Walter Hagemann (Quelle: Privatarchiv Horst Hagemann)

Günter Huhndorf und Otto Kuhn: Hagemann hatte was zu sagen

Thomas Wiedemann hat Günter Huhndorf und Otto Kuhn am 10. November 2009 in Stuttgart zu ihrem Studium bei Walter Hagemann am Institut für Publizistik an der Universität Münster befragt (vgl. Wiedemann 2012). BLexKom dokumentiert dieses Gespräch aus Anlass des 50. Todestages von Walter Hagemann am 16. Mai 2014.


Während Günter Huhndorf (Jahrgang 1933) von 1954 bis 1959 bei Walter Hagemann Publizistik studierte (unterbrochen von einem Abstecher zu Emil Dovifat nach Berlin und einem längeren Forschungsaufenthalt in England), nach seiner Promotion in die Praxis ging und schließlich Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Stuttgart wurde, nahm Otto Kuhn sein Publizistikstudium bereits 1951 auf und verließ Münster erst im Zuge der Suspendierung Hagemanns, um dann schlussendlich Filmredakteur der Stuttgarter Nachrichten zu werden.

Können Sie mir zunächst etwas vom Beginn Ihres Studiums erzählen?

Kuhn: Angefangen mit dem Studium habe ich nach meinem Abitur 1951. Aber zunächst habe ich gearbeitet, um Geld zu verdienen.

Huhndorf: Ich bin 1954 aufgetaucht. Wir waren zwar schon auf derselben Schule in Dortmund, haben uns aber erst in Münster so richtig kennengelernt.

Kuhn: In der Zwischenzeit hatte sich personell nichts verändert: Hagemann war da, der Feuilletonist Wilmont Haacke, ansonsten die Assistenten. Wir waren einer der wenigen Standorte, wo man überhaupt Publizistik studieren konnte. Es gab noch Emil Dovifat in Berlin, und in München hatten sie auch erst wieder angefangen. Deswegen konzentrierte sich das in Münster. Wir waren eigentlich recht gut bestückt damals am Institut. Viele kamen auch von außerhalb zum Studieren nach Münster. Vielleicht sind diejenigen, die sich besser auskannten, nach Berlin gegangen, weil es viel interessanter war als Münster. Ich konnte mir Berlin gar nicht leisten zu diesem Zeitpunkt. Von Dortmund ist es nach Münster nur ein kurzer Weg. Ich hatte ein Zimmer in Münster und bin am Wochenende immer nach Hause gefahren.

Huhndorf: Aber es gab tatsächlich auch Leute, die täglich pendelten. Meistens mit den Vorstadtzügen. Einige sind sogar mit dem Fahrrad aus dem nördlichen Ruhrgebiet gekommen. Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen.

Kuhn: Es waren ganz viele Studenten aus dem Ruhrgebiet da, die Münster nützen mussten.

Warum haben Sie Publizistik als Studienfach gewählt?

Kuhn: Während ich noch zur Schule ging, habe ich bereits Filmkritiken geschrieben. Und eigentlich hatte ich während des Studiums auch schon einen Platz bei den Ruhr-Nachrichten. Germanistik und Anglistik habe ich auch studiert. Ich war nicht ganz sicher, ob ich zur Zeitung gehen konnte, ansonsten hätte ich auch Lehrer werden können.

Huhndorf: Ich habe als Nebenfächer auch Germanistik und Anglistik studiert. Da haben die Eltern auch einen gewissen Einfluss ausgeübt.

Kuhn: Und damit hatte man zwei Schulfächer: Deutsch und Englisch.

Huhndorf: Da konnten die Eltern dann sagen: Naja, vielleicht macht er ja doch etwas Solides.

Kuhn: Ich bin aber nicht zur Schule gegangen, sondern zur Zeitung. Das hat sich ausgezahlt. Der Journalismus ist für mich ein Job gewesen, der mir Spaß gemacht hat und der auch seinen Spaß behielt.

Herr Kuhn, haben Sie denn Ihr ganzes Studium in Münster verbracht?

Kuhn: Ich habe nur in Münster studiert, ja.

Und Sie, Herr Huhndorf, haben als Student auch Berlin kennengelernt.

Huhndorf: Ja. Ich war zunächst zwei Semester in Münster und hatte auch die finanziellen Probleme, aber letzten Endes war es egal, Münster kostete auch Geld …

Kuhn: Aber in Münster konnte man damals umsonst studieren und in Berlin nicht.

Huhndorf: Ich habe ein Stipendium bekommen, für das man jedes Jahr eine Leistungsprüfung machen musste, was aber eigentlich auch ganz gut war im Rückblick. Und ich bin dann für zwei Semester nach Berlin zu Emil Dovifat. Aber fachlich hat man dort ja nichts gelernt.

