Hermann Budzislawski und die Leipziger Journalistik

Siegfried Schmidt gehörte 1954 zu den ersten Studenten der Fakultät für Journalistik. Er wurde persönlicher Assistent Budzislawskis, durchlief in Leipzig alle akademischen Stationen und wurde am Nachwendeinstitut Professor. In seinem Nachlass fand sich dieser Text, fertiggestellt 1996/97 für ein Symposium zur Fachgeschichte und offenbar nicht ganz vollendet.


Ein Beitrag von Siegfried Schmidt

 

Vorbemerkung

Fachgeschichte kann wohl selten nur als Personengeschichte begriffen werden, auf unserem Gebiet gewiss noch weitaus weniger als in der einen oder anderen naturwissenschaftlichen Disziplin. Schon die Gründung des ersten zeitungskundlichen Instituts an einer deutschen Universität 1916 in Leipzig dokumentiert anderes (vgl. Koenen 2016).

In dem Zeitabschnitt, der hier interessiert, verbietet es sich geradezu, die Entwicklung der Fachrichtung lediglich personenzentriert zu skizzieren. Wenn sich auch der Neubeginn der Leipziger akademischen Journalistenausbildung nach dem verheerenden Krieg bald in besonderer Weise und für eine längere Zeitspanne mit dem Namen Hermann Budzislawski verbindet und ihm Aufmerksamkeit gewidmet werden soll, ist für den Versuch einer Bilanz und einer Problematisierung ein weiter gespannter Rahmen als der Fokus auf eine Persönlichkeit vonnöten. Vor allem muss die politische Situation, müssen politische Bedingungen und Zusammenhänge erfasst werden.

Siegfried Schmidt. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe Karl-Heinz Röhr).

Bevor ich mich meinem Thema, das von einiger Brisanz ist, zuwenden kann, erscheint es erforderlich, zu einer Prämisse zu finden, unter der es dargestellt werden soll. Wie keine andere universitäre Einrichtung der Nachkriegszeit in Ost und West stand und steht die Leipziger Ausbildungsställe im Blick politischer Interessengruppen und Medienwahrnehmung. Das „Rote Kloster“ ist zur Legende avanciert (vgl. Klump 1991). Wogen der Emotion schlagen oft bereits bei der Nennung der Metapher hoch.

Als „Agitations-Maschine“ etikettiert eine süddeutsche Journalistin die ehemalige Fakultät bzw. Sektion in ihrem Zeitungsbeitrag, obwohl sie keinerlei eigene Erfahrung und in diesem Fall nicht einmal eine eigene Recherche in den Disput über Wert und Versagen der Institution einbringen kann (vgl. Bierch 1992). In einem Frankfurter Presseorgan meditiert der Autor zunächst zwei Abschnitte lang über Auschwitz, ehe er zu seinem Gegenstand, dem „Roten Kloster“, kommt (vgl. Reumann 1991). Der Verfasser zitiert aus Brigitte Klumps Buch, in zweiter Auflage mit dem Untertitel „Als Zögling in der Kaderschmiede der Stasi“ versehen, das Erziehungsziel der Fakultät sei gewesen, „dass jeder Student der Journalistik sich im Verlauf des Studiums qualifizierte zum Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit“. Und weiter: „Die Erteilung des Diploms war abhängig vom Nachweis erfüllter Bewährungsaufgaben für das MfS“ (vgl. Klump 1991: 342, Reumann 1991). Bei Klump (1991: 342) heißt es dazu noch: „Mit dem Diplom wurde intern ein militärischer Rang festgeschrieben, der mit dem Leutnant der Reserve des MfS begann und somit zur Konstante des Gehalts wurde.“

Friedensdemonstration von Leipziger Journalistikstudenten Anfang der 1980er-Jahre (Quelle: Privatarchiv Karl-Heinz Röhr)

Beispiele nur, andere ließen sich anführen. Es wäre naiv oder unehrlich, würde man meinen, der Staatssicherheitsdienst hätte an der ehemaligen Fakultät für Journalistik keine oder nur eine geringe Rolle gespielt. Aber auch diese Seite der Geschichte der Journalistenausbildung bedarf einer gründlichen Prüfung. Das Fachgespräch wird unmöglich, wenn dreiste Behauptung reicht und ein Verdikt ohne Ermittlung erfolgt. Die Prämisse muss sein, dass Tatsachen geprüft, dass Differenzierungen vorgenommen und Ursachen erforscht werden.

Die Anfänge nach 1945

Nach dem Inferno des Krieges und dem Zusammenbruch des Nazi-Reiches wurde im Zuge der antifaschistischen Neuorientierung der Universität Leipzig das bisherige Institut für Zeitungswissenschaft geschlossen. Jedoch schon mit der Neueröffnung der Leipziger Alma Mater im Jahre 1946 konnte ein Fach Publizistik wieder in das Lehrangebot aufgenommen werden. Das war möglich geworden, weil durch die Eingliederung der Handelshochschule Leipzig auch die dortige Abteilung „Wirtschaftspublizistik und Zeitungsbetriebslehre“ in den Bestand der Universität überführt wurde. Es kam zur Gründung eines Instituts für Publizistik, dessen Direktor der frühere Abteilungsleiter an der Handelshochschule, Gerhard Menz, wurde. Menz, ein politisch integrer Wissenschaftler, übernahm gleichzeitig das Amt des Dekans der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, der das neue Institut nach seiner inhaltlichen Bestimmung folgerichtig zugeordnet worden war.

Gerhard Menz (Quelle: Privatarchiv Erik Koenen)

Publizistik konnte nur als Nebenfach gewählt werden. Die Lehrofferte bestand aus den beiden Vorlesungsreihen „Entwicklung der Publizistik vom Altertum bis zur Gegenwart“ und „Wirtschaftsnachrichtenwesen“ sowie einer „Übung zur Publizistik“. Alle drei Veranstaltungen hat Professor Menz selbst übernommen. Prüfungen fanden für das Nebenfach noch nicht statt.

