einem Mathematiker geleiteten Rektorats und der MINT-Fächer, mit der denkbar knappsten dafür nötigen Mehrheit im Senat. Schon in der Zeit wollte man die Geschichtswissenschaft und das Historische Institut abschaffen. 2011 ist das dann tatsächlich gemacht worden, nachdem unsere Fakultät in Kooperation mit der Ruhr-Universität Bochum neue historische Studiengänge konzipiert hatte, die auch erfolgreich evaluiert worden waren. Man kann jetzt in Dortmund nicht mehr Geschichte als zweites Fach studieren.

Fatal für zukünftige Journalisten

Auch für künftige Lehrer. Dafür gibt es mittlerweile acht Journalistik-Studiengänge.

Acht?

Neben dem generellen noch Wissenschafts-, Musik- und wirtschaftspolitischen Journalismus, jeweils als BA und MA und mit einem dafür besonders verantwortlichen Hochschullehrer. Eine Ausdifferenzierung, die überall im Wissenschaftsbetrieb grassiert, von der ich aber bei der Ausbildung für den Vermittlerberuf Journalismus nicht überzeugt bin. Meine Denomination war und ist Theorie und Praxis des Journalismus.

Sie haben öffentlich gegen die Abschaffung des Fachs Geschichte protestiert.

Protestiert ist übertrieben. Ich war Dekan der Kulturwissenschaftlichen Fakultät, zu der das Historische Institut gehörte. Die Lokalpresse hat mich gefragt, und ich habe mich mit dem Satz zitieren lassen, dass es schwer zu vermitteln sei, wenn eine deutsche Universität mit dem Schwerpunkt Lehrerbildung ausgerechnet auf das Fach Geschichte verzichtet.

Das klingt nicht gut.

War es nicht, ein Konflikt, der wohl nicht zu gewinnen war. Wirklich kein Vergnügen, auch wegen der vergeblichen Mühe, die in den Papieren steckte, die ich in den sechs Jahren dieser Auseinandersetzung geschrieben habe.

Können wir noch einmal zurückgehen zu Ihren Anfängen in Dortmund?

Gern.

Günther Rager (2015) hat von „klaren Fronten“ am Institut berichtet und vermutet, er sei dort der erste Professor ohne SPD-Mitgliedsbuch gewesen. Wie haben Sie die Atmosphäre erlebt?

Ich war bis 2013 in keiner Partei. Dann bin ich in die FDP eingetreten. Mich hat gestört, dass die liberale Farbe nicht mehr im Bundestag vertreten war. Ich bin da aber nicht besonders aktiv. Die Partei müsste an einer Weiterentwicklung der Theorie des politischen Liberalismus arbeiten. John Rawls beeindruckt mich (vgl. Rawls 1998). Anders als Habermas setzt er voraus, dass es vernünftige Konzeptionen gibt, die nicht miteinander vereinbar sind und deshalb nebeneinander existieren können müssen. Vielleicht ist das angelsächsischer Pragmatismus. Vernünftiger Diskurs muss nicht zur Öffentlichen Meinung als Ausdruck des Gemeinwohls führen. Diese Einsicht erfordert Konfliktbereitschaft, aber auch Toleranz im Sinne von Leidensfähigkeit.

Zurück zur Atmosphäre in Dortmund.

Ich habe das nicht so empfunden wie Günther Rager, aber ich kam ja auch später. Vielleicht war das in den 1970ern und 1980ern anders. Kurt Koszyk hatte eine Nähe zur SPD, keine Frage. Für seine wissenschaftliche Tätigkeit hat das aber keine Rolle gespielt. Wie er stand ich für eine Sozialwissenschaft mit historischer Perspektive. Am Anfang meinte er, ein Soziologe werde im Institut für Journalistik nicht gebraucht. 1996 kam er aber zu meiner Antrittsvorlesung (vgl. Pöttker 1998). Später haben wir uns sehr gut verstanden. Ich habe seine runden Geburtstage ausgerichtet (vgl. Pöttker/Toepser-Ziegert 2010) und ihn regelmäßig in München besucht. Und er hat sich 2013 bei meinem Abschied in Dortmund noch einmal öffentlich geäußert.

Haben Sie ein Beispiel für Ihre Perspektive?

Die Studie zur Entstehung der Nachrichtenform im Journalismus (vgl. Pöttker 2005a). Ich mag es, wenn wir in unserer Forschung Thesen klar stützen oder falsifizieren. Da ist wohl etwas von meiner Vergangenheit in der Mathematik geblieben.

Ist das in der Studie gelungen?

Ich glaube ja. Dort wird die Annahme widerlegt, die Nachrichtenform sei im amerikanischen Bürgerkrieg entstanden, weil die Telegrafentechnik unzuverlässig war. Das finden Sie in jedem Lexikon.

Aber es stimmt nicht.

