Foto: Andreas Klaer (PNN)

Forschen und leben in zwei Gesellschaften

Veröffentlicht am 31. Oktober 2019

Dieter Wiedemann hat sich in der DDR als Kunst- und Medienwirkungsforscher einen Namen gemacht und nach der Wende als Professor, Rektor und Präsident maßgeblich das Profil der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf geprägt. Michael Meyen hat mit ihm am 25. September 2019 über seinen ungewöhnlichen Weg in die Wissenschaft gesprochen.

Stationen

Geboren am 16. März 1946 in Liebschitz im Sudetenland. Schule und Abitur (1964) in Suhl. 1967 Studium an der Theaterhochschule in Leipzig. 1969 Wechsel an die Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam (HFF). 1971 dort Diplomdramaturg. Postgraduales Studium an der Universität Leipzig (Pädagogische Psychologie 1975). 1980 Promotion, 1988 Habilitation. 1971 wissenschaftlicher Mitarbeiter und später Leiter der Abteilung Kultur- und Medienforschung am Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig. 1990 Wechsel an die HFF. Bis 1993 Direktor des Instituts für Medienforschung, 1993 Gründungsbeauftragter des Studiengangs „AV-Medienwissenschaften“, 1995 dort Professor für AV-Medienwissenschaft. 1995 zunächst Rektor, ab 2000 Präsident (bis 2012). 1999 bis 2005 Vorsitzender der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur. Verheiratet, eine Tochter, ein Sohn.

Könnten Sie zu Beginn etwas über Ihr Elternhaus erzählen, über Ihre Kindheit und Jugend?

Ich war sechs Wochen alt, als wir nach Thüringen gekommen sind. Es sollte eigentlich nach Hessen gehen, aber dann waren wohl in Suhl die Bahnschienen kaputt. So hat es zumindest meine Mutter erzählt. Ich hatte eigentlich eine ganz schöne Kindheit, obwohl ich gesundheitlich etwas gehandicapt war. Ich hatte dreimal Lungenentzündung und durfte nicht mit ins Ferienlager.

Gab es Geschwister?

Einen jüngeren Bruder. Wir sind viel gewandert mit den Eltern. Ich war sogar im Westen. Aus der großen Familie meiner Mutter waren wir die Einzigen, die im Osten geblieben sind. Ab und zu habe ich die Ferien in Kemel verbracht. Das ist ein kleiner Ort im Taunus.

Wie lief es zu Hause?

In der Familie war die Oma die Herrscherin. Mein Vater hat Sie zu ihr gesagt. Sie, Mutter. Er ist relativ zeitig in die SED eingetreten und sie war streng katholisch.

Und Sie?

Ich war Ministrant, bis ich 19 war. Ich war aber auch bei den Jungen Pionieren. Damals passte das noch zusammen.

Auch mit der Jugendweihe?

Natürlich. Ich hatte die heilige Kommunion, Firmung und Jugendweihe. Das hat weder den Pfarrer gestört noch den Schuldirektor. Später wäre das so nicht mehr gegangen. Einer der Pfarrer war sehr interessant. Er hat mich zeitig aufgeklärt über die Schwachstellen der Kirche. Was im Mittelalter passiert ist, hat man im Religionsunterricht ja nicht gehört.

Ein interner Kritiker.

Die Kirche war ihm schon wichtig, er hat uns aber gesagt, dass auch da nicht alle Menschen gleich gut sind. Das habe ich mir gemerkt.

Wo haben Ihre Eltern gearbeitet?

Meine Mutter erst mal überhaupt nicht. Das war das Leitbild.

Und Ihr Vater?

Als Vulkaniseur bei Simson. Das war damals ein Beruf, in dem man alles bekommen hat. Jeder brauchte jemanden, der Reifen repariert. Es ging uns schon ganz gut, den Umständen entsprechend. Meine Mutter hat dann angefangen, für die Kirche zu arbeiten. Seelsorge und Betreuung. 1960 hat sie einen Klub der Volkssolidarität übernommen. Dort haben wir jahrelang Weihnachten gefeiert. Meine Mutter musste ohnehin dort sein, und wir Kinder waren dabei und wurden verwöhnt von den alten Leuten. Wir haben in diesem Klub auch unsere Klassenfeiern gemacht.

Als Vulkaniseur hätte Ihr Vater nicht unbedingt in die Partei eintreten müssen.

Nein. Er war schwerbeschädigt und hoffte von der SED eine Perspektive zu bekommen, die er auch bekam.

Durch den Krieg?

Nein. Er hatte eine Kinderlähmung und musste gar nicht in den Krieg. Ich glaube, er war damals überzeugt von etwas anderem.

Und Ihre Mutter?

Die war nicht zu beeinflussen. Die Oma war ja da. Bis sie gestorben ist, gab es bei uns keine Politik. Eine Ausnahme war der 17. Juni 1953.

Wie das?

Ich erinnere mich, wie der Suhler Onkel meine Eltern bat, Stalin-Bilder zu verstecken. Er dachte, dass bei uns niemand suchen würde. Als alles vorbei war, hat er alles wieder abgeholt. Es war das erste Mal, dass ich ein solches Bild gesehen habe. Ich glaube, er hat auch Bücher zu uns ins Schlafzimmer gebracht.

Gibt es in Ihrer Kindheit etwas, was auf die Theaterhochschule hindeutet?

Eigentlich nicht. Natürlich bin ich regelmäßig ins Theater gegangen. Das Kulturhaus in Suhl wurde von Meiningen aus bespielt. Eigentlich wollte ich Gartenbauarchitekt werden.

Das ist etwas ganz anderes.

