Nachrufe waren nicht vorgesehen, als BLexKom aus der Taufe gehoben wurde. Es war eiskalt an jenem Dezemberabend in Berlin, vor knapp einem Jahr. Am kältesten schien es wie immer in der Leipziger Straße zu sein, zwischen den riesigen Wohnblöcken, die die DDR in den 1970er-Jahren auch bauen ließ, damit die Reklame auf dem Springer-Hochhaus im Ostteil der Stadt nicht mehr so gut zu sehen war. Walter J. Schütz hatte sich hier eine Wohnung gekauft, als das Bundespresseamt plötzlich auch für diesen Teil der Welt zuständig war. Ein Bonner Beamter in der Platte. So ein Zweitwohnsitz sei eine feine Sache, sagte Schütz, als Thomas Wiedemann und ich mit vier Stunden Verspätung durchgefroren eintrafen. Für ihn selbst, natürlich, aber auch für Freunde, die sich gern den Schlüssel borgen würden.
Wir sind damals nach Berlin gefahren, um auf Walter Hagemann anzustoßen. Wiedemanns Biografie war gerade im Herbert von Halem Verlag erschienen. Nun galt es, Walter J. Schütz zu danken, ohne den es dieses Buch vermutlich nie gegeben hätte. Schütz hatte ab 1949 in Münster bei Hagemann Publizistik studiert und war dann 1953 bis 1957 wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Publizistik gewesen. Für uns wichtiger: Nach der Suspendierung des Professors und dessen Flucht in die DDR hatte Schütz das Andenken an seinen akademischen Lehrer wachgehalten und regelmäßig Treffen der ‚Hagemann-Kombattanten‘ organisiert. Eine Hagemann-Biografie: Das sei eine erstrangige Aufgabe der Fachgeschichtsschreibung, hatte er mir immer wieder ins Gewissen geredet. Hagemann habe damals als Nestbeschmutzer gegolten und sei deshalb zu Unrecht vergessen worden. Als Biograf und Geld gefunden waren, stand Schütz nicht nur selbst stundenlang als Zeitzeuge zur Verfügung, sondern warb auch im Kreis der Ehemaligen für das Projekt. Dass er das fertige Werk dann Zeile für Zeile studierte (abzulesen an zahlreichen Anmerkungen im Manuskript), verstand sich fast von selbst. Das höchste Lob: Er, Schütz, habe in dem Buch Facetten und Fakten gefunden, die er so noch nicht gekannt habe.
Der kalte Abend in Berlin wurde nicht nur deshalb warm. Schütz hatte gerade die Stichtagssammlung 2012 ausgewertet. Alle Zeitungen, die zwischen dem 14. und 20. März 2012 erschienen waren. Ein Papierberg, der diesmal auch die Medien angezogen hatte, brand eins zum Beispiel oder die taz. Arbeit, ja, aber auch und vor allem Spaß. Das war Schütz anzumerken. Wir sind dann zum Italiener gegangen und haben über BLexKom geredet. Walter J. Schütz war skeptisch. Warum online? Warum kein Buch? Die Idee hat ihm trotzdem gefallen. Die Professoren, natürlich, das sei einfach. Haben Sie aber schon an diesen Kollegen gedacht und auch an jenen?
„Trauer um Mister Tageszeitung“ stand in den Kurzmeldungen nach seinem Tod. Die Stichtagssammlungen von 1954 bis 2012 und die Kategorie ‚publizistische Einheit‘: Das wird bleiben. Für mich war Schütz trotzdem immer ‚Mister Fachgeschichte‘. Gründungsmitglied der DGPuK 1963, 38 Jahre Redakteur der Fachzeitschrift Publizistik (1956 bis 1993) und fast genauso lang (1964 bis 1991) Schatzmeister der DGPuK sowie Förderer des Fachs im Bundespresseamt, wo er 1960 bis 1995 arbeitete. Schütz verkörperte das, was ab den späten 1940er-Jahren in Münster, Westberlin und München unter den Bezeichnungen Publizistik- oder Zeitungswissenschaft aufgebaut worden war und dann (sehr zu seinem Leidwesen) an den meisten Standorten in Kommunikationswissenschaft umgetauft wurde.
Im Gegensatz zu den anderen ‚Alten‘ war Walter J. Schütz immer da. Auf den Jahrestagungen der DGPuK sowieso, aber auch bei vielen Treffen der Fachgruppe Kommunikationsgeschichte. Und Schütz blieb, bis zum letzten Bier, und konnte unglaubliche Details erzählen. Das Gedächtnis des Fachs, nicht nur wenn es um Satzungsfragen ging, sondern auch bei Personen, Konstellationen, Ränkespielen.
Als ich mit Maria Löblich begann, die Generation der ‚Jungtürken‘ im Fach zu befragen, war Walter J. Schütz unser erster Interviewpartner. Er redete auch noch nach mehr als drei Stunden, als seine Stimme längst am Ende war und die beiden Fragesteller auch. Die fertige Interviewsammlung hatte er dann vor uns in den Händen. Selbstverständlich sei er nach Frankfurt gefahren, zur Messe, an den Halem-Stand, um „unser Buch“ abzuholen. Fachgeschichte, wie wir sie in München geschrieben haben: Das war immer auch Sache von Walter J. Schütz. Es gibt keine größere Motivation als solch einen kritischen und wissenden Leser.
Dass wir im Dezember vor einem Jahr beim Italiener die Letzten waren, versteht sich fast von selbst. Bei der DGPuK-Jahrestagung in Mainz im Mai ging es ihm schlecht, und das Treffen der Hagemann-Schüler im September in Dresden war überschattet vom Wissen, dass dieser Kreis nie mehr zusammenkommt. BLexKom würde er regelmäßig anklicken, sagte Schütz dort. Unfassbar, dass er jetzt gestorben ist.