Nein, es stimmt wirklich nicht. Ich habe in Iowa Zeitungen des 19. Jahrhunderts untersucht. Im Bürgerkrieg ändert sich da nicht viel. Durchgesetzt hat sich die Nachrichtenpyramide erst in den 1880er-übrigJahren. Erst da fängt man an, die Texte für das Publikum aufzubereiten. Kürzer, mit Überschriften. Das hat auch ökonomische Gründe. Und es ist natürlich für die Journalistenausbildung ein Unterschied, ob man die Entstehung einer zentralen professionellen Technik aus äußeren technologischen Gegebenheiten erklärt oder von innen, aus der Aufgabe des Berufs.

Der Historiker Horst Pöttker als Naturwissenschaftler.

Mir ist trotzdem wichtig, dass wir uns in den Sozial- und Kulturwissenschaften nicht am Modell der Natur- und Technikwissenschaften orientieren. Wir glauben viel zu oft an Zahlen und unumstößliche Gesetzmäßigkeiten. Die gibt es nur in der Natur, in dem, was der Mensch vorfindet. Kultur, materielle wie immaterielle, auch Normen, Werte, Sprache: All das hat eine ganz andere Dimension als Natur. Was Menschen hervorbringen, das wandelt sich, das hat Geschichtlichkeit. Um die Gegenwart zu verstehen, muss man die Vergangenheit kennen, aus der sie hervorgegangen ist.

Wie sind Sie damit bei den Studierenden in Dortmund angekommen?

Es gibt immer Einzelne, die die historische Perspektive mögen. Die Geschichte war ja der Grund, warum die Journalistik überhaupt nach Dortmund gekommen ist. Kurt Koszyk hatte vorher das Institut für Zeitungsforschung der Stadt geleitet. Davon ist heute nicht viel übrig geblieben. Ich habe die neuen Studierenden immer in dieses Institut geschickt. Dort kann man zur Geschichte des Berufs forschen. Claus Eurich hat das auch so gemacht.

Heute wandert die Journalistenausbildung nach und nach an Fachhochschulen ab (vgl. Meyen 2017). Kann die Universität keine Journalisten ausbilden?

Sie kann das und sie sollte das. Gerade heute, in der Krise, in die der Beruf durch die Digitalisierung geraten ist. Wir sollten dazu forschen, wie sich der Journalismus ändern muss, damit er eine Zukunft hat. Das beschränkt sich nicht auf digitale Darstellungsformen. Die komplexe Gesellschaft mit ihren vielen Kommunikationsbarrieren braucht einen Beruf, der dazu da ist, Öffentlichkeit herzustellen. Keinen öffentlichen Stammtisch im Netz, sondern professionell hergestellte. Wichtige, richtige und faire Informationen für möglichst viele Menschen.

Das ist Werbung für den Journalismus.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dieser Beruf notwendig ist. Wie will ich mein Leben auf der Höhe der Möglichkeiten gestalten, wie Gefahren vermeiden, wenn ich keinen freien Zugang zu verlässlichen Informationen darüber habe, welche Möglichkeiten und Gefahren es gibt? Gerade jetzt, in der Krise, brauchen wir sowohl Forschung als auch Ausbildung für diesen Beruf, auch im Interesse der gesellschaftlichen Selbstregulierung.

Sie selbst sind auch hinausgegangen aus der Universität, zum Beispiel mit der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA). Brauchen Sie das Rampenlicht der Öffentlichkeit?

Mein Ehrgeiz in diese Richtung ist begrenzt. Öffentlichkeit ist zwar notwendig, aber Medienpräsenz kann auch zeitraubend und anstrengend sein. Ich muss mich manchmal dazu zwingen. Sind Sie sicher, dass es uns gelungen ist, mit der INA über die Universität hinauszukommen? Die Initiative hat Peter Ludes in Siegen gegründet. Ich war schon bei der ersten Tagung 1997 dabei. Journalismus soll informieren, Gegenstände beleuchten, Dinge sichtbar machen: Es gibt eine Grundpflicht zum Publizieren. Die Kritik, etwas Relevantes wegzulassen, muss Journalisten deshalb besonders hart treffen, härter als beispielsweise der Vorwurf, etwas aufzubauschen. Journalisten sind keine Pädagogen. Sie müssen von einem mündigen Publikum ausgehen.

Sie haben Peter Ludes dann abgelöst.

Er ist nach Bremen berufen worden, an die Jacobs Universität, und hat mich gefragt, ob ich das machen will. Ich bin mit meinem alten Audi nach Siegen gefahren und habe die 20 Aktenordner der INA nach Dortmund geholt. Peter Ludes hatte die Idee aus Amerika mitgebracht.

Project Censored.

Am Anfang und auch am Ende meiner Tätigkeit für die INA gab es dahin intensive Kontakte. Ich habe das bis zur Pensionierung gemacht an meinen früheren Mitarbeiter Tobias Eberwein übergeben, der in der INA gearbeitet hatte und sie mit meiner Zustimmung an Hektor Haarkötter in Köln weitergegeben hat. Dort ist auch die richtige Medienumgebung. Der Deutschlandfunk ist jetzt Partner, was ich sehr begrüße.