Kuhn: Dovifat hat ja nur Geschichte gemacht.

Huhndorf: Ich hatte nur ein kleines Ringbuch, aber das blieb trotzdem leer. Dovifat hatte eine Vorlesung für Hörer aller Fakultäten zu aktuellen Ereignissen in Rundfunk, Film usw. Diese große Vorlesung war sehr begehrt, auch von den Studenten anderer Fachrichtungen, da wurden schon vor der Vorlesung im Audimax die Plätze mit Taschen belegt. Dovifat hat unglaublich schwungvoll geredet, er war ein ganz großer Redner, seine Vorlesungen waren rhetorisch sehr beeindruckend. Nach Berlin bin ich dann nach London, das war ein Abenteuer für mich und unter diesem Aspekt habe ich auch mein Dissertationsthema ausgesucht. Hagemann hatte damals vor, eine Geschichte der europäischen Presse zu schreiben, und so war es ihm sehr angenehm, dass sich jemand mit diesem Thema beschäftigte, denn zur Frühgeschichte der englischen Presse gab es noch nichts. Wobei ich das Thema ja dann abgewandelt habe in die Vorgeschichte der englischen Presse, und noch nicht einmal die unmittelbare Vorgeschichte bis 1622, sondern nur bis 1558, also die ganz frühen publizistischen Kleindrucke in vorelisabethanischer Zeit (vgl. Huhndorf 1959).

Wie lange waren Sie denn insgesamt in England?

Huhndorf: Insgesamt war ich mit einer kurzen Unterbrechung sieben oder acht Monate in London. Da war ich beurlaubt. Danach bin ich relativ schnell fertig geworden, im zehnten Semester. 1957 und 1958 war ich in England, dann habe ich alles zu Papier gebracht. Ich habe die Dokumente in London für das Institut filmen lassen, aber was aus der ganzen Sammlung geworden ist, weiß ich nicht. Der Koreferent meiner Prüfung war der Anglist Edgar Mertner.

Kuhn: Für mich war Mertner ein bisschen unnahbar, aber eigentlich war das Hagemann auf seine Art und Weise auch. Hagemann war immer sehr bestimmend mit dem, was er sagte. Oder manchmal schüttelte er als Erwiderung nur den Kopf. Die Zusammenarbeit mit den Assistenten, also mit Günter Kieslich und Walter J. Schütz, funktionierte besser.

War Ihnen denn der Name Hagemann schon vor Ihrem Studium ein Begriff? Vielleicht auch als Publizistikwissenschaftler, der sich mit dem Film beschäftigte?

Kuhn: Ja, Hagemann war mir bekannt. Aber vom Film hat er nicht so viel verstanden. Er hat zwar ein Buch herausgegeben (vgl. Hagemann 1952), aber auch da konnte man sehen, dass das nicht sein Fach war. Da war Enno Patalas um einiges besser. Mich hat das auch interessiert. Schon als Obersekundaner war ich Filmkritiker. Hagemann hatte mit dem Film nicht arg viel am Hut.

Huhndorf: Hagemann hat der Reihe nach versucht, zu allen Gebieten Bücher zu schreiben. Publizistik im Dritten Reich (Hagemann 1948) war die alles überragende Publikation, die uns allen am meisten imponiert hat und die sehr früh erschien. Das war eigentlich sein bestes Buch. Vor allem weil es aus dem eigenen Erleben und der eigenen Anschauung heraus entstand. Das wusste man, insofern war auch mir Hagemann schon vorher bekannt.

War Hagemann auch außerhalb der Universität eine bekannte Persönlichkeit?

Huhndorf: Gerade in Dortmund war er später bekannt. Als es zunehmend politisch wurde, war Hagemann mit seinen Leitartikeln im Westdeutschen Tageblatt sehr präsent. Mit dem Kommunismus hatte seine Richtung gar nichts zu tun. Eher mit der Gesamtdeutschen Volkspartei, mit Leuten wie Gustav Heinemann und Martin Niemöller.

War das Westdeutsche Tageblatt auch in Münster verbreitet?

Kuhn: Nein, in Münster gab es zwei Zeitungen, die Münstersche Zeitung und die Westfälischen Nachrichten, die streng katholisch waren. Münster mit dem Bistum war ganz schwarz. In den evangelischen Kreisen Nordrhein-Westfalens war das Westdeutsche Tageblatt dagegen die wesentliche Zeitung.

Las man in Münster dann überhaupt die Leitartikel von Hagemann im Westdeutschen Tageblatt?