Jetzt kommt mein erster Schicksalsschlag. Ich brauchte eine Gärtnerlehre für mein Studium. In der Gärtnerei in Schleusingen gab es einen Unfall. Am 6. Oktober 1964, das weiß ich noch genau. Ich sollte ein Gewächshaus auf einem Glasdach mit einem Besen reinigen, wurde durch einen Wasserstrahl getroffen und bin durch das Glasdach gefallen. In ein Orchideenbeet. Calla kann ich seitdem nicht mehr leiden.

Das klingt dramatisch.

Ich habe über 50 Prozent Blut verloren. Bis zur letzten Operation sind zwei Jahre vergangen. Dieser Tag hat mein Leben total verändert. Zwei Nerven sind seitdem tot. Ich musste mit 20 neu schreiben lernen, zuerst mit einer Schreibmaschine und dann mit links. Jetzt kommt der Sozialismus ins Spiel.

Quelle: privat

Beziehungen.

Genau. Mein Vater kannte den Direktor des Kulturhauses in Suhl und hat ihn gefragt, ob ich dort nicht irgendetwas machen kann. Ich konnte ja noch nicht schreiben und war wohl dabei zu verkümmern. Dort konnte ich die Jugendarbeit übernehmen.

Weit weg von der Gärtnerei.

Ich habe einen Jugendklub gegründet, in einem Keller. Das fanden alle cool. Dann kam das 11. Plenum (vgl. Agde 1991, Kötzing/Schenk 2015). Plötzlich brauchten die Beatgruppen deutsche Namen. So bin ich aber in die Kultur hineingekommen. Ich war bei den Einstufungen für die Künstler dabei und habe Sachen für das Bezirkskabinett für Kulturarbeit gemacht.

Zum Beispiel?

Ich habe Kindergärtnerinnen ausgebildet in Sachen Kultur. Mein Chef hat dann gesagt, dass ich studieren müsse. Für mich kam eigentlich nur Theater infrage. Zu meiner Überraschung habe ich die Aufnahmeprüfung in Leipzig bestanden. Mein Nervenspezialist hat vermutet, dass das mit meinem Unfall zusammenhängt. Durch die Umstellung auf die linke Hand sei die andere Gehirnhälfte aktiviert worden.

Das Gespür für die Kunst.

Genau. Mein erstes Praktikum habe ich dann am Theater Meiningen gemacht und das zweite in Leipzig, bei Karl Kayser. Sein Sohn hat mit mir studiert. Insofern kannte ich auch die Familie.

Wie haben Sie Kayser erlebt?

Als ich drei Tage im zweiten Theaterpraktikum in Leipzig war, bekam mein Bereichsleiter einen Anruf. Warum hat sich Dieter Wiedemann noch nicht bei Herrn Kayser vorgestellt? Ich habe mich gewundert. Ich bin dort doch zu Hause ein und aus gegangen.

Wie ist das ausgegangen?

Ich habe mich bei ihm entschuldigt. Er hatte ein Riesenbüro. Der Weg zum Schreibtisch schien endlos. Er hat mich gesiezt. Eigentlich waren wir ja per du. Am Ende hat er gesagt: Dass Sie nicht zum Theaterintendanten gekommen sind, verzeihe ich Ihnen. Aber dass Sie nicht zum Politbüromitglied Karl Kayser gekommen sind, das verzeihe ich Ihnen nicht. Drei Tage später war das aber wieder vergessen, als ich dort abends zu Besuch war.

Sie waren nicht lange in Leipzig.

Eines Tages hieß es, dass die Hälfte des Studienjahres an die Filmhochschule gehen soll. Am 7. Oktober 1969 hat das Fernsehen sein zweites Programm gestartet (vgl. Steinmetz/Viehoff 2008). Dort fehlten Dramaturgen. Die Filmhochschule hat bis dahin kaum Dramaturgen ausgebildet. Es gab ja viel mehr Theater in der DDR. Ich habe mich freiwillig gemeldet, wie fast mein gesamter Freundeskreis.

Quelle: privat

Was hat Sie am Film gereizt?

Es war etwas Neues. Das Grundstudium wurde uns angerechnet. In Potsdam lag der Schwerpunkt beim Film. Wir hatten einen ganz jungen Dozenten, der gerade in Moskau promoviert hatte. Peter Wuss. Er hat uns in die Kybernetik eingeführt. Das fand ich ungeheuer spannend. Dort bin ich zum Wissenschaftler geworden. Die Künstler konnten damit nicht so viel anfangen. Die haben lieber eine klassische Filmdramaturgie gelesen.

Sind Sie deshalb nicht beim Fernsehen gelandet?

Ich hatte kein Angebot. Vielleicht war ich denen zu theoretisch. Gefragt hat mich die Defa. Ich hätte beim künstlerischen Direktor des Spielfilmstudios als wissenschaftlicher Mitarbeiter anfangen können. Das lag in der Zeit. Die Leitung war damals interessiert an Wissenschaft, und es gab auch Filme über Kybernetik.

Sie erzählen das im Konjunktiv.

Mein Leben ist von Zufällen bestimmt worden. Die Diplomarbeit wollte ich über Filmwirkung schreiben. Peter Wuss hat mich damit zu Lothar Bisky geschickt, an das Zentralinstitut für Jugendforschung nach Leipzig. Bisky hatte gerade seine erste große Untersuchung gemacht, zu den Filmen „Ich war neunzehn“ und „Zeit zu leben“. Dadurch war er bekannt geworden (vgl. Bisky/Friedrich 1971).

Was hat Bisky zu Ihrem Wunsch gesagt?

