Siegfried J. Schmidt

28. Oktober 1940

Lexikoneintrag von Guido Zurstiege am 3. August 2015

Siegfried J. Schmidt hat wichtige Beiträge zur Texttheorie sowie zur empirischen Literaturwissenschaft vorgelegt und dann konstruktivistische Grundannahmen in die Medien- und Kommunikationsforschung eingeführt – unter anderem als Lehrstuhlinhaber in Münster.

Stationen

Geboren in Jülich. Kindheit in Grafendorf (Kärnten) sowie nach dem Krieg in Essen. Studium in Göttingen, Freiburg und Münster (Philosophie, Germanistik, Linguistik, Kunstgeschichte und Geschichte). 1966 Promotion (Philosophie in Münster, Gutachter: Hermann Lübbe und Peter Hartmann). 1965 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Philosophie der TH Karlsruhe (Simon Moser). 1968 dort Habilitation für Philosophie. 1971 Ruf auf den Lehrstuhl für Texttheorie an der Universität Bielefeld. Zwei Jahre später Wechsel auf den Lehrstuhl für Literaturtheorie. 1979 Ruf auf den Lehrstuhl für Germanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität-Gesamthochschule Siegen. 1997 Lehrstuhl für Kommunikationstheorie und Medienkultur am Institut für Kommunikationswissenschaft in Münster. 1997 bis 1999 und 2001 bis 2002 Institutsdirektor. Gastprofessuren in Hiroshima, Edmonton, Melbourne, Innsbruck, Lublin, Wien, Pisa und Klagenfurt (dort 2004 Ehrendoktor).

Publikationen

  • Sprache und Denken als sprachphilosophisches Problem von Locke bis Wittgenstein. Den Haag: Nijhoff 1968 (Dissertation).
  • Bedeutung und Begriff. Wiesbaden: Vieweg & Teubner 1969 (Habilitation).
  • Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987 (Herausgeber).
  • Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989.
  • Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994.
  • Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994 (Herausgeber, mit Klaus Merten und Siegfried Weischenberg).
  • Geschichten & Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003.

Eines der wohl bekanntesten Bücher Siegfried J. Schmidts ist die von ihm 1987 herausgegebene Anthologie Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus (vgl. Schmidt 1987). In sehr grundsätzlicher Weise bleibt uns die Welt, in der wir leben, verschlossen, unerreichbar, unbegreifbar. Um diese kontraintuitive Einsicht ging es hier. Neu war diese Erkenntnis zum Zeitpunkt der Publikation freilich schon lange nicht mehr. Denn fast vom Beginn der Philosophiegeschichte an hatte sie sich in zahllosen Graden der intellektuellen Massedichte verfestigt. Ihren Widerhall fand dies nicht zuletzt auch in den Befunden der neurobiologischen, der kybernetischen und der kognitionswissenschaftlichen Forschung. Indessen radikal vertrat Siegfried J. Schmidt diese Einsicht: Wir können gar nicht anders, als Wirklichkeit zu konstruieren. Mehr noch: Das menschliche Gehirn operiert funktional autonom. Es spricht also nur seine eigene Sprache. Die daraus notwendig resultierende Konstruiertheit individueller Wirklichkeiten, so Schmidt, ist geradezu die conditio sine qua non für die Existenz des Menschen als freies, von seiner Umwelt nicht vollends determiniertes Wesen.

Mit diesem Perspektivenwechsel lieferte Schmidt gleichsam das erkenntnistheoretische Fundament für eine Reihe von Debatten im Feld der Medien- und Kommunikationsforschung. Zu Beginn der 1990er-Jahre flossen diese Debatten zunächst in das Funkkolleg Medien und Kommunikation (1990) ein. Später wurden sie in dem gemeinsam von Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt und Siegfried Weischenberg (1994) herausgegebenen Sammelband Die Wirklichkeit der Medien systematisch geordnet. In vielen dieser Debatten, so lässt sich rückblickend feststellen, ist jedoch der eigentliche Clou der Argumentation oft bis zur Unkenntlichkeit durch populäre Deutungen der These verdeckt worden.

