Walter Hagemann (Quelle: Privatarchiv Horst Hagemann)

Michael Schmolke: Hagemann war wirklich ein Systematiker

Thomas Wiedemann hat Michael Schmolke am 17. Dezember 2010 in Salzburg nach seinen Erinnerungen an sein Studium bei Walter Hagemann am Institut für Publizistik der Universität Münster befragt (vgl. Wiedemann 2012). BLexKom dokumentiert dieses Gespräch aus Anlass des 50. Todestages von Walter Hagemann am 16. Mai 2014.


Michael Schmolke (Jahrgang 1934) studierte ab 1954 Publizistikwissenschaft in Münster, promovierte rund zehn Jahre später bei Henk Prakke und schlug dann eine wissenschaftliche Karriere ein, deren Ziel von 1971 bis zur Emeritierung im Jahr 2002 eine ordentliche Professur für Publizistik und Kommunikationstheorie an der Universität Salzburg war.

Ich habe gelesen, dass Sie 1954 in Münster zu studieren begonnen und von Walter Hagemann und dem Fach zuvor nur wenig gewusst haben (vgl. Schmolke 2007).

Das einzige Vorwissen, das ich hatte, war, dass es das Fach nur an drei Standorten gab: in Berlin, in Münster und in München. Meine Mutter hat mir eigentlich nie hineingeredet in meine Entwicklungen und Entscheidungen, aber in diesem Fall meinte sie: Nach Berlin oder München kommst du nicht, dafür habe ich kein Geld. Also Münster. Sie hat da für mich einen Platz im Studentenwohnheim besorgt. Da musste ich hin. Und damit war das erledigt. Meine Mutter wollte, dass ich Lehrer werde. Und eigentlich habe ich kein Hauptfach gewählt. Ich habe immer so studiert, dass ich genauso gut in Deutsch oder Geschichte als Lehrfach abschließen konnte, was ich aber nie wirklich wollte. Was die Publizistik angeht: Ich hörte dann den Namen Walter Hagemann und habe im Studentenheim ziemlich schnell etwas über ihn erfahren. Da waren zwar sonst keine Publizisten, aber die Germanisten und Historiker wussten recht gut Bescheid. Auf die Publizisten haben sie natürlich etwas kritisch geblickt, aber nicht ablehnend.

Wurde man also nicht als Publizistikstudent belächelt?

Nein, unter den Studenten nicht. Dagegen war die Stimmung in der Fakultät immer gegen die Publizistik. Das hat sich erst unter Henk Prakke geändert.

Was waren denn Anzeichen dafür?

Die Publizistik war überhaupt etwas Neues. Und die Fakultät war sehr konservativ im Sinn von verstaubt: Das haben wir schon immer so gemacht – das war so der Stil der Fakultät. Es gab auch viele verbiesterte Leute, die die Nazi-Zeit nicht richtig verdaut hatten. Und die waren gegen das Fach und auch gegen Hagemann. Ich weiß nicht, ob er in der Fakultät wirklich einen Verbündeten hatte.

Wer war denn in der Philosophischen Fakultät? Die Germanisten um Benno von Wiese?

Benno von Wiese weniger, ich weiß gar nicht, ob er das Institut wahrgenommen hat. Aber Jost Trier, der Mittelalter-Germanist, war energisch gegen solche modischen Sachen. Ich glaube, bei den Althistorikern und Archäologen war das ähnlich.

War der Studienbeginn denn nur ein formelles Einschreiben oder musste man bei Walter Hagemann vorstellig werden?

Nein, man hat sich an der Universität eingeschrieben, das ging damals noch fast ohne Schlange zu stehen und war gut organisiert. Man hatte ein Studienbuch, in dem dann der Lehrveranstaltungsleiter die Teilnahme abzeichnen musste, was natürlich bei Vorlesungen unsinnig war. Aber viele haben es noch gemacht. Bei Seminaren war das Testieren wichtig. Das Studienbuch mit den ganzen Unterschriften habe ich noch.

Konnte man als Publizistikstudent auch abgelehnt werden?

Wenn man im Seminar seine Leistung gebracht hat, dann eigentlich nicht. Es gab auch keine Zugangsvoraussetzung. Zum Oberseminar musste man aber von Hagemann eingeladen werden. Da konnte man nicht einfach auftauchen.

Nachdem der Kreis der Publizistikstudenten ja eher überschaubar war, wurde man vermutlich auch schnell als neues Gesicht wahrgenommen.

Ein normales Seminar umfasste, wenn es hochkam, etwa 20 Leute.

Sie wechselten zwischenzeitlich auch die Universität und studierten in München und Göttingen. Gehörte ein Ortswechsel während des Studiums damals zum guten Ton?

Ja, das war selbstverständlich. Man studiert nicht nur an einem Ort. Was heute groß als Erasmus gefeiert wird, war damals schon üblich. Ins Ausland ging man aber noch wenig, außer nach Wien oder in die Schweiz. Holland kam noch nicht infrage, weil die Deutschen dort sehr unbeliebt waren.

Warum wählten Sie denn dann München und gingen nicht beispielsweise zu Emil Dovifat nach Berlin?

Das weiß ich nicht mehr. Ich wollte auf jeden Fall nach Göttingen, weil da sehr gute Historiker waren. Und ich wollte ein anderes Publizistikinstitut, und da erschien mir München im Sommer interessanter als Berlin.

Was waren denn die eklatantesten Unterschiede zwischen Münster und München?

Die Studienbedingungen am Institut waren in Münster deutlich besser, obwohl es dort auch keine frei zugängliche Bibliothek gab, aber das Klima der Zusammenarbeit war besser. Das war hauptsächlich das Verdienst von Günter Kieslich, nicht von Walter Hagemann. In München zerflatterte alles schon. Es waren schon damals ziemlich viele Studenten. Und Hanns Braun war zum Vergessen. Von dem habe ich mir nichts gemerkt. Er hatte ein sehr elegantes Auftreten und war sehr verbindlich, aber gelernt habe ich da nichts. Ganz anders war es bei den Historikern, insbesondere bei Franz Schnabel. Das war wohl mein wichtigster Eindruck aus München. Außerdem waren noch Romano Guardini da und allerhand andere philosophische Größen. München war Kult, würde man heute sagen.