Er hat mir Befragungsdaten gegeben. Es ging um das, was Jugendliche von Kinofilmen erwarten. Eigentlich sollte daraus eine Dissertation für einen Pädagogen werden, aber die war irgendwie zeitlich verschoben worden.

Hatten Sie vorher schon mit Datenanalyse zu tun?

Ich habe in Leipzig einen Schnellkurs bekommen. Mittelwerte, Repräsentativität und so weiter. Dann kam ein Hammer: Lothar Bisky sagte, dass meine Diplomarbeit niemand lesen dürfe, auch Peter Wuss nicht. Vertrauliche Verschlusssache. Ich schreibe das Gutachten. Deine Hochschule bekommt nicht einmal ein Exemplar.

Und Peter Wuss?

Er kannte das aus Moskau.

Auf diesem Weg sind Sie also in die Medienforschung gekommen.

Als Bisky mir einen Job angeboten hat, hatte ich schon bei der Defa unterschrieben. Sie wissen ja selbst, wie das in der DDR war. So ein Vertrag war eine Lebensstellung. Bisky hat mich dort dann heraustelefoniert. Ich musste auch gleich in Leipzig anfangen. Die Stelle musste sofort besetzt werden. Sonst wäre sie wieder weg gewesen.

Gibt es jemanden, den Sie als Ihren akademischen Lehrer bezeichnen würden?

Peter Wuss und Konrad Schwalbe. Filmästhetik. Da war Schwalbe für uns alle wichtig. Wir durften außerdem an den Sondervorführungen westlicher Filme für die Defa-Leute teilnehmen. Mittwoch im Kino „Defa 70“ in Potsdam und Donnerstag beim Filmverband in Berlin. Das hatten wir Peter Wuss zu verdanken. Ich habe dort Ingmar Bergman hoch und runter gesehen. Auch US-Filme. Die Verleiher wussten natürlich, dass Progress diese Filme nicht kaufen kann. Das wäre viel zu teuer gewesen.

Hauptsache, man bringt die Ideen ins Land.

Die Defa-Leute hatten da schon ihre Lieblinge. Filme, die sie auch gerne gemacht hätten. Auch tschechische Produktionen, die dann bei uns nicht ins Kino kamen. Wir hatten relativ viele Freiheiten und sind auch ideologisch wenig beeinflusst worden. Die Rotlichtbestrahlung hatten wir ja schon in Leipzig. In Potsdam ging es um Produktionstechnik, vor allem aber um die reine Kunst. Das Studium war auch internationaler als in Leipzig. Bei meinem Diplomfilm kam der Kameramann aus dem Irak und der Regisseur aus dem Libanon.

Hat der Libanese in der DDR gewohnt?

Er konnte abends nach Westberlin fahren und Whisky holen, wenn wir nicht weiterkamen. Wir haben schon davon profitiert. Auch wenn wir mal ein Buch brauchten. Wobei die Filmbibliothek in Berlin phantastisch war, genau wie die Betreuer in der Praxis.

Wie würden Sie im Rückblick Ihre Position am Zentralinstitut für Jugendforschung beschreiben (vgl. Friedrich et al. 1999)?

Als ich hinkam, war ich der Exot. Walter Friedrich hat mir ziemlich bald in einem langen Gespräch zwei Dinge gesagt. Erstens: Mit einem künstlerischen Diplom kommen Sie hier nicht weit. Sie müssen noch etwas Richtiges studieren.

Deshalb das Aufbaustudium in Pädagogischer Psychologie.

Genau. Das ging nebenbei, in drei Jahren, und erlaubte dann auch zu promovieren.

War das der zweite Rat des Direktors?

Er hat gesagt: Wir sind ein Leistungsinstitut.

Was bedeutet das?

In der Kunst hatten wir zwar Termine, aber es war normal, dass man erst drei oder vier Wochen später fertig wurde.

Jetzt also Produzieren im Takt.

Ja. Wir mussten Vier-Wochen-Pläne machen und die dann abrechnen. Am Schluss nur noch im Quartal, aber trotzdem. Davon hing die Leistungsprämie ab. Walter Friedrich hat das konsequent durchgezogen, auch sich selbst gegenüber.

War der Inhalt egal?

Natürlich nicht. Seine Anmerkungen waren manchmal schon hart. Die von Lothar Bisky übrigens auch. Wenn sie etwas gut fanden, haben beide aber auch überschwänglich gelobt. Geprägt hat mich auch Klaus-Peter Noack, ein Philosoph. Unser Intellektueller. Er ist leider früh verstorben. Wir haben Sartre diskutiert. Es gab einen kleinen Kreis bei Lothar Bisky, bei dem ich zwischendurch auch gewohnt habe.

Wie kam es dazu?

Das war einer der Unterschiede zwischen Defa und ZIJ. In Leipzig musste ich mich selbst um eine Wohnung kümmern. Das war damals nicht so leicht.

Aber Sartre gab es.

Am Institut hatten wir viele wichtige Westbücher, schon durch die Buch-Messe. Als die Wende kam, kannte ich die Westkollegen. Wenigstens aus der Literatur. Umgekehrt die mich aber auch.

Können Sie etwas zu Ihren Studien sagen?

Bei meiner ersten Untersuchung ging es um „Die neuen Leiden des jungen W.“.

Der Roman von Ulrich Plenzdorf.

Die Defa wollte das verfilmen, erst in der Regie von Ingrid Reschke und nach deren Tod dann von Heiner Carow. Ich bekam das Drehbuch und sollte eine Wirkungsstudie machen. In Halle gab es eine berühmte Inszenierung von Horst Schönemann, mit Reinhard Straube und Ursula Werner in den Hauptrollen. Ich habe das mit Schulklassen gesehen. Die eine Hälfte ging ins Theater und die andere las das Buch. Der Hinstorff-Verlag hat mir dafür extra 200 Exemplare gedruckt. Bis dahin gab es den Text ja nur in der Zeitschrift Sinn und Form.