Huhndorf: In Münster hat das Bürgertum wahrscheinlich nicht viel davon gewusst und das auch nicht lesen wollen. Aber Hagemann war auch unter den Professoren eine besondere Erscheinung. Es könnte durchaus auch sein, dass er meinte, etwas Besseres zu sein.

Kuhn: Hagemann hat sich selbst eingebildet, dass er gegenüber diesen Leuten etwas Besonderes ist. Der Germanist Benno von Wiese war natürlich schon zum Lachen.

Huhndorf: Benno von Wieses Dritte-Reich-Vergangenheit war damals noch kein Thema. Da waren andere Themen im Vordergrund, durchaus auch politische. Denn sonst wäre die Stellung von Hagemann noch einzigartiger gewesen. Weil er keinen Dreck am Stecken hatte.

Kuhn: Hagemann war der Einzige, der kein Nazi war.

Huhndorf: Erst später hat sich ergeben, dass sie alle nicht unbefleckt oder unschuldig waren, ob sie Wilmont Haacke oder Emil Dovifat hießen. Aber in der Zeit war das eigentlich nach meiner Erinnerung kein großes Thema.

Kuhn: Es wurde richtig totgeschwiegen, davon wollte niemand etwas wissen, damit hatten sie alle nichts zu tun.

Bericht über Hagemanns Auftritt in der DDR (Quelle: Neues Deutschland, 25. Oktober 1958)

Bericht über Hagemanns Auftritt in der DDR (Quelle: Neues Deutschland, 25. Oktober 1958)

Huhndorf: Um Ihnen einen Eindruck von der damaligen Stimmung zu geben: Ich war in Münster der abgrundtiefen Überzeugung, dass Konrad Adenauer möglichst einen katholischen Staat bilden wolle und ihm die Wiedervereinigung vollkommen schnuppe sei. Ich glaube auch nicht, dass ihm die Wiedervereinigung so wichtig war. Hagemann war dagegen eine national denkende Person. Er war nicht links.

Kuhn: Früher hätte man Patriot gesagt.

Huhndorf: Gerade in der evangelischen Kirche waren viele der Ansicht, dass die Wiedervereinigung Adenauer nicht nur egal sei, sondern dass seine Politik die Wiedervereinigung auf Ewigkeit verhindere. Hagemann war ein ganz erklärter Gegner Adenauers Politik. Eben aus der nationalen Gesinnung heraus. Und das schien auch einleuchtend zu sein unter der damaligen Konstellation. Da gab es dann die Geschichte mit der Neutralität und die Bewegung Kampf dem Atomtod, in der auch Edgar Mertner mitgemacht hat. Der stand ebenfalls auf der Straße.

Kuhn: Hagemann zeichnete dieses Patriotische aus. Mir hat es auch gestunken, dass sich Adenauer nach Westen orientierte und Deutschlands andere Hälfte vergaß oder abtat.

Huhndorf: Hagemanns Haltung wurde dann missgedeutet, insbesondere von gewissen Unionskreisen. Wenn ein Mann aus den eigenen Reihen nach Osten blickte, dann war es natürlich besonders schlimm. Dass er sich in der CDU so viele Feinde gemacht hat, ist ihm zum Verhängnis geworden.

Kuhn: Es hat es ja viele Leute gegeben, die sich zumindest gedanklich nach drüben orientiert haben. Für die die zweite Hälfte Deutschlands keine falsche Hälfte war, sondern eine zweite Hälfte, mit der sie leben konnten.

Huhndorf: Da muss man aber aufpassen. Hagemann hat den anderen vorgeworfen, nichts für den anderen Teil Deutschlands zu unternehmen, aber das war nicht verbunden mit einer Anerkennung des SED-Regimes.

Kuhn: Nein. Darum ging es natürlich nicht. Aber das wurde ihm plötzlich zugetraut.

Huhndorf: Wenn jemand die Alternative berücksichtigte und eine militärische Neutralität in Kauf nahm, dann war es relativ einfach – ich will von dem Endstadium gar nicht sprechen –, ihm ein kommunistisches Mäntelchen umzuhängen, was aber immer falsch war. Und das war die große Tragik zum Schluss, dass er dann in Panik nach Ostberlin gegangen ist und dort einen Lehrstuhl für Imperialismus bekommen hat. Hagemann war natürlich auch in einer verzweifelten Situation. Er hat sich selbst überschätzt. Er hat auch Fehler gemacht, und zwar ganz läppische. Sie wissen ja, dass er den Vervielfältigungsapparat des Instituts für private Zwecke benutzt hat.

Ja, das war der offizielle Anlass für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens im Jahr 1959.