Hatte der Standort München denn ein größeres Prestige? Walter Hagemann hat sich ja bis 1954 sehr intensiv um die Nachfolge von Karl d’Ester bemüht.

Als Universitätsstandort war München natürlich ganz etwas anderes. Aber als Institut nicht. Schon unter d’Ester nicht. Aber mein Eindruck ist natürlich entstanden aus den Reden von Münsteraner Kommilitonen. München galt als schwächster von den drei Standorten, und zwar weil die Spitze nicht ordentlich besetzt war.

Im Raum stand auch der Vorwurf der „Doktorfabrik“ (vgl. Meyen 2004). Und Walter J. Schütz (2007: 35) sprach von der „fröhlichen Wissenschaft“.

Genau. In München wurde viel gefeiert, allerdings nicht bei den Zeitungswissenschaftlern, sondern vor allem bei den Historikern. Münster war ausgesprochen ernsthaft, und das galt für die ganze Universität. Als das neue Institutsgebäude, das „Fürstenberg-Haus“ am Domplatz, Anfang der 1960er-Jahre gebaut wurde, schrieb die FAZ, dass alles perfekt sei, aber zugleich ein Haus der adretten Langeweile. Und das konnte man über die ganze Universität sagen. Eine Universität der adretten Langeweile. Eigentlich funktionierte fast alles, es war auch vieles da für damalige Verhältnisse, aber es war langweilig.

Wie würden Sie denn den Kreis der Publizistikstudenten beschreiben? Was waren das für Leute? Günter Kieslich sorgte ja anscheinend für eine sehr familiäre Atmosphäre.

Das ist zu viel gesagt. Kieslich war freundlich und hat sich Einzelnen zugewendet. Er war immer leicht ironisch, aber nie boshaft. Er tat manchmal so, war es dann aber eigentlich nicht. Allerdings hat er sich seine Leute herausgepickt. Es gab Kieslich-Adepten, die ihn sehr geschätzt haben – und auch umgekehrt.

Waren Sie denn auch einer von diesen Adepten?

Ja, das habe ich aber erst später gemerkt. Als Hagemann schon weg war, hat Kieslich das Nordrhein-Westfälische Institut für Journalistenausbildung, das „Haus Busch“ in Hagen, wissenschaftlich geleitet – und mich als Lehrer hineingezogen. Dort habe ich sehr viel gemacht. Von daher war das Verhältnis zu Kieslich sehr eng, auch die Zusammenarbeit.

Wollten eigentlich alle Studierenden am Institut damals in den Journalismus?

Ja, fast alle. Einige mit dem Schwerpunkt Film. Andere schon damals mit dem Schwerpunkt PR und Werbung. Auch Schütz hat ja auf diesem Gebiet gearbeitet. Das haben sie erst gemacht, um Geld zu verdienen, und dann kamen sie darauf, dass das ja eigentlich auch zu unserem Fach gehört. Hagemann hat das nicht abgelehnt, aber auch nicht für die Hauptsache gehalten. Für ihn war Meinungspublizistik das Wichtigste.

Mein Eindruck ist, dass der Zusammenhalt unter den Studierenden und das Institutsleben insgesamt sehr ausgeprägt waren. Es gab den Club Junger Publizisten, die Karnevalsfeste, ferner Exkursionen, die von Hagemann organisiert wurden. Bis zu welchem Grad waren Sie denn in das Leben am Institut integriert?

Da muss man einzelne Studentengenerationen unterscheiden. Schütz und Kieslich waren wesentlich älter, die waren schon Hilfskräfte am Institut, als ich angefangen habe zu studieren (vgl. Schütz 2007). Dann waren Studenten dabei, die noch beim Trümmerräumen geholfen hatten. Die Voraussetzung für das Studium damals war ein Semester Trümmerdienst an der Universität. Diese Generation hatte einen wesentlich festeren Zusammenhalt. Zum Teil waren diese Studenten auch noch bei der Wehrmacht gewesen. Wir waren eigentlich schon die Nachkriegsgeneration. Wir hatten nicht mehr in der Trümmerzeit Abitur gemacht, sondern deutlich danach. Und so bildeten sich kleinere Gruppen. Ich habe vieles gemeinsam gemacht mit Dietmar Grieser und Heinz Fischer. Das war so ein Dreierkollegium. Schon damals wurde nur eine begrenzte Zahl von Seminarthemen vergeben, mit denen sich dann immer zwei oder drei befassen mussten. Man konnte das in Konkurrenz machen oder zusammenarbeiten. Letzteres wurde in der Regel aber auch etwas strenger beurteilt. Wie heute waren auch damals schon Trittbrettfahrer dabei. Mit dem Club Junger Publizisten habe ich wenig zu tun gehabt. Das hing auch mit dem Studentenheim zusammen, da war man integriert und mit Vergnügungen reichlich versorgt. Ich war im Club dabei, habe aber wenig Erinnerung daran.

Sind Ihnen Lehrveranstaltungen von Wilmont Haacke oder Kurt Wagenführ in Erinnerung geblieben?

Haacke ja, Wagenführ nein. Fürstenau auch, ein Filmmensch, das war interessant. Das waren wohl die Wichtigsten.

Wie würden Sie denn Theo Fürstenau rückblickend beschreiben?

Fürstenau war eigentlich ein Filmkritiker, wie man ihn sich damals vorgestellt hat. Aber mit sehr fundiertem Wissen. Er konnte alles auspacken und irgendwo herholen, sich absichern und Filme an Land ziehen. Fürstenau war auch verbunden mit dem Filmclub und den Wiesbadener Gremien. Er hat mehr die praktische Seite gemacht, während sich Hagemann die öffentlichen Auftritte nicht nehmen ließ.