Dass trotz der ehrlichen und aufopfernden Bemühung von Menz Umfang und Inhalt dieses Lehrangebots nicht genügen konnten, um künftigen Journalisten in einer, wie sie deklariert wurde, antifaschistisch-demokratischen Ordnung ausreichend Orientierung und Wissen von dieser Profession auf den Weg zu geben, leuchtet zweifellos ein. Die Berufsorganisation der Journalisten in der Sowjetischen Besatzungszone, im Januar 1946 gegründet und vorerst Verband der Deutschen Presse genannt, organisierte unverzüglich eigene Schulungen mit vorwiegend fachbezogenen Themen wie Schreiben und Redigieren von Beiträgen, Organisation der Zeitungsarbeit, Arbeitsweise von Redaktionen oder Technik der Vervielfältigung.

Qualifizierte Fachkräfte, die Leitungsaufgaben in der Verwaltung, der Wirtschaft, der Kultur, für Parteien und Organisationen übernehmen konnten, wurden dringend gebraucht. Diesem Mangel sollte auch durch die Gründung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät abgeholfen werden, die nach heftigen politischen Richtungskämpfen an der Universität auf der Grundlage eines Befehls des Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1947 zustande kam (Befehl Nr. 333 vom 2. Dezember 1946).

An der neuen Fakultät wurde innerhalb der Fachrichtung Kulturpolitik ebenfalls ein Institut für Publizistik eingerichtet, das die Ausbildung vorerst auch nur als Nebenfach gestaltete. So verzeichnen wir das Kuriosum, dass es einige Zeit an der Leipziger Universität zwei Institute gleichen Namens gegeben hat. Professor Menz hielt auch an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät seine publizistischen Vorlesungen.

In seiner Sitzung vom 11. Februar 1948 fasste der Rat der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät den Beschluss, den noch im US-amerikanischen Exil lebenden Dr. Hermann Budzislawski als Ordentlichen Professor für Internationales Pressewesen nach Leipzig zu berufen. Die Begründung lautete: „Der kulturpolitische Zweig der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät ist zurzeit noch verhältnismäßig schlecht besetzt. Die kulturpolitische Richtung soll u.a. Journalisten erziehen, die über die Entwicklung des internationalen Pressewesens, über ihre ökonomischen Hintergründe und Verflechtungen, wie sie charakteristisch in den USA ausgebildet sind, bis in die jüngste Zeit unterrichtet werden. Budzislawski eignet sich für das Fach Internationales Pressewesen im Rahmen der Gewifa besonders“ (1).

Zur Vita Hermann Budzislawskis

Wer ist dieser Mann, der mit so lapidarer Begründung und aus so großer Entfernung für ein Leipziger Lehramt auserkoren wurde? Mit der Berufung des damals 47-jährigen Budzislawski auf den Lehrstuhl für Internationales Pressewesen und in das Direktorat des Instituts war den Verantwortlichen gewiss ein großer Wurf gelungen. Es gab zu dieser Zeit aus fachlicher und politischer Sicht kaum eine kompetentere Persönlichkeit für die Profilierung der akademischen Journalistenausbildung in der Sowjetischen Besatzungszone als den vielfach publizistisch und auch wissenschaftlich ausgewiesenen Hermann Budzislawski. Heinrich Bruhn (1961) nennt Budzislawski später in einem Zeitschriftenbeitrag zu dessen 60. Geburtstag etwas pathetisch in einem zweifachen Sinne „Mensch dieses weltumwälzenden Jahrhunderts, dessen Altersgenosse er ist“: erstens, in seinem Leben spiegeln sich die Wandlungen, die die Dezennien dieses Jahrhunderts mit sich brachten und es prägten; zweitens, er selbst war an diesen Wandlungen nicht unbeteiligt.

Hermann Budzislawski wurde am 11. Februar 1901 als jüngster Sohn eines Fleischermeisters in Berlin geboren. Seine Eltern waren bürgerlich-liberal gesinnt, lehnten die Monarchie ab, und so verwundert es nicht, dass der Schüler der Charlottenburger Leibniz­Oberschule für demokratische und sozialistische Ideen aufgeschlossen war. 1918 hatte er mit dem Schuldirektor einen ersten politischen Konflikt auszutragen, weil der Zögling sich vor seiner Klasse mit streikenden Berliner Munitionsarbeitern solidarisierte und sich außerdem zur russischen Oktoberrevolution bekannte. Budzislawski wurde im November 1918 erst zum Vorsitzenden des Schülerrates seiner Anstalt gewählt und übernahm danach gar die Leitung des Zentralen Schülerrates von ganz Berlin. Der junge Rebell schloss sich der freideutschen Jugendbewegung an; er publizierte seine ersten journalistischen Arbeiten in der Zeitschrift Anfang, ein bereits 1913 gegründetes kulturrevolutionäres Organ für die Jugend. Aktiv wirkte er in der schulreformerischen Freien Schülerschaft mit (vgl. Bruhn 1961). Von Budzislawski erfahren wir selbst: Das entscheidende Erlebnis dieser Jahre, durch das seine strikte antimilitärische Haltung geformt wurde, war der Tod seines älteren Bruders, der 1916 vor Verdun gefallen war (Billing 1966: 176).

Zwischen 1919 und 1923 studierte Budzislawski in Berlin, Würzburg und Tübingen Staatswissenschaften und Nationalökonomie (2). Mit einer Schrift zur „Eugenik – Ein Beitrag zur Ökonomie der menschlichen Erbanlagen“ wurde er im März 1923 bei dem Reformsozialisten Robert Wilbrandt an der Universität Tübingen zum doctor rerum politicarum promoviert.

Siegfried Schmidt, Frank Stader und Werner Bramke (von links) 2009 am Grab von Bruno Schoenlank. Foto: Jürgen Schlimper.