Also ein klassisches Experiment mit Kontrollgruppe.

Mit einer Befragung vorher, ja. Was wissen Sie über Goethes Werther? Hinterher habe ich gefragt, ob sie den Film gerne sehen würden. Der Verlag und das Theater fanden das auch spannend. Es gab etwa 150 Freikarten. Ich musste aber immer dabei sein und konnte beim zehnten Mal mitsprechen.

Was ist herausgekommen?

Das Stück fanden alle toll. Fast die Hälfte der Schüler wollte sogar mit Edgar Wibeau befreundet sein (vgl. Wiedemann 1973). Auf meinen Beitrag in der FDJ-Zeitschrift Forum hat dann aber Friedrich Karl Kaul reagiert.

Der berühmte Anwalt.

Eigentlich wollte er Plenzdorf niedermachen. In einem Nebensatz ging es auch um Soziologen, die angeblich beweisen wollen, wie schlecht die Jugend ist. Die Inszenierung hat dadurch zwar an Interesse gewonnen, die Defa hat sich aber nicht mehr getraut, den Stoff zu machen. Das Drehbuch ist dann in der Bundesrepublik verfilmt worden, von Eberhard Itzenplitz. Ich habe ihn 1990 kennengelernt. Er kannte meine Studie.

Und Heiner Carow?

Er hat mir später gesagt, dass es vermutlich gar nicht an mir lag. Man habe gedacht, dass unter Honecker alles möglich sei, und dann gemerkt, dass das so nicht stimmte. „Paul und Paula“ hat er dann durchbekommen.

Wie ging es am ZIJ weiter?

Wir haben eine große Kulturstudie gemacht. „Kultur 73“. Ich war für Theater, Film und Kunst verantwortlich. Ich habe wieder ein Experiment gemacht und einmal mit Fotos nach Filmen gefragt und einmal ohne. Defa, sowjetische Filme, Hollywood.

Offenbar waren Sie eher an Untersuchungsdesigns interessiert als an den Ergebnissen.

Am Anfang war das so. Wir haben ja für fünf Panzerschränke geschrieben. Einer stand im ZK, einer im Zentralrat der FDJ, einer im Amt für Jugendfragen und einer bei uns im Haus.

Und Nummer fünf?

Das wollten wir gar nicht so genau wissen, hatten aber alle unsere Vorstellungen. Man konnte Einfluss nehmen, wenn man methodisch gut war. In den 1970er-Jahren gab es ja noch das Institut für Meinungsforschung beim ZK der SED (vgl. Niemann 1995).

Quelle: privat

Fernsehen und Hörfunk hatten auch eigene Abteilungen (vgl. Mühlberg 1993, Meyen 2003: 18-25).

Es gab noch mehr. In Leipzig ein Institut und in Karl-Marx-Stadt an der Pädagogischen Hochschule Fritz Beckert, der Fernsehforschung gemacht hat (vgl. Beckert 2015). Dazu noch ein paar Leute in Potsdam und Erfurt. Geredet haben wir weniger über die Ergebnisse, sondern über den Weg dorthin. Wir wollten methodisch die Besten sein. Walter Friedrich hat ja damals die „Bibel“ geschrieben (vgl. Friedrich 1975). Wir haben alle gegengelesen.

Das Institut für Meinungsforschung beim ZK wurde 1979 geschlossen (vgl. Niemann 1995).

Da wurden dann die Ergebnisse wichtiger. Es gab eine Neugierde. Man wollte wissen, was in der Gesellschaft passiert. In den 1970er-Jahren war das offener. Für „Kultur 73“ hatten wir 4000 Befragte.

Ihre Doktorarbeit steht in einer Liste der „geheimen DDR-Dissertationen“ (vgl. Bleek/Mertens 2004: 249).

Es ging um Filmwirkung (vgl. Wiedemann 1980).

Aus heutiger Sicht eher mäßig spektakulär.

Das meiste, was wir gemacht haben, durfte nicht veröffentlicht werden. Ich habe an der Humboldt-Uni promoviert und konnte dafür mithilfe des ZIJ Untersuchungen machen. Das wurde langsam auch öffentlicher, zum Beispiel über die Zeitschrift Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft. Dort hat Lothar Bisky veröffentlicht. Auch Hans-Jörg Stiehler und ich. Wir beide haben auch etwas für die Defa gemacht. Eine Auswertung internationaler Literatur (vgl. Wiedemann 1983). Das wurde auch im Westen gelesen.

So sind Sie zum Filmforscher geworden.

Die Hauptverwaltung Film wurde neugierig. Dort arbeitete Siegfried Friese, mit dem ich studiert hatte. Die anderen Länder waren schon weiter mit solchen Kinountersuchungen. Die Sowjetunion, die Bulgaren, die Ungarn, die Tschechen. Wir haben uns regelmäßig auf Tagungen getroffen.

Hans-Jörg Stiehler (2014) hat gesagt, dass es beim Film gar nicht so sehr um die Erziehung ging, sondern um Planauflagen. Um den Kartenverkauf.

Genau. Damals waren 75 Prozent der Kinozuschauer Jugendliche. Die wollte man erreichen. Und wir sollten herausfinden, mit welchen Filmen das geht. Das hat auch die Defa interessiert und die Regisseure.

Hatten Sie Einfluss auf das, was dann ins Kino kam?

