Sozialisten – Journalisten – Wissenschaftler?

Patrick Merziger, 2014 als Professor für Kommunikationsgeschichte an die Universität Leipzig berufen und Herausgeber dieses Features, ordnet die Texte hier in die Literatur ein und liefert die nötigen Hintergrundinformationen zum Entstehungskontext.


Sozialisten – Journalisten – Wissenschaftler? Die Geschichte der Leipziger Journalistik in der DDR

Ein Beitrag von Patrick Merziger

Das „Rote Kloster in Leipzig“, also die Journalistik der Karl-Marx-Universität, war der zentrale Ort der Ausbildung von Journalistinnen und Journalisten der DDR. Es erfüllte damit eine zentrale politische Funktion innerhalb der sozialistischen Gesellschaft und war eine wesentliche Institution der staatlichen Propaganda. Darin erschöpft sich aber die Geschichte der Fakultät bzw. Sektion nicht annähernd. Das wird schon an der Bezeichnung „Rotes Kloster“ selbst deutlich, die je nach Perspektive unterschiedliches bedeuten kann. In der Bundesrepublik Deutschland beschrieb man damit eine abgeschirmte Ausbildungsstätte, in der hinter hohen Mauern die Propagandisten von morgen ihr geheimes Rüstzeug erhielten. Hans Poerschke, Professor für Theorie des Journalismus an der Sektion, berichtet allerdings, dass der Begriff von ihnen selbst stammte und sie damit ironisch dieses Bild hatten aufnehmen und brechen wollen. Entsprechend weit auseinander liegen auch die Bewertungen der Journalistik. Während die ehemalige Studentin Brigitte Klump in ihrem zu seiner Zeit recht erfolgreichen Buch das „Rote Kloster“ als „Kaderschmiede der Stasi“ beschrieb, meinte Heinz Halbach, Professor für Fachjournalismus: „Wir hatten praktisch Narrenfreiheit, bis ganz zum Schluss.“

Die Aufarbeitung der Geschichte der Journalistik in Leipzig, die solche gegensätzlichen Sichtweisen klären könnte, gestaltete sich lange schwierig, auch weil diese Geschichte noch allzu lebendig war. Die ehemaligen Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und Professoren der Sektion Journalistik selbst fühlten sich nicht unbedingt zu Beiträgen berufen, weil die nötige Distanz fehlte, aber auch weil für die meisten das Ende der DDR auch das schmerzhafte Ende ihrer Berufung bedeutete. Die nach der Neugründung als Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft Neuberufenen wiederum behandelten das Thema mit großer Vorsicht, da sie nicht noch Salz in Wunden streuen wollten. Inzwischen lehrt und forscht allerdings eine neue Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am Institut und gerade in den letzten fünf Jahren sind einige Initiativen zu verzeichnen, die DDR-Geschichte der Institution aufzuarbeiten, die mehr oder weniger direkt mit dem Institut in Leipzig verbunden sind.

In diesen Kontext ist auch das vorliegende „Feature“ einzuordnen. Es ist hervorgegangen aus meinem Projektseminar im Master des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig im Wintersemester 2017/2018. An ihm nahmen Studierende teil, für die die DDR nur noch eine ferne Erinnerung ist (zumindest dann, wenn sie aus „dem Westen“ stammen). Sie ließen sich mit großem Engagement auf das Thema ein, auch weil sie viele Problemstellungen des eigenen Studienalltags darin wiederkennen konnten. Sie zeigten einen unvoreingenommenen Blick, unter dem die Leipziger Journalistik nicht nur als bloße Anstalt des „Unrechtstaats“ DDR erschien, und sie begeisterten sich für die Arbeit mit den Quellen in den Archiven, wo noch viele unentdeckte Schätze zu heben waren und sind. Deshalb haben wir uns entschieden hier eine Auswahl der studentischen Hausarbeiten zu veröffentlichen. Wir hoffen, damit weitere Einblicke in die durchaus komplexe Geschichte des „Roten Klosters“ zu liefern, aber auch Forschungen anzustoßen zu können, die dieser Komplexität gerecht werden.

Das Projektseminar trug den Titel „Ein „rotes Kloster“? Die Journalistik in Leipzig von 1947-1992“ und mit dieser Frage war die Richtung benannt, der sich die vorliegenden Studien von Studierenden des Seminars verpflichtet sehen. Wir haben neuere Forschungsergebnisse aufgenommen, die das allzu einfache Bild der „Stasi-Kaderschmiede“ hinterfragen, die die Entwürfe einer sozialistische Kommunikationswissenschaft ernst nehmen und die auf die große Bedeutung der Lehre in der Sektion hinweisen. Uns ging es darum, quellengestützt Antworten zu suchen, wie das Institut zwischen den drei Polen „Wissenschaft“, „Politik“ und „Journalismus“ zu verorten war, die über Jahrzehnte die Ausrichtung der Institution bestimmten. Der Rat der Fakultät für Journalistik hatte die Vereinigung dieser Pole für Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und Studierende zum Programm erhoben: Jede und jeder sollte gleichzeitig „sozialistischer Politiker, ein Journalist, ein Wissenschaftler“ sein. Wir stellten uns aber die Frage, was als Einflussfaktor überwog: Bestimmten die Vorgaben der Partei, eine politische Wissenschaft umzusetzen, oder die Anforderungen, die die journalistische Praxis unabhängig vom politischen System immer stellt, oder konnte die Wissenschaft ihren Anspruch auf Autonomie durchsetzen?