Huhndorf: Genau. Erst dann kamen die Frauengeschichten, die eigentlich längst beigelegt waren und nur wieder herausgekramt wurden. In einer der letzten Vorlesungen hatte Hagemann meine Dissertation schon erwähnt, und zwar sehr positiv. Ich habe mich gefreut. Wenige Tage später kam das Dienstverbot, er durfte das Institut nicht mehr betreten. Und dann hat er versucht, meine Arbeit als Hebel zu benutzen, um wieder hineinzukommen, weil er mich prüfen wollte. Das ist ihm aber nicht gelungen. In diesem Zusammenhang war ich auch ein- oder zweimal bei ihm zu Hause. Sonst wäre ich da nie hingekommen. Ich wäre sehr gerne von ihm geprüft worden und nicht von einem Professor in München, den ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte. Und er hätte mich auch gerne geprüft. Ich unterstelle ihm gar keine persönliche Zuneigung, aber um zu zeigen: Ich bin noch da. Er war ja mein Doktorvater. Und ich muss sagen, er war ein ziemlich guter Doktorvater. Ich möchte auch der Meinung widersprechen, dass er nur andere für sich arbeiten ließ. Ich behaupte mal, dass er selbst viel arbeitete und fleißig war.

Kuhn: Das sehe ich auch so. Davon bin ich überzeugt. Natürlich machen die Assistenten die Arbeiten, für die der Professor keine Zeit hat.

Geäußert wurde immer wieder, dass die empirischen „Großprojekte“ vor allem für die Mitarbeiter viel Arbeit bedeuteten (vgl. Schütz 2007).

Kuhn: Aber dadurch kamen sie natürlich auch auf ihrem eigenen Weg wissenschaftlich weiter. Das ist doch ganz klar.

Huhndorf: Hagemann gehörte mit Sicherheit nicht zu denen, die in erster Linie andere für sich arbeiten ließen und sich mit fremden Federn schmückten. Natürlich hat er das auch gemacht. Aber zum Beispiel in der von ihm publizierten Zeitschriftenanalyse (Hagemann 1957b) waren wir mit Namensartikeln vertreten. Ich fand die Analyse sehr interessant und ergiebig. Wir haben ganze Gebiete des gesellschaftlichen Lebens neu kennengelernt: Werkzeitschriften, konfessionelle Presse usw. Da ging es nicht nur um den Gesichtspunkt, ob sich neue Gruppierungen, Einteilungen und Typologien finden ließen. Sie sehen schon, ich habe grundsätzlich eine positive Erinnerung an Hagemann und fand sein Ende sehr schlimm, zumal es gewissen Leuten recht zu geben schien, die immer gesagt hatten, dass Hagemann eigentlich ein Kommunist sei.

Kuhn: Völliger Quatsch.

Huhndorf: Man hat ihm dann ja auch noch seine Ruhegeldansprüche gestrichen …

Wie waren denn die Studienbedingungen am Institut für Publizistik in Münster?

Kuhn: Das studentische Leben war wegen der materiellen Lage wenig ausschweifend. Aber das Institut war eigentlich relativ gut ausgestattet. Ich war auch in der Germanistik und Anglistik, die hatten nicht alle Bücher. Natürlich hat man am Institut auch viel mit Zeitschriften usw. gearbeitet. Da wurde dann dafür gesorgt, dass jeder die ihm zukommende Zeitschrift bekommen und untersuchen konnte. Ein bisschen musste man sich auch selbst bemühen. Aber das war nicht so schlimm. Einzig schlimm war es, wenn die Aa stieg, dann stand der Institutskeller mit Teilen der Bibliothek unter Wasser. Wir trugen dann stundenlang die dicken Folianten nach oben, und wenn alles getrocknet war, mussten sie wieder hinuntergebracht werden. Das war Schwerstarbeit. Aber der Raum des Instituts war begrenzt, und der Keller war halt der Archivraum. Ansonsten konnte man mit den Dingen auskommen, die es in der Bibliothek gab. Wir waren ja nicht so viele, es hat gereicht.

Wie war denn das Ansehen des Instituts zur damaligen Zeit?

Kuhn: Das Ansehen des Fachs war schlecht.

Huhndorf: Das kommt darauf an, auf wen Sie sich beziehen.

Ich denke an den Ruf, den das Fach und vor allem das Institut innerhalb der Universität hatten, also bei anderen Instituten, bei Professoren, bei den Studenten anderer Fächer.