Ich durfte zweimal mit zum Filmeinkauf, ins sozialistische Ausland. Die Defa hatte außerdem am Anfang jeden Jahres eine Filmschau, in Dresden. Ich habe einen Bericht für Lothar Bisky und Walter Friedrich gemacht und geschätzt, wie viele Zuschauer die Filme wohl haben werden. Das war aber mehr ein interner Spaß.

Und? Lagen Sie richtig?

Bei den Erfolgsfilmen ja. Bei manchen kleinen Filmen ging es total daneben.

Hans-Jörg Stiehler (2014) hat auch erzählt, dass Sie ein Jahr Veröffentlichungsverbot hatten.

Ja.

War das so dramatisch, wie es jetzt klingt?

Ich fand das nicht so dramatisch. Das ZIJ war wie eine Heimat. Die blieb mir ja.

Was war passiert?

Ich habe auf einer Filmkonferenz eine Studie vorgestellt. Zahlen. Im Raum saß ein Westjournalist, der für die DKP-Presse schrieb und uns gelobt hat. Tolle Jugendforschung. Was die alles wissen. Ein Text ist dann im Deutschland Archiv erschienen und so zu Margot Honecker gekommen. Sie hat im Amt für Jugendfragen angerufen. Der spricht nicht mehr. Dass ich nicht mehr schreiben durfte, war unangenehmer. Es gab ja inzwischen Zeitschriften, die sich auch etwas getraut haben. Letztlich hatte auch das aber wieder eine gute Seite.

Wie das?

Ich bin so zur Theatersoziologie gekommen. Das war ja etwas ganz anderes als Film und Jugend. So war ich aus der Schusslinie und habe in Theater der Zeit veröffentlicht und in den Weimarer Beiträgen.

Sie haben trotzdem auch weiter zum Kino geforscht (vgl. Wiedemann/Stiehler 1990).

Horst Pehnert, der Filmminister, wollte eine große Studie. Das war „Kino-DDR 80“. Wirklich repräsentativ. Da ging es um Zuschauerstrukturen. Das hat das ZK nicht interessiert, aber den Verleih Progress und die Hauptverwaltung Film. Wir haben dadurch alle Bezirksfilmdirektionen kennengelernt und wussten dann, wie dort jeweils gearbeitet wird.

Wurde das veröffentlicht?

Wir konnten darüber relativ frei reden. Kino war 1980 nicht mehr der wichtigste Erziehungsort. Hier konnten jetzt Sachen entstehen, die vorher nicht möglich gewesen wären. „Solo Sunny“ von Konrad Wolf. Wir haben dann bis 1984 bestimmt sieben oder acht Filme untersucht, immer nach dem gleichen Repräsentanzmodell. Auch wieder Plenzdorf.

„Insel der Schwäne“?

Ja. Auch da meinten die Genossen wieder: So einen Film macht man nicht. Es gab heftige Attacken, zum Beispiel in der Jungen Welt.

Chefredakteur Dieter Langguth hat sich dort auf Egon Krenz berufen. Der habe höchstpersönlich einen Verriss gefordert (vgl. Meyen/Fiedler 2013: 99).

Regisseur Herrmann Zschoche hatte meine Studie. Die Zuschauer fanden die Figuren gut. Von den Journalisten hat eigentlich nur Hans-Dieter Tok den Film unterstützt.

Leipziger Volkszeitung.

Ja. In Leipzig lief der Film im Abendprogramm. In Gera auch. Manche Bezirke haben ihn auf den Nachmittag geschoben. Dort hat er dann natürlich Zuschauer verloren. Rostock hat ihn sogar ganz aus dem Programm genommen.

Sie haben schon Anfang 1989 geplant, das ZIJ zu verlassen und an die HFF zu gehen. Wie lief so ein Wechsel in der DDR?

Ich war inzwischen habilitiert (vgl. Wiedemann 1988) und Lothar Bisky an der Filmhochschule. Er hat gesagt, dass er mich braucht. Walter Friedrich war strikt dagegen. Im Kaderplan stand ich als Forschungsdirektor. Es gab Telefonate und Streit.

Aber Sie haben sich durchgesetzt.

Mit einem einfachen Argument. Ich habe in einer Versammlung gesagt: Mit 40 ist man zu alt für die Jugendforschung. Zustimmen mussten dann noch das Amt für Jugendfragen, der Zentralrat der FDJ und die Abteilung Jugend im ZK. Die Filmhochschule war dort wichtig und Lothar Bisky sowieso. Den Vertrag in Potsdam habe ich im August 1989 unterschrieben. Als ich dann dort anfing, war alles anders.

Wie sehen Sie heute den Dieter Wiedemann aus dem Herbst 1989?

Da muss ich von einem Familienerlebnis erzählen. Wir sind am 7. Oktober mit beiden Kindern nach Ungarn gefahren, zu einem Freund an den Balaton. Schon am Leipziger Flughafen wurden wir etwas verwundert verabschiedet, auch von den Zöllnern. Ein Habilitierter reist aus, mit Familie. Der Fahrer in Budapest hat gefragt, ob er uns nach Wien bringen soll.

Was haben Sie gesagt?

Wir wollten an den Balaton. Katharina war 13 und Sebastian zehn. Wir haben viel mit dem ungarischen Freund diskutiert. Dann trat Honecker zurück, und er hat gesagt: Jetzt brauchen sie dort Leute wie dich. Als wir zurückkamen, hingen am Auto vier Zettel: „Ruft bitte sofort zurück. Mutti und Vati“.

Alle dachten, Sie seien drüben geblieben.

Diese Erfahrung hat mich verändert. Ich bin sehr schnell aus der Partei ausgetreten. Und dann ging es schon in Potsdam los.

Wie viel Dieter Wiedemann steckt heute in der HFF?