Ist die Journalistik in Deutschland an den falschen Orten?

Ja, definitiv. Wenn das Fach schon so klein ist wie in Deutschland, müsste es wenigstens an großen Volluniversitäten sein, wo es alle Fächer gibt, die für das Sachwissen infrage kommen. Und außerdem braucht man Qualitätsmedien vor Ort und vielleicht auch ein Parlament. Berlin, Wien, Hamburg, München, Köln. Vielleicht noch Frankfurt am Main.

Deshalb also im Rückblick lieber Leipzig.

Ja. Darüber habe ich mir damals aber keine Gedanken gemacht. Ich dachte, das Fach wird ohnehin wachsen. Das war dann nicht der Fall. Stattdessen wird es immer praktizistischer.

Wie haben Sie die Plagiatsaffäre um Marc Jan Eumann erlebt?

Die überschattet bis heute meinen ziemlich unruhigen Ruhestand und ist immer noch anstrengend. In der Affäre um Eumanns Dissertation hat mich die Universität nur so weit beschützt, wie es die Fürsorgepflicht gerade noch zuließ. Ich musste mir einen Anwalt nehmen und habe die Prozesse gegen WAZ und Bild-Zeitung wegen falscher Behauptungen über mich in der Sache gewonnen, bei der WAZ sogar mit einem Anerkennungsurteil.

Was macht es anstrengend?

Eigentlich müsste meine akademische Umgebung ja wissen, wie das gelaufen ist. Ich habe die Presseprozesse gewonnen. Da ist nichts mehr im Netz. David Schraven musste seine Behauptungen löschen. Ich konnte eindeutig belegen, dass ich vom Thema der Magisterarbeit nichts wusste, obwohl ich Eumann danach gefragt hatte.

Kern des Vorwurfs war, dass sich die Dissertation auf Eumanns eigene Magisterarbeit stützt.

Man darf sich ja darauf stützen, aber nur mit wesentlichen Innovationen und wenn man die Magisterarbeit als Quelle angibt. Beides war bei Eumann nicht der Fall. Als ich davon durch die Rezension von Arnulf Kutsch in der Publizistik erfuhr, habe ich nicht nur die Kommission für gute wissenschaftliche Praxis der TU Dortmund sofort informiert und eine Prüfung beantragt. Ich habe auch Eumann einen Brief geschrieben und ihn gefragt, warum er mir die Magisterarbeit verheimlicht hat. Er hat das in seiner Antwort nicht bestritten. Ich wäre auch mit dem Klammerbeutel gepudert gewesen, dieses Buch in die Reihe „Öffentlichkeit und Geschichte“ zu bringen, wenn ich die Übereinstimmung zwischen Dissertation und Magisterarbeit auch nur geahnt hätte (vgl. Eumann 2011).

Sieht das Ihre Umgebung anders als die Gerichte?

So kann man es sagen. Trotz eines gegenteiligen Gutachtens des Ombudsmanns der DFG, des Bonner Rechtswissenschaftlers Wolfgang Löwer, hat meine Fakultät den Titel nicht aberkannt, obwohl ich dringend dazu geraten habe. Das habe ich öffentlich kritisiert, als mich die FAZ danach gefragt hat (vgl. Burger 2014). Ich habe den Eindruck, dass meine Kollegen mir das bis heute übelnehmen.

Wie kommt ein Dortmunder Professor nach Rostow am Don und Stawropol?

Das ist ganz einfach. Es gibt eine Städtepartnerschaft zwischen Dortmund und Rostow, dazu gehören auch die Universitäten. Ab Ende der 1990er-Jahre, als Geschäftsführender Direktor des Instituts für Journalistik, habe ich, wie vor mir Günther Rager, gegenseitige Besuche organisiert. Wir haben uns mit den Rostowern gut verstanden und gemeinsam Projekte angefangen.

Das Deutsch-russische Wörterbuch der Journalistik.

Zum Beispiel. Wir haben gemeinsam Tagungen über Heine und Puschkin als Journalisten gemacht, und ich bin mindestens einmal im Jahr nach Rostow geflogen, um dort zu unterrichten. 2004 auch einmal gefahren. Es gibt ein gemeinsames Buch über journalistische Genres (vgl. Bespalova et al. 2010) und eins über Schriftsteller, die im 19. Jahrhundert auch als Journalisten gearbeitet haben (vgl. Pöttker/Stanko 2016). Immer zweisprachig.

Und Stawropol?