Kuhn: Das Ansehen bei den Mitstudenten war schlecht. Ich kann mich erinnern an ein Seminar bei dem Assistenten von Benno von Wiese. Ich hatte da irgendetwas geschrieben über Schiller, und als Anfangssatz hatte ich zitiert: Nehmt die Wäsche von der Leine, die Komödianten kommen! Es wurde dann diskutiert, ob man so etwas in einer wissenschaftlichen Arbeit schreiben kann. Obwohl es als Zitat gekennzeichnet war. Wir, also die sechs Publizisten, die in dem Seminar saßen, haben dann streiten müssen, ob man das schreiben darf oder nicht. Die anderen waren alle gegen uns. So viel zum Ansehen der Publizisten bei den Studenten in Münster.

Huhndorf: Ich glaube schon, dass manche auch ein bisschen neidisch auf unser Institut waren. Die Germanistik und Anglistik waren damals schon Massenfächer, während wir noch einen sehr engen Kontakt untereinander hatten, aber auch mit unserem Lehrer. Das machte letzten Endes auch den Reiz dieses Studiums aus, unabhängig von der fachlichen Ausrichtung.

Kuhn: Es ging sehr persönlich zu.

Huhndorf: Hinzu kommt die Atmosphäre, die man nur in Altbauten findet. Natürlich, das Ansehen des Fachs in der Praxis war schlecht. Und das färbte eben ab. Da hing im Institut meiner Erinnerung nach mal ein Artikel aus der Zeit, der sich über die Publizistikwissenschaft sehr böse ausließ. Die Überschrift war: Die Entenwissenschaft.

Hatte man dann als Publizistikstudent oder als Absolvent mit einem schlechten Image zu kämpfen? Wurde man mit dem Vorwurf der „Entenwissenschaft“ konfrontiert?

Kuhn: Nein, so weit ging das in der Regel nicht. Aber sie haben uns nicht für Studenten einer Wissenschaft gehalten, das war ganz offensichtlich. Obwohl man mit ihnen in den Seminaren prima auskommen konnte, haben die Publizisten bei den Geisteswissenschaftlern nicht viel gegolten.

Huhndorf: Die Anerkennung als Wissenschaftler war den Redakteuren und der journalistischen Praxis hingegen völlig egal. In den Redaktionen bestand nicht der Wunsch, einen Wissenschaftler einzustellen. Ganz im Gegenteil. Wer abgesprungen ist in unserem Fach, ist sofort in die Praxis. Viele haben schon als Schüler und Student in der journalistischen Praxis gearbeitet und sich dann eines Tages gesagt: Mensch, wirf doch den Kram hin, was nutzt denn das? Sie sind auch bestärkt worden von ihren Arbeitgebern, also den Chefredakteuren. Ich würde sagen, in der Praxis bestand weder eine Gegnerschaft, noch herrschte die Bereitschaft vor, das Studium besonders zu honorieren. Mir hat es aber genutzt, dass ich ein abgeschlossenes Studium hatte. Diejenigen Redaktionen, bei denen ich dann war, wollten mich wiederhaben, weil sie merkten: Der kann etwas. Das Schreiben hängt ja davon überhaupt nicht ab. Genauso wie pädagogisches Geschick auch nicht davon abhängt, ob man Anglistik studiert hat. Die Reihenfolge ist vielleicht so: Erst mal will man irgendetwas Interessantes studieren, auch wenn die Eltern meinten: Mach mal irgendeine Lehre. Und natürlich findet man, wenn man aufgeschlossen ist als junger Mann, die ganze Medienwelt spannend. Und dann hat man das studiert und ist in gewisser Weise ernüchtert worden, aber trotzdem wurde man mit so schrecklichen Dingen wie Althochdeutsch nicht traktiert. Die Oberseminararbeiten in Münster waren auch verdiente Erfolgserlebnisse. In Berlin bekam ich dagegen ohne Mühe nur Einsen. Von München braucht man gar nicht zu reden. Das stand in dem Ruf, ziemlich einfach zu sein. Eine Oberseminararbeit in Münster, das war dagegen schon etwas. Die Ansprüche waren hoch.

Kuhn: Aber ich habe oft genug erlebt, dass die anderen Professoren von den Publizisten nicht so arg viel hielten.

Huhndorf: Das habe ich weniger gespürt.

Kuhn: Es kam darauf an, mit wem du zu tun hattest. Ich bin mir auch sicher, dass die Germanisten Clemens Heselhaus oder Benno von Wiese die Nase rümpften, wenn einer sagte, er sei Publizist.