Wilmont Haacke wurde mir beschrieben als „Paradiesvogel“ und „Beau“. Entspricht das auch Ihrer Erinnerung?

Ja, er war recht elegant. Er hatte eine „stromlinienförmige Sprechweise“. Gerade im Verhältnis zu Hagemann war das ungewohnt. Hagemann war immer kurz angebunden und sprach sehr knapp und knorrig. Er traf auch manche Entscheidungen sehr schnell, wenn man gar nicht damit gerechnet hatte und dachte, man müsste noch lange reden: Ja, ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sind jetzt Seminarmitglied. Zack und raus. Während Haacke ein Schwadroneur im positiven Sinn war.

Wie war Wilmont Haacke als Dozent?

Er hatte eine wesentlich bessere Rhetorik als Hagemann, war aber vom Inhalt nicht weiter interessant. Eigentlich waren die in der Lehre alle nicht gut in Münster. Ich habe das jetzt in meinen alten Vorlesungsmitschriften vergleichen können. Bei manchen Lehrveranstaltungen von Hagemann habe ich über das ganze Semester zwei bis drei Blätter mitgeschrieben, bei Franz Schnabel oder Heinz Gollwitzer war das anders: Das kann man heute noch wie ein Buch lesen, das war eine ganz andere Ausdrucksweise, und es blieb auch viel mehr hängen.

Haben Sie Günter Kieslich eigentlich auch noch als Dozenten erlebt? Er hielt ja dann auch schon recht bald das einführende Proseminar.

Ja, das war eigentlich seine Sache. Ich habe mein erstes Proseminar noch bei Hagemann gemacht. Aber Günter Kieslich war immer dabei, außer in den Vorlesungen. Die Seminare hat Hagemann natürlich selber geführt. Zuerst kam die Pressestunde, fünf oder zehn Minuten lang. Die jeweilige Seminararbeit musste drei Tage vorher ausliegen und von allen gelesen worden sein. Das Thema durfte nicht referiert, sondern sollte nur diskutiert werden. Manchmal vertiefte sich Hagemann sehr, aber meistens ging das eher so: Der Verfasser behauptet hier Folgendes und im Schlussteil kommt er zu dieser Überlegung. Herr Kieslich, was meinen Sie dazu?

Also hat Hagemann ganz gern delegiert?
Winfried B. Lerg (Quelle: Kutsch et al. 1992)

Winfried B. Lerg (Quelle: Kutsch et al. 1992)

Ja. Hagemann saß vorne, und Kieslich leitete das Seminar. Auch im Oberseminar. Und bei Prakke war es später ganz genauso. Nur da waren dann immer zwei Leute dabei – Winfried B. Lerg und Gerhard E. Stoll oder Winfried B. Lerg und ich. Damit es für die Studenten nicht ganz so eintönig war.

Waren die Seminare bei Hagemann dann wirkliche Diskussionsrunden?

Manchmal war es etwas gezwungen. Aber im Prinzip war die Regelung gut, dass alle Studenten die Arbeit kennen mussten. Und auch wirklich kennen mussten, denn Hagemann hat einfach gefragt, ohne dass man sich melden konnte oder durfte.

Auf was legte Hagemann in den Diskussionen oder in den Arbeiten speziellen Wert? Was waren denn seine Schwerpunkte?

Theorie ganz und gar nicht. Das war damals überhaupt nicht im Gespräch. Das Methodische nur der Form halber. Zum Beispiel gab es die Vorlesung „Grundzüge der publizistischen Methodik“. Es ging dann aber überhaupt nicht um Methodik, wie wir das heute verstehen würden, sondern allenfalls um die Methoden, die von Massenmedien angewandt wurden. Also die Methoden der Publizisten. Und für Hagemann typisch war das Systematisieren. Wir denken bei den Begriffen zum Teil an etwas anderes als er. Methodik begrenzte sich in den Seminaren darauf, dass Hagemann auf eine ordentliche Gliederung Wert legte, auf den Aufbau der Arbeit: Ein Literaturverzeichnis musste da sein. Es konnte passieren, dass Inhalte vorkamen, die seiner Überzeugung widersprochen haben. Dann wurde es heftiger. Aber obwohl er Leute richtig abkanzeln konnte, kann ich mich nicht erinnern, dass das in seine Bewertung eingeflossen ist.

Welche Publikationen umfassten denn die Literaturverzeichnisse?

Alles, was greifbar war. Es gab ja damals gar nicht so viel Literatur. Hagemanns eigene Sammlung spielte schon eine große Rolle. Seine Publikationen mussten natürlich vorkommen: die Grundzüge der Publizistik (Hagemann 1947), Dankt die Presse ab? (Hagemann 1957), Begriffe und Methoden publizistischer Forschung (Hagemann 1956a).Der Aufsatz sagt eigentlich alles zu Hagemanns Theorieverständnis.

US-Literatur und Zeitschriften aus den USA waren aber in der Bibliothek abonniert.

Ja, aber ich weiß nicht, wann das genau angefangen hat. Vor Prakke hat mich niemand darauf hingewiesen, auch Kieslich und Lerg nicht. Lerg war ja zu der Zeit schon Hilfskraft und Wasserträger. Aber es ist möglich, dass diese Publikationen da waren.

Zumindest unter Hagemann scheinen sie aber keine Rolle gespielt zu haben.

Nein, das haben sie nicht. Man konnte aber die Bibliothek auch nicht kennenlernen. Man musste sagen, was man haben möchte, und das wurde dann durch eine Tür mit Tresen herausgereicht. Man konnte nicht stöbern, sondern nur Bestellungen aufgeben. Je nach Andrang hat man das sofort bekommen oder später.

Wie würden Sie denn Hagemanns Kompetenzen im Bereich Film beurteilen? War er denn ein Filmexperte oder hat er den Film einfach auch noch in sein Lehrgebäude integriert?