Die Hochschule ist wissenschaftlicher geworden. Als ich kam, gab es dort keinen wissenschaftlichen Studiengang. Die Idee Filmuniversität kam von mir. Was heute dort läuft, haben die Leute umgesetzt, mit denen ich damals dort war. Entscheidend war sicher der Neubau. Ich werde nie wieder so viele Kasernen und neue Gebäude sehen wie zwischen 1990 und 1996. Es gab ja auch die Debatte, ob die HFF überhaupt bleiben soll.

Es gab den Plan, die Hochschule mit der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin zusammenzulegen.

Das wollten beide Landesregierungen. Reinhard Hauff in Berlin und ich haben aber Nein gesagt. Wir haben uns eng abgestimmt, auch in den Reaktionen auf die Politik.

Würde die Hochschule heute anders aussehen, wenn Sie von einem Westdeutschen geleitet worden wäre?

Das weiß ich nicht. Ich war ja lange einer der wenigen Ossis, die überhaupt eine Hochschule geleitet haben. In Weimar gab es noch Gerd Zimmermann, an der Bauhaus-Uni.

Inzwischen sind wir wieder bei null.

Mein Vorteil war, dass ich immer von Wessis ausgewählt wurde. In den Kommissionen gab es ja keine Ostdeutschen. Die Kollegen wussten, mit wem sie es zu tun haben. Sie kannten mich aus der Literatur und manche auch persönlich. Karl Friedrich Reimers zum Beispiel.

Professor an der HFF in München.

Reimers war dann in meiner Berufungskommission, wie Lothar Bisky. Die Konkurrenz war groß. Helmut Korte hatte sich beworben. Eigentlich alle, die im Feld später Rang und Namen hatten. 1993 gab es noch nicht so viele Medienprofessuren im wissenschaftlichen Bereich.

War die Neugründung in Leipzig für Sie eine Option?

Ich hatte mich beworben, auf den Lehrstuhl für Medienwissenschaft. Reimers hat mir aber signalisiert, dass er dort Rüdiger Steinmetz sieht. Ich habe meine Bewerbung zurückgezogen und dann noch eine Urkunde bekommen. Platz drei. Meine Familie hat das mehr gewurmt als mich.

Die Heimatstadt.

Ich bin lange gependelt. Meine Kinder hatten in der Zeit nicht viel von mir. Wenn ich samstags nach Hause kam, hieß es: Papa braucht seine Ruhe. Und wenn sie nach Potsdam kamen, wollten wir die Zeit genießen. Probleme konnte man da schwer diskutieren.

Was hat Ihre Frau beruflich gemacht?

Sie war stellvertretende Personalchefin der Stadt Leipzig. 30.000 Beschäftigte. Die Kinder hatten da nicht viel von uns.

Viele DDR-Akademiker mussten das wissenschaftliche Feld nach 1989 verlassen. Wie haben Sie Ihren Weg auf eine Professur erlebt? Gab es Momente der Ungewissheit, des Zweifels?

Die ersten Jahre waren schon schwierig. 1990 ging Lothar Bisky endgültig in die Politik. Er behielt zwar seine Professur, war aber im Landtag gebunden. An der Hochschule war ich für einige ein Bisky-Mann. Ich habe dann das Institut für Medienforschung aufgebaut, Studien mit Prognos gemacht und der Hochschule so Geld gebracht. Rektor wurde Wolf-Dieter Panse.

Ein Schauspieler.

Er kannte mich als Jugendforscher und fand das wichtig, was ich dort gemacht habe. Er wusste, dass ich von der Theaterhochschule komme und deshalb nie die Schauspielausbildung abschaffen werde. Ich war HFF-Absolvent, gut vernetzt und so wenig angreifbar. Ich habe sogar beim Arbeitsamt Geld besorgt für Leute, die eigentlich schon entlassen waren. Das war nicht viel anders als früher bei meiner Kunstforschung

Wie viel Zeit bleibt für die Wissenschaft, wenn man Rektor und Präsident einer Filmhochschule ist?

Am Anfang dachte ich noch: viel. Damals habe ich auch noch gelehrt. Dann hat das Land entschieden, dass der Rektor Präsident wird und damit der oberste Verwaltungsbeamte. Ich halte das immer noch für falsch. Meine Professur habe ich sehr schnell Claudia Wegener zur Verfügung gestellt. Ich fand das schade. Ich habe gern gelehrt und gern geforscht. Eigentlich hätte ich mehr zum Kinderfernsehen in der DDR schreiben müssen. Das ist dann auch eine Frage der Kraft.

Als Sie in den Ruhestand gegangen sind, hat Matthias Platzeck Ihnen eine „Mischung aus Realitätssinn und Visionen“ attestiert. Was war stärker in dieser Mischung, der Realitätssinn oder die Visionen?

Es ging schon um das Zusammenspiel. Meine erste Vision war eine einheitliche Hochschule. Als ich Rektor wurde, gab es drei Fachhochschul- und fünf Hochschulstudiengänge. Vision zwei war eine Kunsthochschule. Das hat mich ein bisschen an die SED erinnert. Ich wurde im Kreis der Kunsthochschulrektoren befragt. Was ist denn beim Film die Kunst? Vor allem die klassischen Künste haben gezweifelt. Als die Designer dann später bei uns zur Rektorenkonferenz kamen, waren sie begeistert. Im Foyer hängt ein Thomas Brasch. Das ist schon was.

Gab es noch mehr Visionen?

Das Promotionsrecht. Einige haben gesagt: Das geht zulasten der Kunst. Da hat uns Johanna Wanka geholfen.

Als Wissenschaftsministerin des Landes Brandenburg.