Und wie war das Verhältnis zu den Kommilitonen? Sie sagten ja schon, die Zahl der Studenten am Institut war überschaubar. Standen Sie untereinander in engem Kontakt?
Günter Kieslich am Institut für Publizistik in Münster (Quelle: Privatarchiv Georg Hellack)

Günter Kieslich am Institut für Publizistik in Münster (Quelle: Privatarchiv Georg Hellack)

Huhndorf: Ja. Man kannte sich wirklich. Für manche war das Institut auch ein Wohnzimmer, was natürlich in den großen Instituten gar nicht möglich war. Natürlich gab es verschiedene Leute. Hagemann habe ich schon anerkannt in seiner Dominanz, das kann man positiv und negativ sehen. Natürlich war auch Günter Kieslich, sein Assistent, ein wunderbarer Mensch.

Kuhn: Ja, den musste man ein bisschen näher kennenlernen.

Huhndorf: Mit Kieslich habe ich alles besprochen, als ich nach England ging. Der war ja Experte dafür. Aber Hagemann brauchte sich nicht anstrengen, um klar zu machen, dass er mit Abstand der Wichtigste war.

Kuhn: Dafür hat er immer gesorgt.

Huhndorf: Natürlich waren außer ihm nicht viele da. Da war noch Haacke …

Kuhn: Naja, der kam immer auf Besuch aus Wilhelmshaven, wenn er Vorlesung hatte.

Huhndorf: Weil Sie nach dem Ansehen fragten: Natürlich gab es den Ärger mit den Verlegern nach der politischen Kampfschrift Dankt die Presse ab? (Hagemann 1957a). Aber auch schon früher, weil Hagemann gewisse Dinge im Zeitungsbereich kritisiert hatte.

Kuhn: Auch in der Journalistenausbildung eckte er an.

Huhndorf: Das ist richtig. Bei den Verlegern war Hagemann bestimmt nicht so beliebt. Aber ich finde, dass der schlechte Ruf des Fachs erst danach kam. Als junge Leute kamen, die eigentlich zu untüchtig für die journalistische Praxis waren und deswegen im Fach blieben. Oft sind die Besten unterwegs abgesprungen und haben gar nicht zu Ende studiert.

Kuhn: Richtig. Ich bin auch raus, als Hagemann weg war. Ich wollte eigentlich über den Western promovieren.

Huhndorf: Aber auch vorher schon sind Leute wie Enno Patalas, Heinz Ungureit und Fritz Wirth gegangen. Überspitzt könnte man sagen: Die Leute, die zeitweise an der Universität hängen geblieben sind, waren eine negative Auslese unter dem Aspekt, ob sie sich überhaupt in der journalistischen Praxis hätten bewähren können. Und die haben dann versucht – und das hat den schlechten Ruf für mich auch nachvollziehbar gemacht –, sich selbst von Gestalten wie Hagemann, Dovifat usw. abzuheben und ihre Eigenständigkeit mit abstrusen Theorien in Dissertationen und Habilitationen unter Beweis zu stellen. Walter J. Schütz gehört zu diesen überhaupt nicht. Aber das Fach ist dadurch total ausgeufert. Es gab ja nur noch „Fortschritte“ in oft komplizierter Sprache. Kein Wunder, dass mancher Chefredakteur sagte: Solche Spinner können wir nicht brauchen.

Gab es denn den Club Junger Publizisten auch noch zu Ihrer Zeit und waren Sie Mitglied?

Huhndorf: Nein, den kenne ich gar nicht.

Kuhn: Doch, den Club gab es schon noch. Aber ich war da auch nicht dabei.

An welche Vorlesungen oder Seminare können Sie sich denn noch besonders erinnern?

Kuhn: Für das Feuilleton war Wilmont Haacke zuständig. Haacke hat sich an die Hagemann-Publizistik gehalten. Die Vorlesung war dementsprechend. Im Grund genommen war das, wenn man zurückblickt, eine Geschichte der Publizistik. Das war wichtig, denn will man über Publizistik reden, muss man über die Entwicklung der Publizistik reden. Es war hoch interessant. Wirklich störend war, dass Hagemann seine Vorlesungszeiten immer in die Mittagspause legte. Das hat natürlich das Einschlafen enorm gefördert. Wir saßen in der letzten Reihe, aber es war wirklich Begräbnisstille, wenn er vortrug. Hagemann trug ja sehr laut vor. Mit einer Stimme, die sich nicht hob und nicht senkte. Das war sehr monoton und einschläfernd.

Waren dann die Vorlesungen eher langweilig bei Hagemann?

Kuhn: Nein, das ist ja das Komische. Langweilig war es nicht: Die Stimme schläferte ein, aber nicht das, was er vortrug. Für ihn war alles wichtig, deswegen musste er auch alles betonen. Aber wenn sich das dann auf einer bestimmten Lautstärke eingependelt hatte, war es monoton.