Ein Filmexperte war er eigentlich nicht. Ein Experte war Hagemann im Bereich Pressegeschichte. Rhetorik hat er auch immer gerne gemacht. Aber trotzdem hatte Hagemann im Bereich Film zweifelsohne viel Wissen. Wenn ein Seminar zum Beispiel „Filmsoziologische Probleme“ hieß, dann war das kein Etikettenschwindel, sondern dann hat er den soziologischen Aspekt immer mit eingebracht.

Mich verwundert die „Affäre Enno Patalas“. Warum freute sich Hagemann nicht darüber, dass sich sein Nachwuchs allmählich emanzipierte? Warum reagierte er so hart darauf, dass Patalas die Zeitschrift film 56 herausgegeben hatte – und schloss seinen Doktoranden vom Institutsbetrieb aus?

Das sehen Sie aus heutiger Sicht so: Professoren freuen sich, wenn aus Studenten etwas wird und wenn sie anfangen, selbstständig zu werden. Damals herrschte aber doch noch das Autoritätsprinzip vor – sowohl bei den Lehrenden als auch bei den Studierenden. Oben war oben und unten war unten. Hagemann konnte das nicht dulden. Ich habe nur zwei Professoren näher kennengelernt, die bewusst Studierende in ihre Arbeit einbezogen haben: zum einen den eigentlich ganz konservativen Althistoriker in Münster, Hans Erich Stier, und zum anderen den Münchner Historiker Franz Schnabel, der in seiner Vorlesung aus meiner Seminararbeit zitiert hat – ohne Namensnennung, aber mit dem Hinweis: Der Autor sitzt hier. Das war schon sehr gehoben. Aber der normale Professor hat Studenten eben als Schüler gesehen und die haben sich auch so verhalten. Enno Patalas und Theodor Kotulla dagegen waren ganz eindeutig aufmüpfig.

Hatte Günter Kieslich einen anderen Stand, weil er schon Assistent war?

Kieslich war zwar kein Dozent, sondern immer nur Assistent, aber er war promoviert, und zwar mit Glanz und Gloria. Durch sein enormes Wissen war er unantastbar. In den letzten Jahren hätte Hagemann das Institut ohne Kieslichs Wissensumfang gar nicht mehr führen können. Das könnte man auch anhand des Lehrangebots nachweisen.

Mich interessieren in diesem Zusammenhang auch die empirischen „Großaktionen“ (Schütz 2007: 40-41), die damals in Münster entstanden sind und mit großem Arbeitsaufwand verbunden waren. An welchen Studien waren Sie denn beteiligt?

An gar keiner. Ich habe das gehasst, weil ich auch sehr stark in meinen anderen Fächern engagiert war. Geschichte hat mich eigentlich viel mehr interessiert, Germanistik damals auch noch. Die empirischen Studien haben unheimlich viel Zeit weggenommen. Und bei der größten „Großaktion“, der Marl-Studie (vgl. Kieslich 1956), war ich Gott sei Dank in München. Ich kenne das nur vom Lesen nachher. Und ich weiß, dass die Beteiligten immer ziemlich gestöhnt haben. Damals war auch mein Verhältnis zu Kieslich noch nicht so eng.

Konnte man also zur damaligen Zeit Publizistik in Münster studieren, ohne an einer empirischen Studie teilgenommen zu haben? Meist wurden diese ja im Rahmen von Seminaren durchgeführt.

Ja, das war durchaus möglich.

Anscheinend hat Hagemann bei diesen Studien den Mitarbeitern oder Studenten relativ viel Freiraum gelassen.

Mit Marl kenne ich mich etwas genauer aus, da lag die Hauptlast bei Kieslich, auch hinsichtlich der Organisation. Da alle Beteiligten am Anfang von der Arbeitsweise und der Materie nichts wussten, besaßen sie die gleiche Freiheit.

Und am Schluss wurde die fertige Studie von Hagemann einfach abgenommen?

So vermute ich es. Aber wie gesagt, das ist bei mir keine Teilnahmezeugenschaft.

Hagemann (exemplarisch 1956b) war als ehemaliger Journalist um eine sehr praxisbezogene Ausrichtung der Publizistikwissenschaft bemüht. Inwiefern waren denn auch seine Lehrveranstaltungen an der Praxis orientiert?

Man hat Praxis nicht gelernt in dem Sinn, wie wir heute bisweilen ein Print- oder ein Fernsehstudio haben. Das war damals nicht so.

Am Institut für Publizistik gab es ein Rundfunkstudio. Hatte das denn irgendeine Bedeutung?

Der Seminarraum hatte ein Fenster, wie das früher auch Rundfunkstudios hatten. Ein Fenster mit Blick in das Studio. In dem Raum, in den das Fenster ging, standen zwei riesige Tonbandmaschinen. Diese Apparate waren damals neu. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass mit diesen gearbeitet wurde. Da wurde vielleicht ein paar Mal etwas eingespielt, aber ob es da Lehrveranstaltungen gab? Vielleicht hat Eugen Kurt Fischer etwas gemacht.

Walter J. Schütz erzählte mir, man habe zwar kein journalistisches Handwerkszeug gelernt, aber trotzdem sei die Lehre besonders praxisbezogen gewesen.

Die Lehre war nahe an der Medienrealität dran, gefiltert durch die wechselseitigen Vorurteile. Vorurteile hatte Hagemann gegenüber sehr vielen Medien, die ihn seiner Meinung nach nicht wollten. Und Vorurteile hatten die Medien, weil sich Hagemann zu oft kritisch, meist aber im richtigen Sinn kritisch geäußert hat, auch schon vor der Publikation Dankt die Presse ab? (Hagemann 1957). Er ging ja immer davon aus: Ich, der große Chefredakteur der Germania in der schwierigsten Zeit, hätte etwas Besseres verdient nach dem Krieg. Ich müsste gleichzeitig mindestens Institutsvorstand und Chefredakteur der Westfälischen Nachrichten sein. Dieses Gefühl verbreitete er.