Budzislawski hatte sein Studium mit der Absicht betrieben, Journalist werden zu wollen, worunter er „einen öffentlich für eine bessere Gesellschaft wirkenden Menschen verstand“ (Billing 1966: 177). 1924 nach Berlin zurückgekehrt, arbeitete Budzislawski ein Jahr als verantwortlicher deutscher Redakteur der Zeitschrift Industrial and Trade Review of India. Das halbmonatlich erscheinende Journal wurde von indischen Emigranten in Berlin herausgegeben und „war ein Sprachrohr der indischen Freiheitsbewegung“ (Billing 1966: 177). Seine guten englischen Schulkenntnisse halfen Budzislawski, die Beiträge ohne größere Schwierigkeiten in der fremden Sprache zu schreiben. Das kam ihm zugute, als er wenige Jahre später selbst emigrieren musste. Die journalistischen Aktivitäten in diesen Jahren aber waren umfangreicher. Er schrieb für sozialdemokratische und kommunistische Blätter, publizierte zeitweilig einen eigenen Artikeldienst, der unter anderem auch Beiträge über den Befreiungskampf kolonial unterdrückter Völker enthielt. Gelegentlich wirkte er auch in der Berliner Funkstunde mit (Billing 1966: 177).

1929 wurde Hermann Budzislawski Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Auf ihrem linken Flügel trat er für ein Zusammengehen mit den Kommunisten ein. Ebenso beteiligte er sich im links orientierten Berliner Vorstand des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller sowie in der Berliner Künstlerkolonie „an den Bemühungen, eine Einheitsfront von Sozialdemokraten und Kommunisten gegen die nahende faschistische Gefahr zu schaffen“ (Billing 1966: 177). Er vervielfältigte in seiner Wohnung die Häuserblockzeitung der Künstlerkolonie.

Budzislawskis publizistische Wirkungsmöglichkeiten erweiterten sich, als er 1932 zur politischen Wochenschrift Die Weltbühne kam, die zu dieser Zeit Carl von Ossietzky leitete; als sein Stellvertreter fungierte Hellmut von Gerlach. Budzislawski wurde wirtschaftspolitischer Redakteur. Sein letzter Artike1 erschien unmittelbar vor dem Verbot der Weltbühne – unter dem Pseudonym Hermann Eschwege. Hermann Budzislawski war einer der letzten Mitarbeiter des Blattes, der noch mit Ossietzky vor der Verhaftung durch die Nazis sprechen konnte (am 27. Februar 1933 vormittags, vgl. Billing 1966: 178).

Ende März 1933 musste Budzislawski, von den braunen Machthabern bereits gesucht, aus Deutschland fliehen. Die Weltbühne war am 7. März 1933 zum letzten Mal in Berlin herausgekommen. Es gab aber schon seit dem Sommer 1932 eine österreichische Ausgabe der Zeitschrift, die Wiener Weltbühne. Aus ihr ging, nachdem der Redaktionssitz von Wien nach Prag verlegt worden war, die Neue Weltbühne hervor. Die erste Ausgabe unter den neuen Bedingungen erschien Ende April 1933, Willi Schlamm zeichnete als Chefredakteur. Dieser öffnete das Blatt, so Budzislawski über seinen Kontrahenten Jahrzehnte später, antisowjetischer Propaganda und „arbeitete auf die Spaltung der antifaschistischen Kräfte hin“ (Billing 1966: 178).

Edith Jacobsohn, die Verlegerin der Wochenschrift, mit der politischen Tendenz des einst so einflussreichen Organs der deutschen Linken immer unzufriedener, suchte Budzislawski in seinem Schweizer Zufluchtsort Neubühl bei Zürich auf, wo er einen Zeitungsdienst eingerichtet hatte, der die Schweizer Presse mit Informationen über das Treiben der Nazis versorgte. Sie fragte, ob er für die Leitung der Zeitschrift zur Verfügung stünde. Budzislawski sagte zu, und Schlamm wurde entlassen. Der erste Beitrag des neuen Chefredakteurs vom März 1934 „befasste sich mit dem Gebot der Stunde: alle antifaschistischen Kräfte im Kampfe gegen Hitler zu einigen. Dafür musste der politische Boden bereitet werden“ (Billing 1966: 178). Bald übernahm Budzislawski auch den Verlag mit vollen Rechten, und damit war er auch Herausgeber des Blattes (Billing 1966: 178). 1935 wurde der Verleger und Chefredakteur in Prag zum Vorsitzenden des sich konstituierenden deutschen Volksfrontausschusses gewählt.

Heinrich Bruhn. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe Karl-Heinz Röhr).

Die Neue Weltbühne entwickelte sich mehr und mehr zu einem Organ, das die Volksfrontpolitik profilieren half. Unter dem Gedanken der Volksfront sammelten sich um die Zeitschrift zahlreiche emigrierte Schriftsteller und Politiker. Namhafte Autoren gewann Hermann Budzislawski als ständige Mitarbeiter: Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Arnold Zweig, Franz Carl Weiskopf und Egon Erwin Kisch. Thomas Mann schrieb gelegentlich. In der Neuen Weltbühne begegneten sich erstmals führende Vertreter von SPD und KPD. Sie wurde zu einem Gesprächsforum über die Einheitsfront. Einer der Gesprächspartner und Autoren war Walter Ulbricht. Inwieweit Ulbricht dem Chefredakteur „unmittelbare Hinweise für die Leitung des Blattes gibt“, wie Bruhn (1961: 3) schreibt, und dieser sie aufgreift, müsste weiter erforscht werden. Budzislawski hat sich dazu, obwohl es nahegelegen hätte, in seinem biografischen Interview nicht geäußert. Er hat Bruhns Version von 1961 allerdings auch nicht widersprochen, was verständlich sein dürfte. Gesichert ist dagegen, dass Budzislawski im Februar und März 1935 als Gast des sowjetischen Schriftstellerverbandes in Moskau weilte. Dort wurde er auch von Wilhelm Pieck empfangen, und er lernte Georgij Dimitroff kennen, den Chef der Kommunistischen Internationale.