Wenn man in Russland auf Tagungen ist, lernt man natürlich auch andere Kollegen kennen. In meinen letzten Dortmunder Jahren hatten wir einen offiziellen Studenten- und Dozentenaustausch mit St. Petersburg, auf DAAD-Basis. Mit Kolleginnen und Kollegen aus Stawropol arbeite ich jetzt an einer Fortsetzung des Buchs zu den Schriftsteller-Journalisten, dieses Mal im 20. Jahrhundert, von Karl Kraus bis Solschenizyn.

Sie haben Ihre Pensionierung so weit wie möglich hinausgeschoben.

Ich habe dreimal um ein Jahr Verlängerung gebeten. Dem wurde stattgegeben.

Was treibt Horst Pöttker an? Sie haben im Alter von 70 Jahren eine Seniorprofessur in Hamburg angetreten und gerade noch eine Fachzeitschrift gegründet.

Ich habe das Glück, dass es mir physisch recht gut geht. Ich wandere im Sommer immer noch durch die Athos-Klöster oder auf den französischen Jakobswegen. Es geht mir gut, glaube ich, weil ich so viel arbeite. Und nicht umgekehrt. Stress ist nicht nur ungesund.

Und sonst?

Ich habe kein Hobby. Keine Briefmarkensammlung und keinen Garten, den ich umgraben müsste. Ich tue das, was mir Freude macht. Viel lesen, Seminare, Vorträge, Aufsätze. Neben Leidensfähigkeit und Menschenliebe gehört eine sinnvolle Tätigkeit zum guten Leben. Die Arbeit als Lehrender und Forschender für den Journalistenberuf halte ich für außerordentlich sinnvoll, gerade heute, wo er sich wandeln muss.

Also kein missionarischer Antrieb oder der Wunsch, das eigene Werk zu bündeln und so weiterleben zu lassen.

So etwas habe ich einmal gemacht, mit meinen Texten zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus (Pöttker 2005b). Vorher habe ich Hans Bohrmann gefragt, ob sich das lohnt. Für mich war das Thema damit abgeschlossen. Ich bin ein Aufsatzschreiber geblieben, mich interessiert fast alles am Journalismus. Wenn ich etwas herausgefunden habe, genügt mir das, ich muss es nicht noch zu einem Lehrbuch oder Standardwerk zusammenfassen, um zitiert zu werden.

Also kein Buch mehr?

Zwei Ideen habe ich noch. Eine Geschichte des Journalistenberufs, nicht der Medien, von Daniel Defoe und Joseph Addison bis zur Gegenwart, und eine systematische Berufsethik des Journalismus. Dazu gibt es Vorarbeiten (vgl. z.B. Pöttker 2012, 2013, 2018). Journalistik als Wissenschaft kann die Berufsethik ja nicht einfach einem Branchenorgan wie dem Deutschen Presserat überlassen. Buchprojekte haben etwas Stabilisierendes. Das kann man sicher auch im Alter gut gebrauchen.

Wir müssen noch über die Aviso-Affäre sprechen (vgl. Pöttker 2001b, Haller 2017).

Irgendwie ziehe ich Konflikte an. Das hat auch mit meiner Dissertation zu tun. Dort habe ich ja begründet, warum man Konflikte nicht scheuen sollte. Manchmal muss ich mich dazu zwingen. Ich vertrage mich auch lieber mit Leuten.

Marc Jan Eumann, das Fach Geschichte.

Es gab auch einen Konflikt mit der evangelischen Kirche.

Worum ging es dabei?

Sie haben die Zeitschrift medium eingestellt und mir gekündigt.

In der Leipziger Zeit?

Ja. Ich hatte schon angefangen, mich auf Professuren zu bewerben. Es ging bei der Kirche um die Zuschüsse, aber auch um Inhalte. Manche – nicht im GEP, aber von Gremien außerhalb – warfen mir vor, kirchenkritischen Stimmen ein Forum zu geben oder Fakten zu nennen, die der Kirche schaden. Dazu kam eine Abmahnung, weil ich der katholischen Funk-Korrespondenz etwas Falsches über die Auflagenentwicklung bei medium gesagt haben sollte.

War es falsch?

Nein, es stimmte genau. Das konnte ich mit Daten belegen, die ich vom Vertrieb des GEP hatte. Sie zogen die Abmahnung zuerst zurück und schickten nach zwei Wochen eine neue. Verrat von Betriebsgeheimnissen. Eigentlich muss man korrekte Auflagendaten jedem Anzeigenkunden geben.

Unerfreulich.

Ja, kann man sagen. Sie hatten eine schlechtere Auflagenentwicklung angegeben als sie tatsächlich war. Ich hatte ihnen noch mitgeteilt: Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich bald eine Professur bekomme. Wenn ihr mir nicht kündigt, spart ihr Geld und einen Streit vor Gericht. Ruft in den Unis an. Eine Woche später kam die Kündigung. Den Prozess habe ich gewonnen und eine schöne Abfindung bekommen. Ich bin aber in der Kirche geblieben. Zehn Jahre später gab es einen versöhnlichen Vorgang. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass Hans Hafenbrack 2005 für seine Geschichte des Evangelischen Pressedienstes die Ehrenpromotion der Universität Dortmund bekommt. Er hat darin die Verstrickung des epd in das NS-Regime aufgedeckt und die Lügen, mit denen sein Vor-Vorgänger Focko Lüpsen nach 1945 eine Lizenz der englischen Besatzungsmacht erschlichen hat.