Sie profitierten aber auch von Hagemanns Kontakten zur Praxis.

Das lief nicht direkt über Hagemann, sondern über Günter Graf, einen Hagemann-Absolventen, der damals in Münster die erste Pressestelle bei einer deutschen Diözese aufgemacht hat. Graf hat auch einen eigenen Informationsdienst herausgegeben und gute Kontakte zur Presse. Er gehörte schon zur Generation nach Schütz und Kieslich, die aus Praktikern, also Journalisten bestand. Ihre Angehörigen saßen bei den Zeitungen in Münster oder im Umland und hatten ein Netzwerk. Ich habe für Günter Graf ab und zu kleine Meldungen geschrieben, die honoriert wurden – das war ganz etwas Neues, dass es dafür Geld gab. Graf hatte dann wiederum Kontakte zu Kollegen bei der Tageszeitung. Und dann hieß es eben: Kannst du nicht mal am Sonntagnachmittag dort vorbeischauen und dann in der Redaktion einen Artikel dazu schreiben? So bin ich mit dem Tageszeitungsgeschäft in Verbindung gekommen. Hagemann hatte damit gar nichts zu tun.

Und wie sind Sie auf Günter Graf gestoßen?

Das weiß ich nicht mehr. Vielleicht über das Studentenwohnheim, dort hat er einmal einen Vortrag gehalten. Er suchte jedenfalls Mitarbeiter für sein neues Pflänzchen und hatte guten Wind von oben. Über den Nachrichtendienst Münster, der später an die Katholische Nachrichtenagentur angeschlossen wurde, flossen die Nachrichten weiter. Dadurch hatte ich bald Publikationen in ganz Westdeutschland. Die Kirchenzeitung beobachtete das und eines Tages hat mich ihr Chef angesprochen: Ich lese da immer wieder Sachen, die wir eigentlich auch bei uns gebrauchen könnten. Und irgendwann wurde daraus dann eine ganze Seite im Berliner Format. Das lief gut und brachte 50 Mark – zu damaliger Zeit ein Vermögen. So ist der Kontakt entstanden: durch Beobachtung praktischer Arbeit.

Wie vernetzt war Hagemann eigentlich in den katholischen Kreisen in Münster? Im Rahmen seiner öffentlichen Stellungnahmen berief er sich ja stets auf seine starken katholischen Wurzeln.

Ich glaube, er war nicht wirklich drin. Er war eindeutig Zentrums-Mann, aber das Zentrum gab es ja dann nicht mehr. Dann war er bei der CSU und schließlich bei der CDU. Dass Hagemann Mitbegründer der CSU war, rührte wahrscheinlich daher, dass er zufällig in München war. Mein Chefredakteur, der das katholische Münster überblickte, hat über Hagemann nie etwas gesagt, nichts Gutes und nichts Schlechtes. Er meinte immer nur, dass ich mein Studium zu Ende bringen müsse.

Haben Sie auch die Erfahrung gemacht, dass man als Publizistikstudent mit dem negativen Ansehen des Fachs konfrontiert wurde?

Nein, ich weiß das nur von anderen, direkt habe ich das nicht erlebt. Das hing aber auch mit meinem besonderen Einstieg zusammen. Die Kirchenzeitung war damals noch ein Sondergebiet. Ich würde vermuten, dass das manchmal auch ganz anders gelaufen ist.

Sie berichteten, dass man bei Walter Hagemann viel über Politik und das Dritte Reich erfahren habe, allerdings weniger über Journalismus (Schmolke 2007). Spielten denn seine weltanschaulichen oder politischen Überzeugungen in den Lehrveranstaltungen eine Rolle?

In den Anfangsjahren, in denen er mich noch am ehesten beeindruckte, überhaupt nicht. Ab dem Winter 1957/58 kamen manchmal Exkursionen in die aktuelle Politik hinein. Da merkte man, dass er mit der offiziellen Bonner Linie nicht einverstanden war. Aber er hat keine Propaganda betrieben. Allerdings habe ich ihn in dieser Zeit nicht mehr ganz ernst genommen.

Begegnete man Hagemann auch außerhalb der Universität? Nach seiner Weltreise 1955 lud er jedenfalls einige Studenten zu sich nach Hause ein.

Zu diesen Kreisen gehörte ich nicht dazu.

Haben Sie eigentlich Ihre Dissertation (vgl. Schmolke 1966) noch unter Hagemann begonnen?

Begonnen nicht. Aber er hat das Thema abgesegnet. So richtig eingestiegen bin ich erst unter Prakke, aber ich hatte schon vorher den offiziellen Status eines Doktoranden und gehörte zu den Verwaisten. Wir haben uns unterschiedlich orientiert. Ganz wenige nur sind fest am Institut geblieben. Lerg ist dafür ein klassischer Fall. Kieslich ist ja dann nach Berlin gegangen, er war aber auch schon fertig. Die in Münster Ansässigen hatten meist schon einen Job, beispielsweise Peter Pleyer. Alle haben sich etwas aufgebaut. Man konnte nicht einmal sagen, um die Zeit zu überbrücken, denn wir wussten nicht, ob da je wieder etwas kommt.

Übernahm Prakke die Dissertationsthemen automatisch?

Automatisch nicht. Er führte schon Gespräche darüber. Aber ich weiß von keinem Fall, in dem er ein von Hagemann akzeptiertes Thema nachträglich abgelehnt hätte.

Henk Prakke war kein Unbekannter in Münster.

Er war bereits nach Münster eingeladen worden. Hagemann schätzte ihn, weil sich Prakke redliche Mühe gegeben hatte, Hagemanns Begriffe ins Niederländische zu übertragen (vgl. Prakke 1957). Das Verhältnis zwischen den beiden war gut, was auch mit Kurt Baschwitz zusammenhing. Baschwitz war wohl auch mal in Münster.