Huhndorf: Das stimmt. Ein rednerisches Talent war Hagemann nicht gerade. Im Gegensatz zu Dovifat. Eine Rede lebt ja auch davon, dass man mal lauter und mal leiser spricht, das Tempo wechselt usw. Das hat Hagemann nicht gemacht. Es war ein bisschen gespenstisch, wir waren ja auch wenige. Ich habe ein Bild vor Augen mit einem Hörsaal mittlerer Größe, in dem alle fast ganz hinten saßen. Ich habe mich immer gefragt, warum denn alle in die Vorlesung gehen. Denn wenn man nicht direkt vor einer Prüfung stand, musste man sich gar nicht zeigen. Ich saß nicht ganz hinten und habe mich nicht gelangweilt. Richtig ist, dass Hagemann im Vergleich zu Dovifat kein Redner war.

Kuhn: Selbst Haacke war da besser.

Huhndorf: Sagen wir mal so: Hagemann hatte was zu sagen. Insofern war das für mich eigentlich interessant – leider habe ich mein Studienbuch nicht mehr. Ich weiß gar nicht mehr, welche Vorlesungen das alles waren. Es stimmt schon, Hagemanns Stimme blieb ziemlich gleichförmig in der Tonlage, aber er war für mich schon immer kompetent über das, was er sprach. Er hat ja auch große Reisen unternommen, die hat er verwertet, hat seinen eigenen Horizont erweitert und hat versucht, die ganzen Gebiete nach und nach gemäß seinem Schema abzuhandeln.

Kuhn: Er ist ja einer derjenigen gewesen, die überhaupt die Regeln aufgestellt haben. Da hat er sich sehr viel Mühe gegeben, und das war auch sehr übersichtlich und brauchbar.

Deswegen gilt Hagemann als Systematiker.

Huhndorf: Das war mein Glück, muss ich wirklich sagen. Ohne Hagemanns Vorgaben wäre ich wahrscheinlich in dem Stoff ertrunken. Aber Hagemann ließ mir auch praktische Hilfe angedeihen, auch dabei hat er mich sehr unterstützt. Im Gegensatz zu Dovifat und d‘Ester hat Hagemann viel mehr publiziert. Aber das ist Ende der 1950er-Jahre gar nicht positiv vermerkt worden. Das war die Zeit des Kalten Krieges, da hat man sich mit dem Antikommunismus beschäftigt. Dass Dovifat (exemplarisch 1956) eigentlich eine überholte und auch im Dritten Reich verhaftete Theorie vertrat, störte überhaupt nicht, weil man diese auch auffassen konnte als publizistische Anleitung für den Kampf gegen den Kommunismus. So ist das schnell umgedeutet worden. Da hatte Hagemann doch etwas mehr Distanz. Nach München zu gehen, habe ich nie in Erwägung gezogen, weil dort d’Ester war und das galt sowieso als vorgestrig. Sonst gab es nichts.

Kamen Hagemanns politische und religiöse Ansicht in seiner Lehrtätigkeit zum Tragen?

Huhndorf: Nein, er hat sich auch nicht gekümmert darum, wie die Studenten politisch standen. Nur seine Grundhaltung, die kam natürlich durch. Und er war ja auch zeit seines Lebens ein politischer Mensch. Aber diese ganze Thematik der Adenauer-Politik hat er nicht zum Gegenstand von Vorlesungen gemacht oder in die Vorlesung einfließen lassen. Er hat da schon getrennt. Wenn jemand politisch engagiert ist, dann heißt das ja nicht, dass er das in seine Lehrtätigkeit einfließen lassen muss. Ich bin davon überzeugt, dass er nie – auch nicht in der Bewertung oder Benotung von Arbeiten – berücksichtigt hat, wie jemand denkt, vorausgesetzt er wusste es überhaupt.

Zum Filmseminar: Wie kann ich mir denn den Ablauf vorstellen? Wurden Filme in dem Seminar gezeigt?

Kuhn: Nein, dafür musste man ins Kino gehen. Was den Ablauf angeht: Man musste eine Filmkritik schreiben, die dann auch begutachtet wurde.

Also gab es eine bestimmte Anzahl von Filmen …

Kuhn: … die man sehen sollte, ja. Und jeder musste dann eine Kritik vortragen und dann gab jeder seinen Senf dazu. Und da ließ Hagemann dann eigentlich immer die anderen reden. Das kann natürlich auch einfach daran gelegen haben, dass er den Film nicht gesehen hat. Aber natürlich, die guten Filme hat er auch gesehen.

Was waren das für Filme? Welche Filmgenres wurden behandelt?

Kuhn: Ein paar japanische Filme, aber beispielsweise auch französische. Ich kann mich jetzt an die Titel gar nicht mehr erinnern.