Von der „erfundenen Wirklichkeit“ war etwa sehr prominent bereits bei Paul Watzlawick (1981) die Rede. Dabei läuft das konstruktivistische Argument im Kern eben nicht darauf hinaus, dass die Wirklichkeit erfunden, aktiv konstruiert werden kann. Der Konstruktivismus ist keine Theorie der Subjektivität, sondern eine Theorie der Subjektabhängigkeit. Konstruktivisten, heißt das, reden nicht der Willkür von Wirklichkeitskonstruktionen das Wort. Sie sagen eben nicht, dass die Wahrheit eine Lüge ist. Das zentrale konstruktivistische Erkenntnisinteresse ist geradezu gegenläufig zu solchen populären Umdeutungen des Arguments. Die philosophischen, aber auch die naturwissenschaftlichen Belege für die funktionale Autonomie des Subjekts, so lautet die konstruktivistische Prämisse, sind geradezu überwältigend. Es kann daher kaum ein Zweifel daran bestehen, dass wir kognitiv autonom in der Welt leben und von dieser in geradezu existenzieller Weise geschieden sind. Wie aber kann es vor dem Hintergrund dieser geradezu erdrückenden geistesgeschichtlichen Beweislage sein, dass wir zugleich über so stabile operative Fiktionen verfügen wie die der Wahrheit, der Wirklichkeit, des Guten und des Schlechten? Wie kommt all dies zustande? Dies ist die zentrale Frage, um dies es im Konstruktivismus geht. Nicht Willkür, nicht Lüge und nicht Erfindung sind dafür verantwortlich, so lautet das Argument. Verantwortlich sind vielmehr kollektiv geteilte, sozialisatorisch erworbene Schematisierungen und Konventionalisierungen. Kognitive Autonomie erfordert soziale Orientierung (Schmidt 1994b).

Die Medien erfüllen hier eine zentrale gesellschaftliche Funktion als eben jene Instanzen, die an der Konstruktion stabiler kollektiver Wirklichkeiten zentral beteiligt sind. Die konstruktivistische Medien- und Kommunikationsforschung befasst sich nicht mit dem Verhältnis von Wahrheit und Wahrnehmung, nicht mit der Differenz von individueller Wirklichkeit und tatsächlicher Realität. Sie setzt sich angesichts der Unbeantwortbarkeit dieser Beziehungsfragen über solche Dualismen hinweg und zielt darauf ab, den Voraussetzungssystemen und den Anschließbarkeitskriterien kollektiver Wirklichkeiten auf die Schliche zu kommen (vgl. Schmidt 1994a: 19). „Mit dem Fernsehen öffnet sich kein Fenster zur Welt, sondern ein Fenster zu unserer Kultur. Fernsehen macht die Komplexität sozialer Erfahrungen überschaubar und suggeriert, auch funktional differenzierte Gesellschaften seien noch ‘einheitlich beobachtbar’.“ (Schmidt 1994b: 277).

Schmidts spätere Veröffentlichungen (wie etwa das Buch Geschichten & Diskurse, vgl. Schmidt 2003) sind immer stärker durch den Verzicht auf empirische Bezugnahmen gekennzeichnet. Zunehmend geraten damit Aspekte einer nicht dualistischen Theoriekonzeption in den Vordergrund. Diese bezieht sich einerseits auf die Arbeiten des Klagenfurter Philosophen Josef Mitterer (1992) und macht andererseits in Anlehnung an Georg Wilhelm Friedrich Hegel den Mechanismus aus Setzung und Voraussetzung (vgl. Ziemke 1992) zum zentralen Bezugspunkt einer ausschließlich auf sich selbst verweisenden Theoriearchitektur.

Neben seinen zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen hat Siegfried J. Schmidt auch ein umfangreiches künstlerisches Werk vorgelegt. Er ist ein „Schriftstellerwissenschaftler“ (Gendolla/Riha 1991), der sich systematisch an der Grenze unterschiedlicher Ausdruck- und Erkenntnissysteme bewegt. In seinem literarischen und künstlerischen Werk verbindet Schmidt Poesie und bildendende Kunst. Die Dichtung ist visuell und konkret, sie verwendet Sprache als Mittel des Ausdrucks und zugleich als Gegenstand des künstlerischen Projekts.

Literaturangaben

  • Deutsches Institut für Fernstudien (DIFF): Funkkolleg Medien und Kommunikation: Konstruktionen von Wirklichkeit. Weinheim: Beltz 1990.
  • Peter Gendolla/Karl Riha (Hrsg.): Schriftstellerwissenschaftler. Erfahrungen und Konzepte. Heidelberg: Winter 1991.
  • Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994.
  • Josef Mitterer: Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip. Wien: Passagen 1992.
  • Siegfried J. Schmidt: Die Wirklichkeit des Beobachters. In: Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994a, S. 3-19.
  • Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987.
  • Siegfried J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994b.
  • Siegfried J. Schmidt: Geschichten & Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003.
  • Paul Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München: Piper 1981.
  • Axel Ziemke: System und Subjekt. Biosystemforschung und radikaler Konstruktivismus im Lichte der Hegelschen Logik. Braunschweig: Vieweg 1992.

Weiterführende Literatur

  • Guido Zurstiege: Siegfried J. Schmidt 65 Jahre. In: Publizistik 51. Jg. (2006), S. 97-99.

Weblinks

Empfohlene Zitierweise

    Guido Zurstiege: Siegfried J. Schmidt. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015. http://blexkom.halemverlag.de/siegfried-j-schmidt/ ‎(Datum des Zugriffs).