Baschwitz und Hagemann waren die zentralen Figuren bei den Bemühungen um eine Internationalisierung und Institutionalisierung des Fachs (vgl. Anschlag 1990). Profitierte man davon als Studierender?

Die Zeitschrift Publizistik hatte für die Studenten einen gewissen Stellenwert, weil sie in verschiedenen Rollen engagiert waren: beim Korrekturlesen, beim Schreiben von Rezensionen und auch beim Liefern von Manuskripten. Kieslich achtete darauf, welche Seminararbeiten besonders gut waren. Diese wurden dann ein bisschen umgearbeitet und in der Publizistik veröffentlicht. Während etablierte Leute Aufsätze schrieben, wurde das, was von den Studenten kam, „Bericht“ genannt. Auch wenn es gar keine Berichte waren.

Wie erklären Sie sich eigentlich Hagemanns fundamentale Opposition gegenüber der Verlegerschaft?

Die Gründe, die er offiziell genannt hat, stehen alle in Dankt die Presse ab? (Hagemann 1957). Mein Urteil ist, dass er es nicht verdaut hat, dass er nach dem Krieg weder im Journalismus noch in der Politik wieder zur ersten Garnitur aufsteigen konnte. Das war die Triebfeder, um sich mit allen querzulegen. Wenn man heute die Broschüre Dankt die Presse ab? liest, erscheint das gar nicht so radikal und revolutionär. Kein Hahn würde heute danach krähen. Aber damals waren die Verleger viel empfindlicher. Sie fühlten sich wie die Götter und ließen sich von einem Zeitungswissenschaftler nichts sagen. So war die Grundhaltung.

Würden Sie also eine Parallele zwischen seiner Kritik an den Strukturen in der Presse und seinem politischen Aufbegehren ziehen?

Ja. Die Kritik an der Presse war meiner Ansicht nach durchaus berechtigt. Seine Eigenwilligkeit im politischen Bereich war dagegen ungeschickt und auch nicht sinnvoll. Außerdem fuhr er praktisch auf zwei Fahrrädern: zum einen Anti-Atomtod-Bewegung, zum anderen Annäherung an die DDR. Wenn ich mich richtig erinnere, hat mich das ziemlich kalt gelassen. Bewegt waren wir hingegen alle, als er auf einmal weg war und wir da saßen mit offiziell akzeptierten Dissertationsthemen, aber nicht der leisesten Chance, weitermachen zu können.

Wie groß war denn die Zahl jener, die der Publizistikwissenschaft den Rücken kehrten?

Das war eine ganze Menge. Betroffen waren vor allem diejenigen, die mit der Dissertation schon angefangen hatten und besonders enttäuscht waren, weil sie schon Arbeit investiert hatten.

Würden Sie eigentlich sagen, dass in Hagemanns politischem Engagement ein Gesinnungswandel zum Ausdruck kam?

Als Student bekam man davon wenig mit. Er hat darüber nicht gesprochen, sondern auf anderen Bühnen gehandelt. Ich gewann nachher den Eindruck, dass er eigentlich kein klassischer CDU-ler war, sondern immer noch Zentrums-Mann, also eine Figur der Vorkriegszeit, die dort ihre Ideale sah. Vielleicht hatte das auch mit seinem Studium bei Friedrich Meinecke zu tun. Hagemann – das ist mir allerdings erst im Nachhinein aufgefallen – war eigentlich immer so ein Typ wie Helene Wessel, die beim Zentrum blieb.

Formal existierte die Deutsche Zentrumspartei ja auch noch.

Ja, aber Hagemann hat das nie als Alternative gesehen. Dennoch passte ihm die starke Westorientierung ganz und gar nicht.

Walter J. Schütz beschrieb mir Hagemann als sehr emotionalen und leicht beeinflussbaren Menschen, bei dem Personen wie Erich Küchenhoff leichtes Spiel hatten. Wurde Walter Hagemann fremdgesteuert?

Ich glaube schon, dass er seine Entscheidungen selbst getroffen hat. Aber dass ihm solche Figuren wie Küchenhoff, den ich auch ganz gut kannte, alternative Einflugschneisen vorgaben, ist schon möglich. Hagemann hat sich in solchen Dingen auch verbissen. Aber als Student hat man davon nicht sehr viel mitbekommen, vor allem nicht wir Jüngeren.

Wie haben Sie den Juristen Erich Küchenhoff kennengelernt?

Einerseits über den Kontakt mit Hagemann und andererseits weil er durch seine Auffassungen viel im Gerede war. Außerdem waren in meinem Studentenwohnheim viele Juristen. Da wurde natürlich über Kollegen abseits des Mainstreams viel diskutiert.

Wie groß war überhaupt der Widerstand gegen Adenauer in Münster?

Die Anti-Atomtod-Bewegung bringe ich eher mit Osnabrück in Verbindung. In Münster spielte das keine große Rolle.

Können Sie mir beschreiben, wie die Öffentlichkeit von der Causa Hagemann bewegt wurde, als seine Affären ans Licht kamen?

Das war ein sehr personalisiertes Thema mit einer renommierten Persönlichkeit. Unabhängig von seiner Beliebtheit gehörte ein Professor automatisch zu den VIPs und das provozierte natürlich Interesse. Die drei Münsteraner Zeitungen waren sehr darauf bedacht, dem Image der Stadt nicht zu schaden. Und wenn dann einzelne Personen Schande über die Universität brachten, musste das bereinigt werden.

Gab es nach Hagemanns Suspendierung vonseiten der Studenten Solidaritätsbekundungen?

Ich kann mich an nichts erinnern. Die Sache mit den Studentinnen war ja vorher schon durchgesickert, selbst bis zu mir. Die meisten fanden das nicht gut. Die Eskapaden mit Ostberlin waren noch interessant: Was macht er nun wieder? Was stellt er jetzt wieder an?

Also ein distanziertes Interesse.