Unterdessen wurde Hermann Budzislawski von den Nazis die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Die Ausbürgerungsliste 4 vom 8. Juni 1935 vermerkt seinen Namen zusammen mit den Namen von Brecht, Walter Mehring, Franz Pfemfert und Friedrich Wolf. Die Universität Tübingen verfügte am 4. Oktober 1938 die Aberkennung seines 1923 erworbenen Doktortitels (vgl. Lerg 1978: 113).

Die Redaktion der Neuen Weltbühne musste im Juni 1938 nach Paris verlegt werden. Schon wenige Monate danach, im September 1939, inzwischen war Krieg, wurde die Zeitschrift verboten. Die letzte Ausgabe kam am 31. August 1939 heraus. Das Blatt war eines von vorerst nur drei Presseorganen, die ihr Erscheinen einstellen mussten (neben L‘Humanité und Ce Soir). Der Emigrant war in Frankreich nicht nur durch seine publizistische Tätigkeit, sondern auch durch seine politischen Aktivitäten aufgefallen. Im Frühjahr 1939 hatte er in Paris, wie vorher schon in Prag, erneut bei der Formierung der Volksfront mitgewirkt, im „Aktionsausschuss deutscher Oppositioneller“, dessen Präsident Heinrich Mann und dessen Geschäftsführer Albert Norden waren.

Hermann Budzislawski. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe Karl-Heinz Röhr)

Hermann Budzislawski wurde nach dem Weltbühne-Verdikt interniert und zehn Monate lang in vier verschiedenen Lagern gefangen gehalten. Aus dem Lager Bassens im Juni 1940 wieder freigekommen, suchte und fand er seine Frau Johanna, seine Tochter Beate und seinen 77-jährigen Vater ganz in der Nähe. Auf abenteuerliche Weise gelang ihnen die Flucht über die Pyrenäen nach Spanien und wenig später nach Portugal. Von Lissabon aus kam die Familie in die USA, im Besitz eines US-amerikanischen Besuchervisums, eines tschechischen Reisepasses und eines US-amerikanischen Staatenlosenpapiers. Am 13. Oktober 1940 trafen sie ein. Budzislawski kommentierte das im Rückblick selbstironisch, wie es ihm eigen war, mit den Worten: „Ich ‚entdeckte‘ Amerika einen Tag nach Kolumbus“ (Billing 1966: 179).

Für Budzislawski begann ein Lebensabschnitt von großer Tragweite, und seine Tätigkeit im neuen Exilland war wiederum nicht nur auf die Sicherung des Lebensunterhalts für sich und die Seinen gerichtet, sondern sie diente unter den veränderten schwierigen Bedingungen auch hier dem Kampf gegen den Krieg und seine faschistischen Betreiber. Das Emigrantendasein in den USA wird durch eine für Budzislawski typische Episode gekennzeichnet: Er war in New York mit dem österreichischen Schriftsteller und Regisseur Berthold Viertel befreundet. Bei einem gemeinsamen Spaziergang im späten Frühjahr 1941 äußert Budzislawski, dass Hitler die Sowjetunion angreifen werde. Über Umwege erfuhr von dieser Mutmaßung die berühmte und einflussreiche Kolumnistin Dorothy Thompson. Am 22. Juni 1941, dem Tag des Überfalls auf die Sowjetunion, erinnerte sie sich an diese Voraussage und an den Mann, von dem sie stammte. Nach Budzislawskis Auskunft rief Dorothy Thompson ihn daraufhin an, lud ihn „zu sich ein und wollte wissen, durch welche politischen Schlussfolgerungen ich zu meiner Vermutung gekommen sei“ (Billing 1966: 179f.). Thompson stellte Jahre später, nach dem Zerwürfnis, den Sachverhalt anders dar. Gleichwie! Es kommt zu einer mehrjährigen, sehr fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen der energischen US-Hitlergegnerin, die ausgezeichnete Verbindungen zu höchsten Regierungskreisen besaß und deren Kolumnen dreimal wöchentlich in 175 Zeitungen der USA publiziert wurden, und dem konsequenten deutschen Antifaschisten (Billing 1966: 180).

Budzislawski arbeitete ihr zu, indem er Nachrichten sammelte, politische Situationsanalysen vornahm und Zusammenhänge erläuterte. „Sie saß dabei an der Maschine und schrieb den Artikel. Ihr Talent bestand weniger im Schöpferischen als in der Kunst, hervorragend zu formulieren“ (Billing 1966: 180). Auf die Artikel, die er mit der Journalistin verfasst hat, war er lebenslang stolz. Unter dem Pseudonym Donald Bell schrieb er außerdem pro Woche dreimal eine eigene Kolumne für eine Nachrichtenagentur.

Zum Bruch mit Dorothy Thompson kam es aus politischen Gründen gegen Kriegsende. Er wollte den bei ihr aufkommenden Antisowjetismus nicht mittragen. Sie habe nie verstanden, so Hermann Budzislawski, dass er diese Zusammenarbeit beendete, obwohl sich seine wirtschaftliche Situation dadurch stark verschlechterte. Frau Thompson habe das Gewicht fester politischer Gesinnung im journalistischen Gewerbe nicht hoch veranschlagt (Billing 1966: 180).

Winfried B. Lerg (Quelle: Kutsch et al. 1992)

Winfried B. Lerg weist nach meiner Auffassung berechtigt darauf hin, dass so einfach „die Zusammenhänge indessen auch wieder nicht“ waren, ,,vor allem, weil hier die Haltung der Vereinigten Staaten zum Problem der Gewinnung des Friedens in Europa, besonders in Deutschland, hineinspielte, reduziert auf die Beziehungen einer publizistisch sehr selbstbewussten amerikanischen Kolumnistin und eines inzwischen politisch mindestens ebenso festgelegten deutschen Emigranten“ (Lerg 1978: 111). Für Lerg ist sicher, ,,dass Dorothy Thompson eher zu den Tauben in der amerikanischen Publizistik gehörte, die das nationalsozialistische Deutschland als eine zwar unnachsichtig zu verurteilende und mit allen Mitteln zu bekämpfende Episode der europäischen Zeitgeschichte verstanden wissen wollte – aber eben nur als eine Episode und nicht als eine notorische politische und gesellschaftliche Unart, die nur noch durch harte Erziehungsmaßnahmen ausgetrieben werden konnte. Mit ihrer Einstellung geriet Dorothy Thompson mit anderen ehemaligen Deutschland-Korrespondenten (…) immer wieder in Streit“ (Lerg 1978: 111).