Gibt es Wissenschaftler oder Journalisten, die Sie als Ihre Vorbilder bezeichnen würden?

Theodor Geiger. Ich habe ihn nie kennengelernt. Aber Geiger ist eine Art akademischer Großvater, den ich meinem Doktorvater Paul Trappe verdanke. Ein kreativer, selbstständig denkender Gesellschaftskritiker mit einer verständlichen Sprache. Mir war immer klar, was er will. Ich finde nicht alle seine Argumente richtig, kann sie aber immer verstehen. Geiger hatte einen normativen Hintergrund, war aber trotzdem Empiriker. Die Festschrift für Rainer Geißler hat den Titel Kritische Empirie (vgl. Pöttker/Meyer 2004). Dem kann man nacheifern.

Und sonst?

Arnold Künzli. Ich hatte das Glück, ihn in Basel kennenzulernen. Bei ihm konnte ich sehen, dass Journalismus und Wissenschaft in einer Person sich nicht ausschließen. Bei den Journalisten steht bei mir Heinrich Heine auf dem ersten Platz, wie bei den meisten deutschen Chefredakteuren (vgl. Langenbucher/Wettstein 2010). Als Pariser Korrespondent der Allgemeinen Zeitung hat Heine schon vor dem Nachrichtenparadigma einen unabhängigen, kritischen, gleichzeitig erklärenden, ästhetisch ankommenden Journalismus praktiziert, in dem heute möglicherweise wieder die Zukunft liegt.

Wenn Sie auf ein halbes Jahrhundert in Journalismus, Journalistik und Kommunikationswissenschaft zurückblicken: Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

In all meinen Konflikten ging es darum, dass ich ziemlich deutlich gesagt habe, was ich für Wahrheit oder jedenfalls für richtig halte, auch wenn ich damit rechnen musste, dass andere es nicht gern hören. Ich habe mich da nie kleinkriegen lassen, bis zu dem FAZ-Interview über den Eumann-Fall, in dem ich mich nicht gescheut habe, auch meine eigene Fakultät zu kritisieren. Im Vergleich mit anderen prominenten Plagiatsfällen ist der Fall viel eindeutiger. Es ist auch kein akademischer Zopf, dass eine Dissertation innovativ sein muss. Davon leben wir in dieser Gesellschaft. Wir haben wenig Rohstoffe und billige Arbeitskräfte. Wir leben von Wissen und von kreativer Wissenschaft.

Und andersherum: Gibt es etwas, was Sie heute anders machen würden?

Wie meinen Sie das? Inhaltlich?

Das ist ganz offen.

Wenn ich damals gewusst hätte, wie sich die Universität in Dortmund entwickelt, dann wäre ich wohl nach Leipzig gegangen. Eine Volluniversität, sogar mit Tiermedizin, an der es auch das Fach Geschichtswissenschaft gibt. Umfassende Berufsbildung von Journalisten auf wissenschaftlicher Grundlage ist für unsere Gesellschaft enorm wichtig. In den USA sieht man heute, was es bedeutet, wenn viele Journalisten an Universitäten ausgebildet werden. Neben unabhängigen Richtern sind unabhängige Journalisten dort das Gegengewicht zur Trump-Exekutive.

Dann geht es Ihnen vor allem um den Kontext, in dem die Ausbildung stattfindet.

Nicht vor allem, aber auch. Nehmen wir das Beispiel Wien. Ich habe hier eine Tagung veranstaltet, bei der es um einen europäischen Presserat ging (vgl. Pöttker/Schwarzenegger 2010). Das Buch haben wir in der Redaktion des Standard vorgestellt. Da waren 100 Leute, ohne große Mühe. Wenn Sie so etwas in Dortmund machen, müssen Sie sich schon anstrengen, um nennenswertes Publikum zu bekommen. Ich weiß das von einer Vortragsreihe im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte, die ich mit ein paar Kollegen gestartet habe, nachdem das Ende des Historischen Instituts an der TU beschlossen war.

Zu welchen Kolleginnen und Kollegen hatten oder haben Sie einen besonders guten Draht?

In der Journalistik?

Ja.

In meiner Dortmunder Kohorte zu Jürgen Heinrich, was auch fachliche, aber mehr noch persönliche Gründe hat. Auch zu Hans Bohrmann und Gerd Kopper. Klaus Meier war leider nur kurz in Dortmund, seine persönlichen Gründe für den Wechsel nach Eichstätt konnte ich gut verstehen.

Und jenseits von Dortmund?