Ja, bei manchen aber vielleicht durchaus auch Zustimmung. Unter den Jüngeren waren sicher auch Anti-Atomtod-Leute. Aber die Sache mit den Studentinnen wurde nicht geschätzt.

Hagemanns öffentliches Engagement führte zum Bruch mit seinem langjährigen Freund Emil Dovifat (vgl. Stöber 2002). Glauben Sie, dass dabei auch fachliche Konkurrenz eine Rolle spielte?

Ich glaube, dass Dovifat eher besorgt war um die reine Lehre der CDU. Dovifat war ein echter CDU-ler und im Zentrum eigentlich eher zum linken, gewerkschaftsnahen Flügel zu rechnen. Hagemann dagegen war eher ein konservativer oder national orientierter Zentrums-Mann. Das hielt Dovifat nicht für die reine Lehre. Ein Empiriker war für Dovifat gewissermaßen der Teufel, aber ein Kursabweichler war auch schon ein Beelzebub.

Hagemann beging den Fauxpas, sich an die DDR anzunähern …

Das war ein Kapitalverbrechen. Hochverrat. Viele haben geglaubt, Hagemann wird aus politischen Gründen geschasst – und weil man ihn nicht richtig greifen kann, nimmt man dann die privaten Sachen her. Die Mehrheit der Studierenden wusste von diesen privaten Sachen zuvor so gut wie nichts. Ich erinnere mich nur, dass die Sekretärin Gertrud Dolch zu mir meinte: Schauen Sie, da läuft der kleine Hagemann – ein Sohn aus einer dieser Liebschaften. Ich erinnere mich noch ganz genau an den Spruch. Ich habe nichts verstanden und mich von Winfried B. Lerg aufklären lassen. Lerg war ein typischer Informationssammler und wusste immer mehr. Meine Hypothese zu der Entwicklung ist, dass Hagemann nach dem Zweiten Weltkrieg im Journalismus nicht mehr Fuß fassen konnte. Er ist nirgends mehr so richtig reingekommen.

Aber im Rahmen seiner Weltreise hat er noch eng mit den Westfälischen Nachrichten und dem Nordwestdeutschen Rundfunk zusammengearbeitet.

Ein richtig großer Coup wurde das aber nicht. Seine Abhandlungen hat er dann im Anschluss im Selbstverlag veröffentlicht (vgl. Hagemann 1955). Für damalige Verhältnisse ist das eigentlich interessant zu lesen, aber es gelang ihm nicht, wieder den Durchbruch in die oberen Regionen des Journalismus zu schaffen. Das hat ihn sehr verbittert, und meiner Meinung nach wollte er das ausgleichen, zur Not mit diesen politischen Eskapaden. Er tat damals das, was heute alle Politiker tun. Es geht ja nur darum, im Gespräch zu sein.

Angesichts Hagemanns Biografie kann ich seine Rechtfertigungen durchaus nachvollziehen. Das nationale, christliche und pazifistische Denken zieht sich wie ein roter Faden durch sein ganzes Leben. Gleichzeitig hatte Hagemann meiner Meinung nach ein sehr großes Geltungsbedürfnis.

Das ist mit meiner These durchaus vereinbar. Hagemann ist auf beiden Gebieten nicht bis zur obersten Etage durchgestoßen, weder in der Politik, was er sicher gerne gewollt hätte, noch im Journalismus. Auch in seinen Lehrveranstaltungen wollte er immer beweisen, dass er seine wissenschaftliche Lehre, seine journalistischen Verbindungen und seine eigenen Qualitäten auf dem Gebiet besonders gut vereinigen kann. Am Anfang gab es oft eine Art Wochenrückblick. Was ist politisch Wichtiges in der letzten Woche passiert?

Sie würden sich ja vermutlich eher als Prakke-, denn als Hagemann-Schüler bezeichnen. War denn der Publizistikwissenschaftler Walter Hagemann für Sie in irgendeiner Weise später ein Vorbild?

Nein, höchstens in einem Punkt: Hagemann war wirklich ein Systematiker, als ob er bei Thomas von Aquin studiert hätte. Für die Lehre ist das ganz brauchbar. Hagemanns eigentlicher Nachfolger in dieser Hinsicht ist Heinz Pürer. Ich habe mir das manchmal auch zu Herzen genommen. Wenn Hagemann für mich eine Rolle gespielt hat, dann mit den Grundzügen der Publizistik (Hagemann 1947). Das Werk war ordentlich aufgebaut und enthielt nachvollziehbare Gedanken.

Wie würden Sie denn Hagemanns publizistikwissenschaftliches Wirken, insbesondere sein Theoriegebäude, aus heutiger Sicht beurteilen?
Henk Prakke (Zweiter von links) mit Michael Schmolke (links) und Winfried B. Lerg (ganz rechts) sowie Franz Dröge (Quelle: Privatarchiv Joachim Westerbarkey)

Henk Prakke (Zweiter von links) mit Michael Schmolke (links) und Winfried B. Lerg (ganz rechts) sowie Franz Dröge (Quelle: Privatarchiv Joachim Westerbarkey)

Im Grunde genommen hat Henk Prakke (1968) die Systematik übernommen. Prakke hat etwas ganz Rührendes gemacht: Er hat seine Begriffe in Hagemanns System übersetzt – in Wirklichkeit hat er es übergestülpt. Er hat das System gerettet mit Begriffen, die manchmal haarscharf an den ursprünglichen Begriffsinhalten vorbeigingen, aber genau an der Stelle platziert wurden. Zum Beispiel die Unterhaltung als dritte publizistische Funktion, das war ihm immer höchst verdächtig. Und stattdessen hat er die Socius-Funktion gebracht, die zwar auch die Unterhaltung umfasste, aber etwas völlig anderes meinte, nämlich die Tatsache, dass ein Medium auch Lebensgegenüber sein kann. So hat Hagemann nicht gedacht. Man kann zwar an vielen Stellen nachlesen, dass Hagemann auch das Publikum einbezogen hat, aber nicht in dieser Art. Dass das Verhältnis Publikum-Medium ausgesprochen funktional und wechselseitig abhängig ist, kommt gelegentlich in Andeutungen vor. Ich würde sagen, Prakke hat das Beste daraus gemacht, aber es war am Ende etwas anderes.