1948 verließ Budzislawski sein Gastland USA – auf vielen Gebieten, insbesondere in der internationalen Politik, hochgebildet, welterfahren, die Klaviatur journalistischer Produktion und Präsentation meisterhaft beherrschend, in seiner linksorientierten politischen Gesinnung und Überzeugung ausgereift, mit seinem Handeln in den fast 16 Jahren des Exils durch den Verlauf der Geschichte bestätigt.

Die Neugründung in Leipzig

Für die Leipziger Professur sind das beste Voraussetzungen, zumal er, was zur damaligen Zeit keineswegs selbstverständlich war, auch über genügend Einblick in die Erfordernisse und Abläufe des akademischen Ausbildungs- und Forschungsbetriebes verfügte. Trotz der Belastungen durch die neuen Aufgaben und Ämter verzichtete Budzislawski keineswegs auf die aktive journalistische Tätigkeit. Sofort nach seiner Rückkehr begann er, im Mitteldeutschen Rundfunk wöchentlich eine „Außenpolitische Betrachtung“ zu verfassen und zu sprechen. Fünf Jahre hintereinander bewältigte er dieses enorme Pensum. Mit der Übersiedlung in die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands ergab sich für Budzislawski folgerichtig der Schritt, Mitglied der SED zu werden. Das Jahr 1949 brachte an der Universität Leipzig die wissenschaftsorganisatorische Neuerung, dass die beiden publizistischen Institute vereinigt wurden. Budzislawski erhielt den Ruf in das Direktorenamt des neuen Instituts für Publizistik. Allein, es kündigten sich alsbald einschneidende Veränderungen an, die auch Budzislawski direkt betrafen.

Nach der Gründung der DDR reklamierte die SED den Mangel an ausgebildetem journalistischem Nachwuchs sehr energisch. Die 1. Pressekonferenz der SED am 9. und 10. Februar 1950 fasste den Beschluss, dass das Institut für Publizistik der Universität Leipzig reorganisiert werden muss. Mit dem Studienjahr 1951/52 sollte ein eigenständiger Studiengang eine systematische akademische Berufsausbildung gewährleisten. Die neu strukturierte Institution, nunmehr mit dem Namen Institut für Publizistik und Zeitungswissenschaft, eröffnete den Lehrbetrieb im Januar 1951.

Georg Mayer (Alt-Rektor), Hermann Budzislawski, Rudi Singer (1963 bis 1966 Leiter der Abteilung Agitation und dann ND-Chefredakteur), Georg Müller (1964 bis 1968 Rektor der Universität Leipzig. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe Karl-Heinz Röhr).

Geleitet wurde sie aber nicht mehr von Hermann Budzislawski. Dem Institut stand vielmehr kommissarisch Professor Heinrich Bruhn vor, und es gehörte jetzt zur Philosophischen Fakultät. Budzislawski war auch nicht mehr Mitglied des Lehrkörpers, formal behielt er seinen Arbeitsplatz bei der noch bis April existierenden Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät. Als Westemigrant war er, wie viele seiner Schicksalsgefährten, in die Mühlen der Verfolgungs- und Säuberungskampagne innerhalb der SED geraten, die, von Moskau gesteuert, in allen osteuropäischen Staaten angezettelt worden war, und bei der Mitglieder einer vorgeblichen Agentenorganisation um Noel H. Field ausfindig gemacht werden sollten (3). Erst im November 1951 wurde die Zwangsbeurlaubung aufgehoben, Budzislawski durfte in das neue Institut eintreten und seine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen. Das Direktorat aber wurde ihm nicht wieder übertragen. Im August hatte Wilhelm Eildermann das Amt erhalten (vgl. Meyen 2017).

Klump 1991

Für 200 Studierende begann am 10. September 1951 die Ausbildung im Hauptfach Diplomjournalistik. Die Gesamtdauer des Studiums betrug vorerst drei Jahre. Nach dem ersten Studienjahr fand ein Druckerei- und nach dem zweiten Studienjahr ein Redaktionspraktikum statt. Neben der inhaltlichen Reorganisation des Studienganges wurde auch in materieller Hinsicht Vorsorge getroffen. Dem stark angewachsenen Institut wurden eigene Lehr-, Verwaltungs- und für die Studenten Wohngebäude zur Verfügung gestellt, ein Häuserkomplex zwischen Focke-, Tieck-, Wilhelm-Wundt- und partiell Kurt-Eisner­ Straße, der – im vorderen Bereich der Tieckstraße von einer Mauer umschlossen – von den damaligen Studierenden selbst und von den Anwohnern ironisch als das „Rote Kloster“ apostrophiert wurde.

Die SED verfügte über die weiteren Aufgaben für das Leipziger Universitätsinstitut: Auf Beschluss der 2. Pressekonferenz (7. und 8. März 1951) werden Wissenschaftler verpflichtet, ab Januar 1953 Lehrveranstaltungen im Rahmen der vom Verband der Deutschen Presse organisierten Vier-Monate-Kurzlehrgänge zu übernehmen, in denen praktisch tätige Journalisten weitergebildet werden sollen.

Zum 1. September 1953 wird am Institut eine Abteilung Fernstudium eingerichtet. In einem fünfjährigen Studium sollen Redakteure aller journalistischen Medien und der Nachrichtenagentur ADN zu akademisch gebildeten Journalisten qualifiziert werden. Die ersten 250 Fernstudenten nehmen noch im September die Ausbildung auf. Dieser Weg der Journalistenausbildung erwies sich als erfolgreich und prägte über vier Jahrzehnte nicht unwesentlich den Leipziger Lehr- und Forschungsbetrieb. Der besondere Reiz dieses Studiengangs bestand in der Verbindung von Theorievermittlung und praktischer Berufserfahrung der Studierenden. Der Leipziger Fernstudiengang Journalistik wurde, wie alle anderen Fernstudieneinrichtungen, auf Weisung des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst zum 30. September 1996 geschlossen. Alle Fernstudenten, die ihre Ausbildung zu diesem Zeitpunkt noch nicht beendet hatten, wurden in den Hauptstudiengang Diplomjournalistik des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft übernommen.