Ja. Sie war für die Hochschule sehr gut. Wir kannten uns aus der DDR. Ich habe aber auch einen Fehler gemacht.

Die Geschichte mit dem Hochschulnamen?

Genau. Wir hatten ein Professorium. Dort wurde plötzlich gefragt, wozu wir noch den Namen Konrad Wolf brauchen, wenn wir Universität werden wollen. Das kam nicht von mir, aber ich habe es auch nicht verhindert und dann eher nebenbei einem Journalisten erzählt. Das lief noch am gleichen Tag in den Nachrichten. Platzeck und Wanka haben sich sofort distanziert und gefragt, wie ausgerechnet mir so etwas passieren kann. Ich hatte ein paar Jahre vorher noch für den Namen gekämpft. Jetzt bin ich nachts angerufen worden von Schauspielern, die mir nicht mehr die Hand geben wollten.

Sie waren und sind Mitglied in zahlreichen Jurys, Beiräten, Kuratorien. Wenn Sie ein Ranking machen müssten: Was würde dann oben stehen?

Die GMK.

Foto: Ingo Kock

Die Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur.

Ja. Dieser Kreis hat mir sehr geholfen. Dieter Baacke habe ich Anfang 1990 kennengelernt. Er kam mit seinen Leuten nach Potsdam. Wichtig waren auch Bernd Schorb und sein Institut für Medienpädagogik in München. Mit Schorb habe ich schon 1988 in Leipzig Pläne gemacht. Das waren wichtige Wegbegleiter. Später sind wir hier von der Schweiz entdeckt worden. Seit 2002 bin ich im Beirat der Fachhochschule Design & Kunst in Luzern. Dort konnte ich erleben, wie dort die Entwicklung von einer reinen Fachschule zu einer Hochschule läuft. So ähnlich wie bei uns. Kurze Zeit war auch Babelsberg 03 wichtig für mich.

Der örtliche Fußballverein. Sie sind dort Ende 2012 Präsident geworden.

Ich habe an der HFF aufgehört, bin aber trotzdem nicht in ein Loch gefallen. Das hat mich ausgefüllt. Es war von Anfang an geplant, dass das nicht allzu lange dauert. Ich bin dem Verein aber immer noch verbunden.

Die Jurys kamen jetzt nicht vor.

Grimme war schon wichtig. Nicht so sehr wegen der Preise, sondern wegen der Leute, die man da kennengelernt hat. Ein anderes System. Dort sind immer sehr viele Journalisten. Interessant war auch, wie man durch andere beeinflusst wird. Man ist ständig dabei, sich selbst zu überprüfen. Spaß hat auch der „Goldene Spatz“ gemacht.

Das Kinderfilmfestival.

Mein Hobby, ja. Wenn ich da etwas gesagt habe, haben die anderen schon irgendwie zugestimmt. Grimme hat mich mehr gefordert.

Gibt es Wissenschaftler oder Künstler, die Sie als Vorbilder bezeichnen würden?

Walter Friedrich. Seine Art, eine wissenschaftliche Institution zu leiten. Da habe ich viel gelernt. Lothar Bisky war eher Freund als Vorbild.

Und bei den Künstlern?

Konrad Wolf. Ich habe ja eine Wiederholungsuntersuchung gemacht zum Film „Ich war neunzehn“ (vgl. Wiedemann 1987) und lange mit ihm darüber gesprochen. Da wirkte er etwas unterkühlt. Seine Filme fand ich aber spannend. Die Bandbreite. Er hat sich mit seinem Namen dafür eingesetzt, dass an der Akademie der Künste Hochschulfilme gezeigt werden konnten, die man sonst nirgendwo sehen konnte. Im Theater haben mich eher Schauspieler wie Eberhard Esche beeindruckt.

Kein Regisseur?

Peter Schroth. Ein toller Mensch und der Ziehvater von Andreas Dresen.

Wenn Sie auf knapp ein halbes Jahrhundert in der Medienforschung zurückblicken: Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

Was ich immer noch ganz gut finde, ist meine Habilitation (vgl. Wiedemann 1988). Ich habe dort versucht, die Wechselwirkungen der Künste soziologisch zu untersuchen. Der Kinobesucher, der zu Konzerten geht, zum Fußball. Ich wollte wegkommen von der Idee, dass ich mit einem einzigen Film jemanden beeinflussen kann. Ich wollte wissen, was von der riesigen Menge an Eindrücken tatsächlich bei uns hängenbleibt.

Hochaktuell im Internetzeitalter.

Was macht das mit uns? Früher war das überschaubar. Früher hat die halbe DDR über einen Roman von Erwin Strittmatter diskutiert. Jetzt findet das so nicht mehr statt. Zumindest gedanklich habe ich das vorbereitet. Methodisch geht das heute einfacher. Schon die Datenverarbeitung.

Und andersherum: Gibt es etwas, was Sie heute anders machen würden?

Ich würde familiäre Entscheidungen klarer treffen. Neun Jahre Pendeln ist einfach zu viel. Sonst habe ich viel Glück gehabt. Ich hatte diesen schweren Unfall, und trotzdem ist alles gut geworden.

Festschrift für Dieter Wiedemann (Stiehler/Mikos 2006)

Zu welchen Kollegen hatten oder haben Sie einen besonders guten Draht?