Wir wollten stärker als bisher Forschung und Lehre in den Blick nehmen und uns dem Alltag der über 5000 Studierenden, die die Fakultät/Sektion durchliefen, annähern. Neben den Akten aus dem Universitätsarchiv und dem Sächsischen Staatsarchiv Leipzig analysierten die Studierende teilweise ganz neue Quellentypen, die bisher bei der Auseinandersetzung mit dem Institut keine Rolle spielten, die aber neue Zugriffe ermöglichen. Zu nennen sind hier die Diplomarbeiten, von denen ca. 65% überliefert sind und die ein Bild von der konkreten Forschungspraxis vermitteln, die sich über Veröffentlichungen nur sehr viel vermittelter erschließen lässt. Die studentischen Arbeiten werden ergänzt durch die Gutachten der Betreuer und Betreuerinnen, die in den allermeisten Fällen den Diplomarbeiten beiliegen und die Einblicke in Bedeutung der Ideologie jenseits von Sonntagsreden erlauben. Ein dritter bisher unbeachteter Quellenbestand sind die Lehrhefte der Fakultät/Sektion Journalistik. Sie zählen wie alle Veröffentlichungen der Fakultät/Sektion bis auf das Handbuch „Sozialistische Journalistik“ von 1966 zur grauen Literatur, sie waren aber für die Studierenden während des Studiums die verbindliche Literaturgrundlage und sie strukturierten die Vermittlung der Lehrinhalte.

Die Ergebnisse der Studierenden des Projektseminars sind nicht über einen Leisten zu schlagen. Sie ergeben vielmehr ein differenziertes Bild einer Institution zwischen Politik, journalistischer Praxis und Wissenschaft, auch weil sich die Beiträgerinnen und Beiträger auf unterschiedlichen Ebenen der Fragestellung annäherten. Zwei Artikel wenden sich der Entwicklung der wissenschaftlichen Reflexion innerhalb der Universität zu. Christopher Wand schildert das Ringen um eine sozialistische Theorie der Publizistik seit den 1950er Jahren. Auch wenn sich – zumindest vorerst – die Parteilinie durchsetzen konnte, so blieb sie doch nie unwidersprochen und die inneren theoretischen Widersprüche ließen sich nur schwer übersehen. Sabine Rivière stellt die Konferenz der IAMCR/AIERI 1974 in Leipzig vor, mit der die Journalistik sich auf den ersten Blick in die internationale Wissenschaft eingliedern wollte. Sie kann aber nachweisen, dass die Leipziger die Veranstaltung nicht nur als Werbung, sondern auch als Vehikel politischer Einflussnahme nutzten.

Zwei Beiträge fragen, welchen Einfluss die DDR-Politik über ihre Institutionen auf die Fakultät und Sektion nehmen konnte. Andreas Parnt untersucht hierfür die Rolle der Freien Deutschen Jugend. Die FDJ war eine Instanz der Kontrolle der Studierenden bis in das Privatleben hinein, aber die Begeisterung der Mitglieder für die Aufgaben blieb doch überschaubar und Klagen über „Missstände“, also über abweichendes Verhalten, verstummen zu keinem Zeitpunkt. Jasmin Franz fragt nach Anspruch und Wirklichkeit der Gleichberechtigung in der DDR-Wissenschaft und sie zeigt, wie resistent universitäre Strukturen gegen politische Initiativen sein konnten – zumindest solange es um die Verteidigung konservativer Rollenbilder ging.

Schließlich untersuchen zwei Beiträgerinnen, ob in der Lehre ein Prozess der Verwissenschaftlichung zu erkennen ist. In den Lehrheften der Sektion, die Annett Schug auswertet, stand die politische Indoktrination zumindest nicht im Vordergrund, während aber Methodenlehre und Übungsanteile merkbar an Bedeutung gewannen. Sophie Braun kann in den Diplomarbeiten bei der Methodik tatsächlich eine Verwissenschaftlichung erkennen. Die Themenstellung allerdings entsprach den politischen Anforderungen, auch wenn die Vorgaben nie zur Gänze umgesetzt wurden.

Das Seminar konnte nur durch die enge Kooperation mit den aktenhaltenden Institutionen überhaupt zu seinen Ergebnissen kommen. Ein herzlicher Dank geht an Katharina Schlüter und an Jens Blecher, Mitarbeiterin und Direktor des Universitätsarchivs Leipzig, an Thekla Kluttig, Leiterin des Sächsischen Staatsarchivs Leipzig und nicht zuletzt an Birgit Persdorf und Manuela Bautze vom Studienarchiv Kommunikations- und Medienwissenschaft. Eine große Hilfe waren uns auch die Zeitzeugen, die sich bereitfanden, mit uns ihre Erinnerungen zu diskutieren. Wir danken dafür Karl-Heinz Röhr, Professor für journalistische Methodik an der Sektion Journalistik, und Hans-Joachim Wiesner, der dort studierte und promovierte, dann aber Berufsverbot erhielt (geschildert in seinem Roman „Rosa und Grau“). Schließlich haben wir Michael Meyen zu danken, der von Anfang an mit Rat und Tat zur Seite stand und die vorliegende Online-Publikation überhaupt erst möglich gemacht hat.

Empfohlene Zitierweise

Patrick Merziger: Sozialisten – Journalisten – Wissenschaftler? Die Geschichte der Leipziger Journalistik in der DDR. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2020. http://blexkom.halemverlag.de/merziger_journalistik-in-der-ddr/ (Datum des Zugriffs).

Titelfoto: Budzislawski 1966