Für die Leipziger akademische Jounalistenausbildung und für die Wissenschaftlerkarriere von Hermann Budzislawski aber wurde vor allem das Jahr 1954 zur Zäsur. Das Institut erhielt am 20. September 1954 den Rang einer Fakultät. Als erster Dekan wurde Hermann Budzislawski berufen, damit selbst auch endgültig rehabilitiert.

Budzislawski sieht das Leipziger Universitätsfach Journalistik durchaus in Geistesverwandtschaft zu Karl Bücher. Er beruft sich in seinem „Öffentlichen Rechenschaftsbericht“ am dies academicus vom 15. Oktober 1958 ausdrücklich auf Büchers Institutsgründung von 1916 und sagt, das Fach habe damit „eine verhältnismäßig weit zurückreichende Tradition“ (Budzislawski 1959a: 5). Ein Jahr später, in der Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität, verweist Budzislawski (1959b) noch deutlicher auf Büchers Institut für Zeitungskunde und zählt es „zu den anfänglichen Vorläufern“ der Fakultät (4). Sein Ideal vom „sozialistischen Journalismus“ formuliert er so: „Darunter verstehen wir Menschen, die ihren Beruf nicht als Broterwerb auffassen, sondern als Dienst am Volk, dem in täglicher journalistischer Arbeit ein Bild unseres sich verändernden Lebens, ein Bild der sich verändernden Welt übermittelt wird. Das reale Erkennen dieser Veränderungen, wie sie tagtäglich als immerwährender Prozess vor sich gehen, ist ein schwieriger Vorgang. Es gehört zur Erkenntnis des Neuen, dass wir es kontrastieren mit der Vergangenheit, die wir eben hinter uns lassen, und dass wir es in seinem Fortschritt messen an dem Bild der Zukunft, das der Marxismus-Leninismus uns zu geben vermag“ (Budzislawski 1959a: 8).

Diese Bestimmung des Berufsbildes, die der niemals in Gänze angepasste Wissenschaftler vornimmt, unterscheidet sich erheblich von Bekundungen zur Mission des Journalisten, wie sie die SED-Führung bereits zu dieser Zeit und in späteren Jahren noch viel deutlicher trifft. Wir kommen darauf zurück.

Budzislawski übt sein Amt an der Spitze der Fakultät für Journalistik, der ersten und bisher einzigen an einer deutschen Universität, acht Jahre aus. Der Amtswechsel im Jahre 1962 erfolgte nach außen als normale Stafettenübergabe an einen jüngeren Kollegen. Für heutige Verhältnisse hatte Budzislawski ohnehin eine viel zu lange Amtszeit hinter sich. Dennoch, die Ablösung des gerade 60-Jährigen hatte Ursachen, über die im Folgendem zu sprechen sein wird.

Hermann Budzislawski verbleibt als Hochschullehrer an der Fakultät und leitet bis 1965 noch das große Institut für Theorie und Praxis der Pressearbeit. 1966 wird ihm aus Anlass seiner Emeritierung die Ehrendoktorwürde verliehen, und die Fakultät widmet ihm auch eine national und international beachtete Festschrift (Journalismus und Gesellschaft 1966). Budzislawski verabschiedet sich nicht in den Ruhestand, sondern hat ein Comeback als Chefredakteur und Herausgeber der Weltbühne. Auch nach seinem offiziellen Ausscheiden aus der Redaktion im Jahre 1971 bleibt er dem Blatt bis zu seinem Tod am 28. April 1978 eng verbunden. Die wissenschaftlichen Kontakte zu seiner Fakultät und zur späteren Sektion Journalistik werden locker, frieren schließlich ein. Nur in internationalen Gremien tritt er noch einige Jahre als Wissenschaftler in Erscheinung (5).

Das Kürzel „Leipziger Journalistik“

Hinter dem Kürzel verbirgt sich ein ambivalenter Begriff. „Leipziger Journalistik“ zwischen 1946 bis zum Ende der DDR lässt sich nicht nur in einer Richtung fixieren. Für nicht wenige verbindet sich mit der Leipziger Institution in dieser Periode, aus politischen Gründen oder weil sie als Studierende selbst negative Erfahrungen machen mussten, nur Ablehnung. Das ist verständlich bei all jenen, die Schaden erlitten haben, die politisch gemaßregelt, gedemütigt, verletzt, deren berufliche Karrieren beeinträchtigt oder ganz unterbrochen wurden. Für sie wird „Leipziger Journalistik“ nicht selten auf „Parteischule“ und damit auf Parteihomiletik, auf die „rein Predigtlehre“, reduziert, von Etikettierungen wie ,,Kaderschmiede der Stasi“ ganz abgesehen.

Neben politischer Reglementierung in der Ausbildung, in der Forschung und bei der sogenannten gesellschaftlichen Arbeit außerhalb des Studiums gab es aber gleichzeitig eine umfangreiche und solide fachliche Unterweisung und ernsthafte Forschungsleistungen, nicht allein auf dem Gebiet der journalistischen Methodik oder im Bereich von Sprache und Stil. Wenn wir die Anfangsjahre der „Leipziger Journalistik“ in der DDR ergründen wollen, bildet die Periode zwischen 1954 und Anfang der 1960er-Jahre, also die Zeit des Dekanats von Budzislawski, einen Schwerpunkt. Dieser Abschnitt lässt sich so charakterisieren: Mit der Gründung der Fakultät für Journalistik beginnt in der Ausbildung und Forschung die Entwicklung eines Wissenschaftsgebietes, für das es kaum Vorbilder gibt. Die bisherigen Versuche der bürgerlichen Zeitungswissenschaft und Publizistik reichen nicht aus, um zur alleinigen Grundlage werden zu können. Außerdem gibt es Berührungsängste, sich dem Vorhandenen unbefangen zu nähern und das Forschungsmaterial sachlich zu sichten. Die journalistischen Fakultäten der Sowjetunion, insbesondere in Moskau und Kiew, zu denen früh Kontakte hergestellt wurden, waren in ihrer wissenschaftlichen Entwicklung nicht wirklich weiter fortgeschritten. Ein Gastprofessor aus Kiew, Wladimir Andrejewitsch Ruban von der Taras-Schewtschenko-Universität, wirkte von 1954 bis 1956 in Leipzig. Er hielt Vorlesungen über die russische, bolschewistische und sowjetische Presse.