Zu Gunter Reus in Hannover und Roger Blum, früher in Bern. Ich war oft beim Mediensymposium Luzern. Auch in diesem Herbst wieder. Und dann natürlich die vier, mit denen ich jetzt die Zeitschrift Journalistik gestartet habe: Bernhard Debatin, Petra Herczeg, Gabriele Hooffacker, Tanjev Schultz.

Was ist mit Wolfgang Langenbucher?

Wir teilen das Interesse an journalistischen Persönlichkeiten und an der Bedeutung des Judentums für die Entwicklung des modernen Journalismus. In Wien muss ich auch Fritz Hausjell und Wolfgang Duchkowitsch nennen. Auch mit Siegfried Weischenberg verstehe ich mich. Vielleicht gerade weil er systemtheoretisch orientiert ist und ich eher handlungstheoretisch. Anlässlich seiner beiden Max-Weber-Bücher habe ich einen Aufsatz über Weber als Klassiker der Journalistik fabriziert (vgl. Pöttker 2015). Im Übrigen sind wir beide HSV-affin. Auch zu Alexander von Hoffmann, der ebenfalls in Hamburg gelebt hat, hatte ich ein gutes Verhältnis.

Der Modellversuch Journalistenweiterbildung an der FU Berlin.

Das war wegweisend. Journalistische Fortbildung wäre auch heute wichtig, zumal Weiterbildung zu den Kernaufgaben von Hochschulen gehört. Dann kann ich noch Jan Tonnemacher nennen, dem ich schon in Basel begegnet bin, und seinen Eichstätter Kollegen Walter Hömberg, mit dem mich gemeinsame Interessen verbinden. Im Übrigen bewege ich mich in einer internationalen Gelehrtenrepublik. Kein Wunder bei einem Fach, das in Deutschland so mickrig ist wie die Journalistik.

Wer gehört zu dieser Republik?

Kenneth Starck in Iowa (vgl. Pöttker/Starck 2003). Die Ausstattung der Journalistik-Abteilung dort ist besser als alles, was ich bisher an deutschen Universitäten gesehen habe. Dann Slavko Splichal. Ich nehme seit 15 Jahren am Euricom-Colloquium an der Universität Ljubljana teil. Olga Lepilkina, Anatol Serebriakow und seine Frau Svetlana in Stawropol. Ich komme gerade vom Unterricht dort zurück. Svennik Høyer in Oslo (vgl. Høyer/Pöttker 2005). Mitchell Stephens in New York. Ich bin ihm in Russland begegnet. Wir teilen die Überzeugung, dass es in der digitalen Medienwelt um erklärenden Journalismus geht (vgl. Stephens 2014). Bob Franklin und Martin Conboy in Sheffield habe ich bisher nicht persönlich kennengelernt, stehe mit ihnen aber in produktivem Fernkontakt.

Und umgekehrt: Gab es Gegner, Konkurrenten, Feinde?

Muss ich mich dazu äußern?

Natürlich nicht.

Ich habe mal einen Aufsatz publiziert zur Schweigespirale (vgl. Pöttker 1993). Ein Vergleich der Theorie von Elisabeth Noelle-Neumann mit der Kritik der Öffentlichen Meinung von Ferdinand Tönnies (1922). Ich bekam daraufhin ein riesiges Literaturpaket von ihr. So hat sie das wohl immer gemacht. Wenn man sie kritisiert hat, wollte sie einen überzeugen.

Das ist nicht unsympathisch.

Natürlich nicht. Trotzdem gab es erhebliche Divergenzen. Wir alle kennen das Phänomen der Schweigespirale. Elisabeth Noelle-Neumann hält dies Phänomen für „unsere soziale Haut“ (vgl. Noelle-Neumann 1980) und delegitimiert so Konflikte. Diese normative Perspektive scheint mir nicht mit dem demokratischen, in der Aufklärung wurzelnden Menschenbild vom mündigen Bürger vereinbar. Nach dem Aviso-Text kam die Kritik an Haller und mir vor allem aus der Mainzer Richtung. Manche dachten, dass wir in der DGPuK nichts mehr verloren hätten. Zum Glück gab es Kolleginnen und Kollegen, die sich mit uns solidarisiert haben. Oder besser: die Kritik am unehrlichen Umgang mit der Rolle der Zeitungswissenschaft im NS-Regime geteilt haben. Dafür bin ich dankbar.

Was bleibt von Horst Pöttker in der Journalistik, in der Kommunikationswissenschaft? Was sollte bleiben, wenn Sie beeinflussen könnten, was bleibt?

Nathalie Huber (2006) habe ich gesagt: der Beitrag im Aviso und das, was ich damit ausgelöst habe. Jetzt gibt es eine wissenschaftliche Zeitschrift des berufsorientierten Fachs Journalistik. Deutsch und Englisch, frei zugänglich, als Herausgeber-Zeitschrift ohne Peer Review und nicht nur mit quantitativer Empirie nach dem Modell der Naturwissenschaften (www.journalistik.online). Die wird hoffentlich bleiben. Vielleicht auch meine Untersuchung zur Entstehung der Nachrichtenform. Die gibt es ja auch auf Deutsch (vgl. Pöttker 2003).