Gab es neben Prakkes Theoriegebäude noch andere Bereiche, in denen sich Hagemanns wissenschaftliches Wirken niederschlug?

Zunächst einmal gab es eine Menge von Dissertationen, die entweder noch von Hagemann als Thema angenommen oder in seiner Zeit konzipiert worden waren. Ein guter Teil davon wurde auch „fertig gemacht“, wie Prakke zu sagen pflegte. Dass sie ganz in Hagemanns Geist gemacht wurden, hat Prakke nicht moniert. Wobei Prakke die Dissertationen immer von Assistenten vorbegutachten ließ. Je mehr die Zeit voranging, desto stärker hat er die Betreuung seinen Assistenten überlassen. Und die sogenannten Hagemann-Kombattanten (vgl. Schütz 2009) sind ja auch ein Zeugnis davon, dass Hagemanns Geist irgendwie weitergelebt hat. Aber im Fach selbst hat man wenig auf Hagemann zurückgegriffen. Prakke hat ihn mit der Neuauflage der Grundzüge der Publizistik (Hagemann 1966) zu retten versucht – das Buch ist auch ziemlich weitverbreitet. Niemand hat es als richtig gut und niemand als richtig schlecht befunden. Aber es ist dann durch vieles andere überholt worden, vor allem durch Gerhard Maletzke (1963). Heute würde sich wahrscheinlich niemand mehr auf Hagemann berufen, es sei denn um ein bisschen Retroverzierungen einflechten zu können. Man kann da immer wieder Entdeckungen machen und zum Beispiel sagen: Auch Hagemann hat schon die Bedeutung des Publikums hervorgehoben.

Literaturangaben

  • Dieter Anschlag: Wegbereiter im Exil. Kurt Baschwitz, Journalist und Zeitungswissenschaftler. Münster: Journal für Publizistik und Kommunikation 1990.
  • Walter Hagemann: Grundzüge der Publizistik. Münster: Regensberg 1947.
  • Walter Hagemann: Weltreise 1955 in 28 Kapiteln erzählt … Münster: Selbstverlag 1955.
  • Walter Hagemann: Begriffe und Methoden publizistischer Forschung. In: Publizistik 1. Jg. (1956a), S. 11-25.
  • Walter Hagemann: Fallen Journalisten vom Himmel? Zur UNESCO-Konferenz über die Berufsausbildung der Journalisten. In: Publizistik 1.Jg. (1956b), S. 147-157.
  • Walter Hagemann: Dankt die Presse ab? München: Isar-Verlag 1957a.
  • Walter Hagemann: Grundzüge der Publizistik. Als eine Einführung in die Lehre von der sozialen Kommunikation neu herausgegeben von Henk Prakke unter Mitarbeit von Winfried B. Lerg und Michael Schmolke. Münster: Regensberg 1966.
  • Günter Kieslich: Freizeitgestaltung einer Industriestadt. Ergebnisse einer Befragung in Marl/Westfalen. Dortmund/Lütgendortmund: Wulff 1956.
  • Gerhard Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik. Hamburg: Hans-Bredow-Institut 1963.
  • Michael Meyen: Promovieren bei Karl d’Ester. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Zeitungswissenschaft in Deutschland. In: Michael Meyen/Maria Löblich (Hrsg.): 80 Jahre Zeitungs- und Kommunikationswissenschaft in München. Bausteine zu einer Institutsgeschichte. Köln: Herbert von Halem 2004, S. 28-45.
  • Henk Prakke: De samenspraak in onze samenleving, inleiding tot de publizistiek. Assen: van Gorcum 1957.
  • Henk Prakke: Kommunikation der Gesellschaft. Einführung in die funktionale Publizistik. Münster: Regensberg 1968.
  • Michael Schmolke: Adolph Kolping als Publizist. Ein Beitrag zur Publizistik und zur Verbandsgeschichte des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert. Münster: Regensberg 1966.
  • Michael Schmolke: Am Ende war ich selbst ein Großfürst. In: Michael Meyen/Maria Löblich: „Ich habe dieses Fach erfunden“. Wie die Kommunikationswissenschaft an die deutschsprachigen Universitäten kam. 19 biografische Interviews. Köln: Herbert von Halem 2007, S. 116-135.
  • Walter J. Schütz: Ich habe immer von Selbstausbeutung gelebt. In: Michael Meyen/Maria Löblich: „Ich habe dieses Fach erfunden“. Wie die Kommunikationswissenschaft an die deutschsprachigen Universitäten kam. 19 biografische Interviews. Köln: Herbert von Halem 2007, S. 33-58.
  • Walter J. Schütz: Zeitungsgeschichten und Institutsgeschichten. Publizistik in Münster 1946 bis 1959. In: Klaus Merten (Hrsg.): Konstruktion von Kommunikation in der Mediengesellschaft. Festschrift für Joachim Westerbarkey. Wiesbaden: VS Verlag 2009, S. 263-274.
  • Rudolf Stöber: Emil Dovifat, Karl d’Ester und Walter Hagemann. Die Wiederbegründung der Publizistik in Deutschland nach 1945. In: Medien & Zeit 17. Jg. (2002), Nr. 2-3, S. 67-84.
  • Thomas Wiedemann: Walter Hagemann. Aufstieg und Fall eines politisch ambitionierten Journalisten und Publizistikwissenschaftlers. Köln: Herbert von Halem 2012.

Empfohlene Zitierweise

    • Michael Schmolke: Hagemann war wirklich ein Systematiker. Feature zum 5o. Todestag von Walter Hagemann. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2014. http://blexkom.halemverlag.de/walter-hagemann_hagemann-war-wirklich-ein-systematiker/ (Datum des Zugriffs).