Am ZIJ zu Hans-Jörg Stiehler, zu Bernd Lindner. Holm Felber habe ich nur noch kurz erlebt. Lothar Bisky sowieso. An der HFF Hans Hattop, Kameraprofessor und Vizepräsident. Auch diese Freundschaft hält bis heute. Oder Gerd Gericke, ein genialer Filmdramaturg und ein phantastischer Lehrer. Ich kenne ihn noch von der Defa. Vielleicht ist das der Vorteil einer Kunsthochschule. Man hat nicht nur mit stromlinienförmigen Leuten zu tun. Das gilt auch für Lothar Mikos oder Klaus Stanjek, der Senatsvorsitzender war. Unsere Auseinandersetzungen waren nicht immer schön, aber dann war es auch wieder gut und wir haben ein Bier getrunken. Auch so ein Typ wie Rosa von Praunheim, der bei uns Professor war. Erst konnten wir überhaupt nicht miteinander und dann hat er mir Gedichte gewidmet.

Und umgekehrt: Gab es Gegner, Konkurrenten, Feinde?

Feinde nicht, glaube ich. Natürlich gab es immer wieder Leute, die anderer Meinung waren. Ich habe erlebt, wie der Kanzler entmachtet wurde, der vorher mit mir gleichberechtigt war.

Durch die Einführung der Präsidentschaft.

Ja. Wenn sich dieses formale Verhältnis plötzlich ändert, ist das schwierig für den, der Macht verliert, und für mich in diesem Fall auch.

Was bleibt eines Tages von Dieter Wiedemann in der Medienforschung? Was sollte bleiben, wenn Sie es beeinflussen könnten?

Der Neubau wird sicher bleiben. Auch der Anbau ist ja noch in meiner Zeit entstanden. Es gibt dort immer noch den Dieter-Wiedemann-Weg, den mir damals die Studenten geschenkt haben. Und vielleicht auch das, was meine Biografie ausmacht. Wie lebt man in zwei Gesellschaften? Wie kommt man damit zurecht? Und wie schafft man es, trotzdem Freundschaften zu halten?

Literaturangaben

  • Günter Agde (Hrsg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Berlin: Aufbau 1991.
  • Fritz Beckert: Der Mensch kommt in der Journalismustheorie zu kurz. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.
  • Lothar Bisky/Walter Friedrich: Massenkommunikation und Jugend. Zur Theorie und Praxis der Massenkommunikation und ihren Einflüssen auf die sozialistische Persönlichkeitsbildung und Bewusstseinsentwicklung Jugendlicher. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1971.
  • Wilhelm Bleek/Lothar Mertens (Hrsg.): Bibliographie der geheimen DDR-Dissertationen. München: Saur 2004.
  • Walter Friedrich (Hrsg.): Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozess. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1975.
  • Walter Friedrich/Peter Förster/Kurt Starke (Hrsg.): Das Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig 1966–1990. Geschichte, Methoden, Erkenntnisse. Berlin: edition ost 1999.
  • Andreas Kötzing/Ralf Schenk: Verbotene Utopie. Die SED, die DEFA und das 11. Plenum. Berlin: Bertz + Fischer 2015.
  • Michael Meyen: Einschalten – Umschalten – Ausschalten. Das Fernsehen im DDR-Alltag. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2003.
  • Michael Meyen/Anke Fiedler: Wer jung ist, liest die Junge Welt. Die Geschichte der auflagenstärksten DDR-Zeitung. Berlin: Christoph Links 2013.
  • Lieselotte Mühlberg: Hörerforschung des DDR-Rundfunks. In: Heide Riedel (Hrsg.): Mit uns zieht die neue Zeit… 40 Jahre DDR-Medien. Berlin: Vistas 1993, S. 173-181.
  • Heinz Niemann: Hinterm Zaun. Politische Kultur und Meinungsforschung in der DDR. Die geheimen Berichte an das Politbüro der SED. Berlin: edition ost 1995.
  • Rüdiger Steinmetz/Reinhold Viehoff (Hrsg.): Deutscher Fernsehen Ost. Eine Programmgeschichte des DDR-Fernsehens. Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2008.
  • Hans-Jörg Stiehler: Ich bin ein Teamarbeiter. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2014.
  • Dieter Wiedemann: Würden Sie mit Edgar Wibeau befreundet sein wollen? In: Forum 27. Jg. (1973), Heft 8, S. 15.
  • Dieter Wiedemann: Filmkommunikation und Persönlichkeitsentwicklung Jugendlicher. Empirische Ergebnisse und theoretische Aussagen zur Entwicklung des Verhältnisses Jugendlicher zum Film. Dissertation A. Berlin: Humboldt-Universität 1980.
  • Dieter Wiedemann: Zur sozialen Funktion des Kinos in den achtziger Jahren. Empirische Tatsachen und theoretische Überlegungen zur gesellschaftlichen Bedeutung des Films im Kino. Unter Mitarbeit von Hans-Jörg Stiehler. Potsdam: Betriebsakademie des VEB DEFA-Studios für Spielfilme 1983.
  • Dieter Wiedemann: Ich war neunzehn – Intention und Wirkung. In: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft 28. Jg. (1987), Nr. 29, S. 46-61.
  • Dieter Wiedemann: Wechselbeziehungen der Künste und Persönlichkeitsentwicklung Jugendlicher. Dissertation B. Berlin: Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED 1988.
  • Dieter Wiedemann/Hans-Jörg Stiehler: Kino und Publikum in der DDR – der kurze Weg in eine neue Identität? In: Media Perspektiven 1990, Nr. 7, S. 417-429.

Weiterführende Literatur

  • Hans Jörg Stiehler/Lothar Mikos (Hrsg.): Die Kunst des Betrachters: Jugendsoziologie, Kinderfilm und Medienkompetenz. Festschrift für Dieter Wiedemann. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2006.

Empfohlene Zitierweise

Dieter Wiedemann: Forschen und leben in zwei Gesellschaften. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2019. http://blexkom.halemverlag.de/wiedemann-interview/ ‎(Datum des Zugriffs).