Die Notwendigkeit der Fakultätsgründung sieht Budzislawski (1959b: 202) im Zusammenhang mit der Entstehung eines neuen Forschungsgebietes so: „Nicht nur das organische Wachstum, sondern das Entstehen eines wissenschaftlichen Forschungsgegenstandes von hoher Bedeutung und die eigenartige Aufgabenstellung für Lehre und Forschung rechtfertigten die Gründung der neuen Fakultät im September 1954. Dabei ist man von der Namensgebung der früheren Institute abgegangen. Verglichen mit Publizistik oder Zeitungswissenschaft, ist Journalistik in mancher Beziehung der umfassendere Begriff. Publizisten sind politische Schriftsteller, also auch nichtjournalistische Autoren von Büchern, und insofern scheint der Begriff Publizistik umfassender. Andererseits kann man die Journalisten des Nachrichtenwesens, die Reporter oder, in anderer Weise, die literarischen oder künstlerischen Kritiker nicht so ohne weiteres zu den Publizisten rechnen. Die Zeitung, die mit der Zeitschrift zusammen den Hauptteil der Presse bildet, ist ein zu enger Forschungsgegenstand, weil in ihm andere Publikationsformen, wie der Rundfunk und das Fernsehen, nicht enthalten sind. All dies umfasst der Begriff der Journalistik, der außerdem gestattet, neben den historischen und philologischen Seiten des Forschungsgegenstandes auch dessen technische, organisatorische, künstlerische Seiten und vor allem die politische Aufgabenstellung zu berücksichtigen.“

Die Hochschullehrer spielen in dieser Zeit eine besondere Rolle. Sie alle hatten ihre wesentlichen Lebenserfahrungen in einer Periode erworben, die in diesem Teil Deutschlands als historisch überwunden galt. Einige von ihnen waren aktive Antifaschisten und hatten selbst Anteil am Sieg über die nazistischen Machthaber. Als Wissenschaftler und Universitätslehrer mussten sich alle erst profilieren. Aufgrund ihrer Biografien fanden die meisten bei den Studierenden relativ hohe Akzeptanz. Eine Persönlichkeit wie Budzislawski war Gewähr dafür, dass in den Anfangsjahren keine verengte Parteisicht durchgehend wirken konnte, obwohl er Dogmatismus und kleinliche Gängelei nicht aufzuhalten vermochte und selbst nicht ohne Fehler war. Innerhalb des Lehrkörpers gab es große Kontraste und zahlreiche Spannungen.

Hedwig Voegt, Hermann Budzislawski, Heinrich Bruhn (von links). Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe Karl-Heinz Röhr).

Die Professoren Budzislawski und Wieland Herzfelde (6) sowie die Hochschuldozentin und spätere Professorin Dr. Hedwig Voegt (1903-1988), Letztere in diesen Jahren politisch oft unduldsam, haben in der Anfangszeit in beträchtlichem Maße zur geistigen Prägung der Studierenden beigetragen. Mit ihren Vorlesungen zur deutschen Pressegeschichte, zur Weltliteratur bzw. zur deutschen Literaturgeschichte setzten sie einen hohen Anspruch. Hedwig Voegt stand unter einem doppelten Druck: Fachlich bekam sie die Konkurrenz ihres weit mehr ausgewiesenen und international bekannten Kollegen Hans Mayer zu spüren, dessen Veranstaltungen auch von den Journalistik-Studenten massenhaft besucht wurden, politisch war sie als Mitglied der Bezirksleitung Leipzig der SED unmittelbar dem Einfluss und den Anwürfen des selbstgefälligen und willkürlichen Parteifürsten Paul Fröhlich ausgesetzt. Nach ihrer Emeritierung 1963 hat sie sich bis zu ihrem Tod intensiv ihrer wissenschaftlichen Forschungs- und Publikationsarbeit gewidmet und durch ihre originären Schriften zur literarischen Publizistik des 18. und 19. Jahrhunderts deutschlandweit und international Aufmerksamkeit und Anerkennung gefunden.

Zweitauflage des Methodik-Lehrbuchs von 1988 (Leipzig: VEB Bibliographisches Institut)

In Bezug auf die objektiven Bedingungen, unter denen „Leipziger Journalistik“ sich entwickelte, muss allerdings auch konstatiert werden: Journalistik als Wissenschaft war unter den Bedingungen der DDR vom Journalismus als praktische Tätigkeit abhängig, mit ihm durch vielfache Bande verknüpft. Journalismus aber wurde in der DDR als Führungsinstrument der SED definiert, als jenes Führungsmittel, durch das sich die Partei den Massen artikuliert. Dieser Journalismus-Anspruch und das aus ihm resultierende Journalismus-Konzept beeinflussten maßgeblich die Profilierung dieser Wissenschaft.