Also doch auch ein Stück des Werks.

Ich hoffe eigentlich auch, dass meine Habil-Schrift einmal besser rezipiert wird (vgl. Pöttker 1997). Dort habe ich etwas über Probleme moderner Gesellschaften gesagt. Selbstregulierung beruht nicht zuletzt darauf, dass Interaktion funktioniert, auch zwischen Personen und Institutionen. Aber nicht alles, an dem zwei Seiten beteiligt sind, ist Interaktion. Zur Interaktion gehört, dass Handlungssubjekte an die Folgen ihrer Handlungen für diejenigen denken, auf deren Verhalten sich der subjektive Sinn ihrer Handlungsweisen bezieht. Man sollte also folgenreflexiv handeln. Journalistische Medien sollten Folgenreflexivität ermöglichen und stärken. So kann man den journalistischen Aufklärungsauftrag auch verstehen.

Ist das der zentrale Gedanke?

Ja. Moderne Institutionen, Bürokratien signalisieren permanent, dass die Handlungen ihrer Kunden oder Klienten keine Folgen für sie haben können. Tut uns leid, wir verstehen Ihr Anliegen, aber wir haben unsere Vorschriften. Sie folgen ihrer eigenen Logik. Das führt zur Entfremdung, wie gegenüber Maschinen und Apparaten. Kompensiert wird das durch Interaktions-Illusionen.

Deshalb der Titel: Entfremdung und Illusion (Pöttker 1997).

Damals, als ich die Idee in den 1980er-Jahren entwickelte, ging es noch nicht so sehr um Computer und deren Kommunikation im Netz. Es gab aber schon den Nachrichtensprecher, der uns einen schönen Abend wünscht, obwohl er uns gar nicht kennt. Auf die Habil-Schrift bin ich aber auch jenseits des Inhalts stolz. Nicht nur, weil sie bei Mohr Siebeck in der Reihe „Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften“ erschienen ist. Ich war damals hauptberuflich Journalist und Redakteur und habe gleichzeitig dieses wissenschaftliche Buch geschrieben.

Literaturangaben

  • Alla G. Bespalova/Evgenij A. Kornilov/Horst Pöttker (Hrsg.): Journalistische Genres in Deutschland und Russland. Handbuch. Köln: Herbert von Halem 2010.
  • Reiner Burger: Doktorvater: Ich fühle mich von Eumann getäuscht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. April 2014.
  • Jan Marc Eumann: Der deutsche Presse-Dienst. Nachrichtenagentur in der Britischen Zone 1945-1949. Die Geschichte einer Medieninstitution im Nachkriegsdeutschland. Köln: Herbert von Halem 2011.
  • Michael Haller: Wir müssen Journalismus normativ fundieren. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2017.
  • Svennik Høyer/Horst Pöttker (Hrsg.): Diffusion of the News Paradigm 1850-2000. Göteborg: Nordicom 2005.
  • Nathalie Huber: Interview mit Horst Pöttker, 24. Februar 2006.
  • Josef Kurz/Daniel Müller/Joachim Pötschke/Horst Pöttker/Martin Gehr: Stilistik für Journalisten. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2010.
  • Wolfgang R. Langenbucher/Irmgard Wetzstein: Der real existierende Hochkulturjournalismus. Über Personen, Werke und einen Kanon. In: Tobias Eberwein/Daniel Müller (Hrsg.): Journalismus und Öffentlichkeit. Eine Profession und ihr gesellschaftlicher Auftrag. Festschrift für Horst Pöttker. Wiesbaden: VS Verlag 2010, S. 387-409.
  • Michael Meyen: Die Journalistikstudiengänge verlassen die Universität. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2017.
  • Michael Meyen/Maria Löblich: „Ich habe dieses Fach erfunden“. Wie die Kommunikationswissenschaft an die deutschsprachigen Universitäten kam. 19 biografische Interviews. Köln: Herbert von Halem 2007.
  • Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut. München: R. Piper & Co.
  • Hans Poerschke: Sozialistischer Journalismus. Ein Abriss seiner theoretischen Grundlagen. Manuskript, mehrere Teile. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1988/89.
  • Hans Poerschke: Ich habe gesucht. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.
  • Horst Pöttker: Beiträge der anarchistischen Literatur zu einer Theorie der sozialen Basisprozesse. In: SSIP-Mitteilungen H. 28/29 (1971), S. 2-21.
  • Horst Pöttker: Zum demokratischen Niveau des Inhalts überregionaler westdeutscher Tageszeitungen: Wissenschaftstheorie und Methodologie – Normative Theorie der Demokratie – Quantitative Inhaltsanalyse. Hannover: SOAK 1980.
  • Horst Pöttker: Ferdinand Tönnies und die Schweigespirale. Zur Mutation einer Theorie über die öffentliche Meinung. In: Günter Bentele/Manfred Rühl (Hrsg.): Theorien öffentlicher Kommunikation. Problemfelder, Positionen, Perspektiven. München: Ölschläger 1993, S. 202-213
  • Horst Pöttker: Entfremdung und Illusion: Soziales Handeln in der Moderne. Tübingen: Mohr Siebeck 1997.
  • Horst Pöttker: Öffentlichkeit durch Wissenschaft. Zum Programm der Journalistik. In: Publizistik 43. Jg. (1998), S. 229-249.
  • Horst Pöttker (Hrsg.): Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Klassiker der Sozialwissenschaft über Journalismus und Medien. Konstanz: UVK 2001a.
  • Horst Pöttker: Mitgemacht, weitergemacht, zugemacht. Zum NS-Erbe der Kommunikationswissenschaft in Deutschland. In: Aviso Nr. 28 (2001b), S. 4-7.
  • Horst Pöttker: Rainer Geißler (1973): Massenmedien, Basiskommunikation und Demokratie. Ansätze zu einer normativ-empirischen Theorie. Tübingen: J.C.B. Mohr. In: Christina Holtz-Bacha/Arnulf Kutsch (Hrsg.): Schlüsselwerke für die Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 152-155.
  • Horst Pöttker: Nachrichten und ihre kommunikative Qualität. Die „Umgekehrte Pyramide“ – Ursprung und Durchsetzung eines journalistischen Standards. In: Publizistik 48. Jg. (2003), S. 414-426.
  • Horst Pöttker: The news pyramid and its origin from the American journalism in the 19th century. A professional approach and an empirical inquiry. In: Svennik Høyer/Horst Pöttker (Hrsg.): Diffusion of the news paradigm 1850-2000. Göteborg: Nordicom 2005a, S. 51-64.
  • Horst Pöttker: Abgewehrte Vergangenheit. Beiträge zur deutschen Erinnerung an den Nationalsozialismus. Köln: Herbert von Halem 2005b.
  • Horst Pöttker: Öffentlichkeit und Moral. Zu Kernproblemen journalistischer Berufsehtik. In: Michael Zichy/Jochen Ostheimer/Herwig Grimm (Hrsg.): Was ist ein moralisches Problem? Zur Frage des Gegenstandes angewandter Ethik. Freiburg: Alber 2012, S. 268-292.
  • Horst Pöttker: Öffentlichkeit oder Moral? Über den inneren Widerspruch des journalistischen Berufsethos am Beispiel des deutschen Pressekodex. In: Publizistik 58. Jg. (2013), S. 121-139.
  • Horst Pöttker: Max Weber als Klassiker der Journalistik und Kommunikationswissenschaft. In: r:k:m vom 15. Juli 2015.
  • Horst Pöttker: „Enteignet Springer“. Ostern 1968 eskalierten die Proteste gegen den mächtigen Zeitungsverlag. In: Anno18. Das Magazin der Medienjubiläen. Bamberg: Institut für Kommunikationswissenschaft 2018, S. 30f.
  • Horst Pöttker/Kenneth Starck: Criss-crossing Perspectives: Contrasting Models of Press Self-regulation in Germany and the United States. (2003). In: Journalism Studies Vol. 4 (2003), Nr. 1, S. 47-64.
  • Horst Pöttker/Thomas Meyer (Hrsg:): Kritische Empirie. Lebenschancen in den Sozialwissenschaften. Festschrift für Rainer Geißler. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004.
  • Horst Pöttker/Gabriele Toepser-Ziegert (Hrsg.): Journalismus, der Geschichte schrieb. 60 Jahre Pressefreiheit in der Bundesrepublik Deutschland. Symposium für Kurt Koszyk. Berlin: Saur 2010.
  • Horst Pöttker/Christian Schwarzenegger (Hrsg.): Europäische Öffentlichkeit und journalistische Verantwortung. Köln: Herbert von Halem 2010.
  • Horst Pöttker/Aleksandr Stanko (Hrsg.): Mühen der Moderne. Von Kleist bis Tschechow – deutsche und russische Publizisten des 19. Jahrhunderts. Köln: Herbert von Halem 2016.
  • John Rawls: Politischer Liberalismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998.
  • Wolf Schneider: Deutsch für Profis. Wege zu gutem Stil. München: Wilhelm Goldmann 2001.
  • Mitchell Stephens: Beyond News. The Future of Journalism. New York: Columbia University Press 2014.
  • Ferdinand Tönnies: Kritik der öffentlichen Meinung. Berlin: Julius Springer 1922.

Empfohlene Zitierweise

    Horst Pöttker: Man muss konfliktbereit sein. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2018. http://blexkom.halemverlag.de/poettker-interview/ (Datum des Zugriffs).