Anmerkungen

  • 1 Universitätsarchiv Leipzig (UAL), PA 364.
  • 2 Die Angaben über die Zahl und die Bezeichnung der Studienfächer differieren in den einzelnen Quellen. Budzislawski selbst nennt in dem Weltbühne-Gespräch mit Gert Billing (1966) die Fächer Staatswissenschaft und Nationalökonomie. Regine Schneider (1983) führt Nationalökonomie und Jura auf. Willy Walther erwähnt in seinem Nachruf nur Nationalökonomie (vgl. Theorie und Praxis des sozialistischen Journalismus, 4/1978, S. 5). Auch Winfried B. Lerg (1978: 106) registriert nur Nationalökonomie.
  • 3 Die SED hatte auf sowjetische Weisung hin im September 1949 einen Sonderausschuss bei der Zentralen Parteikontrollkommission gebildet, der Verbindungen von Parteimitgliedern, die sich während der Emigration in Frankreich oder in der Schweiz aufgehalten hatten, mit dem angeblichen Spion Noel Haviland Field und seinem kirchlichen Hilfskomitee ausmachen sollte. Im August 1950 veröffentlichte das Neue Deutschland eine „Erklärung des Zentralkomitees und der Zentralen Parteikontrollkommission zu den Verbindungen ehemaliger politischer Emigranten zu dem Leiter des Unitarian Service Committee, Noel Field“. In dem Erinnerungsbuch von Heinz Priess (1976: 173, 227, 229) wird Field, der nach seiner Verurteilung und Haft in Ungarn lebte und dort 1974 starb, ein ehrendes Gedenken gewidmet.
  • 4 Wörtlich lautet die entsprechende Passage: „Nun ist die Disziplin, die sich zuerst Zeitungskunde oder Zeitungswissenschaft nannte und über deren Anfänge von Mitarbeitern der Fakultät anlässlich des Universitätsjubiläums an anderer Stelle berichtet wird, in Leipzig nicht erst 1954 in Erscheinung getreten. Hier entstand schon 1916 unter Professor Karl Bücher das erste deutsche Institut für Zeitungskunde, das in gewisser Weise zu den anfänglichen Vorläufern unserer Fakultät gezählt werden kann, das aber besonders in der Zeit des Nationalsozialismus unter seinem damaligen Leiter Professor Münster völlig zugrunde gerichtet wurde, und von dem außer einer Handvoll Bücher, die bei einem Bombenangriff gerettet wurden, auch materiell nichts übriggeblieben ist.“
  • 5 So vertrat er die Gewerkschaft Wissenschaft des FDGB in der Weltföderation der Wissenschaftler viele Jahre als Mitglied der Exekutive und ab Oktober 1965 als Vizepräsident des Exekutivrates. Budzislawski war außerdem Mitglied des Exekutivkomitees der IAMCR, die 1956 in Strasbourg ins Leben gerufen wurde und 1957 in Paris ihre konstituierende Sitzung abhielt (vgl. Meyen 2014).
  • 6 Wieland Herzfelde (1896 in Weggis in der Schweiz geboren, 1990 in Berlin gestorben), Sohn des Schriftstellers Franz Held und Bruder von John Heartfield, zwischen 1917 und 1933 Gründer und Leiter des berühmten Malik-Verlages, hatte 1949 einen Ruf als Professor für Soziologie der neueren Literatur nach Leipzig erhalten. Von 1952 bis 1958 gehörte er dem Institut für Publizistik und später der Fakultät für Journalistik als Hochschullehrer an. Seine Vorlesungen zur Weltliteratur erlangten weit über die Hörsäle der Leipziger Tieckstraße hinaus Berühmtheit. Sie trugen erheblich dazu bei, den Bildungshorizont der Studierenden zu erweitern.

Literaturangaben

  • Barbara Bierch: Die Säkularisation des „Roten Klosters“. Zur Lage der Kommunikationswissenschaft in Leipzig. In: Süddeutsche Zeitung vom 6. März 1992, S. 46.
  • Gert Billing: Gespräch mit Prof. Dr. Hermann Budzislawski. In: Die Weltbühne 21. Jg. (1966), Nr. 6 vom 9. Februar, S. 176.
  • Heinrich Bruhn: Hermann Budzislawski. Zu seinem sechzigsten Geburtstag. In: Zeitschrift für Journalistik 2. Jg. (1961), Heft 1, S. 1.
  • Hermann Budzislawski: Die Ausbildung der Journalisten und die Erforschung der Presse. Öffentlicher Rechenschaftsbericht vor der Fakultät für Journalistik am Tage der Universität, 15.10.1958. In: Karl-Marx-Universität. Leipziger Universitätsreden. Neue Folge, Heft 5. Leipzig: Verlag Enzyklopädie 1959.
  • Hermann Budzislawski: Die erste deutsche Fakultät für Journalistik. In: Festschrift zur 550-Jahrfeier. Leipzig: Karl-Marx-Universität 1959.
  • Journalismus und Gesellschaft. Hermann Budzislawski zum 65. Geburtstag. Festschrift der Fakultät für Journalistik. Leipzig: Karl-Marx-Universität 1966.
  • Brigitte Klump: Das rote Kloster. Als Zögling in der Kaderschmiede der Stasi. München: Herbig 1991.
  • Erik Koenen (Hrsg.): Die Entdeckung der Kommunikationswissenschaft. 100 Jahre kommunikationswissenschaftliche Fachtradition in Leipzig: Von der Zeitungskunde zur Kommunikations- und Medienwissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2016.
  • Michael Meyen: Studieren im Roten Kloster. Die Anfänge der Journalistenausbildung in der DDR. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2017.
  • Winfried B. Lerg: Hermann Budzislawski (1901-1978). Eine biografische Miszelle zur Exilpublizistik. In: Publizistik 23. Jg. (1978), S. 106-113.
  • Heinz Priess: Spaniens Himmel und keine Sterne. Berlin: edition ost 1996.
  • Kurt Reumann: Im Roten Kloster in Leipzig glaubt man seiner eigenen Leiche zu begegnen. Sind die Journalisten in der DDR etwa alle Engel gewesen? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Dezember 1991, S. 3.
  • Regine Schneider: Die Entwicklung der Fakultät/Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig. Ein geschichtlicher Abriss. Dissertation A. KMU Leipzig: Sektion Journalistik 1983.

Empfohlene Zitierweise

    Siegfried Schmidt: Hermann Budzislawski und die Leipziger Journalistik. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2017. http://blexkom.halemverlag.de/schmidt-budzislawski/ ‎(Datum des Zugriffs).