Und wer war für die Filmauswahl zuständig? War das Hagemann selbst?

Kuhn: Das hat er selbst gemacht. Wahrscheinlich hat ihm Patalas dabei geholfen, weil er sich mit dem Film auskannte. Hagemann hat sich zumindest bei der Besprechung hinterher oder bei Fragen sehr interessiert gezeigt. Aber er hat nie öffentlich gesagt, dass er selbst nicht so arg viel davon verstand.

Huhndorf: Er hat mehr moderiert.

Kuhn: Ja, so ungefähr. Aber einige Filme hatte er auch gesehen, da hat er natürlich schon Einspruch erhoben, wenn irgendetwas war. Da sagte er dann: Nein, das haben Sie falsch gesehen. Das hat er schon gemacht. Aber man hat es so nebenbei gemerkt, dass das nicht sein Fach war.

Und war der Fokus dann auf Filmkritik gerichtet oder ging es auch um theoretische Fragen?

Kuhn: Es ging ihm einfach um die präzise Aussage zu einem Film, den man gesehen hatte.

Huhndorf: Es ging um die Inhalte und die dramaturgischen Fragen.

Kuhn: Ich habe einmal eine Arbeit über den Spannungsaufbau geschrieben. Da hat Hagemann dann eingehakt. Das war etwas, was er verstand, wo er mithalten konnte. Darüber hat er dann auch geredet. Aber sonst hat er in der Regel zugehört und höchstens nachgefragt, wenn jemand etwas gesagt hat, was er nicht so ganz verstanden hat. Auf diese Weise hat er sich eingemischt. Er betrachtete den Film als zweitrangig. Das war nicht das Medium, das ihm so vertraut war.

Und wie war sein Filmgeschmack? Wegen des Films Die Sünderin ist er ja aus der FSK ausgetreten (vgl. Fehrenbach 1995).

Kuhn: Ich glaube, wir müssen davon ausgehen, dass Hagemann grundsätzlich ausgesprochen konservativ war. Nicht nur politisch. Und dieses Konservative konnte er nicht leugnen.

Wie wirkte sich das auf das Filmseminar aus, wo ja doch möglicherweise provokative Filme auf dem Programm standen?

Kuhn: Wenn er noch in Münster gewesen wäre, als sie den Bergmann-Film Das Schweigen brachten, hätte er natürlich gesagt: verbrennen. Das war seine Haltung dazu. Andere Meinungen durften geäußert werden, das hat Hagemann akzeptiert. Eingegriffen hat er erst hinterher.

Das war ja dann ganz anders als in den übrigen Seminaren.

Kuhn: In den normalen Seminaren hat er schon vorher Fragen gestellt oder etwas angeschnitten. In den Filmseminaren ging es eher um den Inhalt und das, was der Regisseur daraus gemacht hat. Die Leistung der Schauspieler war sekundär. Das hat ihn nicht so interessiert. Ein gemeinsames Filmerlebnis fand nie statt. Es wurde als Aufgabe gegeben und jeder konnte dann reingehen, wann er wollte, aber bis zur entsprechenden Seminarstunde musste man den Film eigentlich gesehen haben. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass da immer ein Haufen Leute dabei war, die den Film nicht gesehen haben.

Neben dem Filmseminar gab es ja auch noch den Studentischen Filmclub außerhalb des Instituts. Hing dieser nun mit dem Filmseminar in irgendeiner Weise zusammen?

Kuhn: Der hatte mit dem Filmseminar von Hagemann gar nichts zu tun. Es gab eine Zeit, wo jede Stadt einen Filmclub hatte, der sich dann studentischer nannte oder nicht, in der Regel waren die Studenten aber der Ausgangspunkt, weil sie sich einfach mehr für den Film interessierten. In Münster hatten die Studenten in jeder Beziehung den Vorrang. Die meisten Publizisten, die in Hagemanns Filmseminar waren, waren auch Mitglieder im Filmclub.

Mich verwundert ein bisschen, dass Sie sagen, der Film sei nicht Walter Hagemanns Métier gewesen. Denn er war im Bereich Film institutionell sehr aktiv: als Herausgeber der Zeitschrift filmforum, als Gründer der Deutschen Gesellschaft für Filmwissenschaft …

Kuhn: Für Hagemann war der Film eine Grundlage der Publizistik. Die Aussagekraft des Films hat für ihn eine große Rolle gespielt. Er selbst war natürlich eher für die Papiermedien zuständig. Gemäß dem publizistikwissenschaftlichen Grundsatz war der Film nicht auszuschließen, sondern genauso wichtig wie der Rundfunk, die Zeitung und die Zeitschrift. Der Film hatte für ihn genauso viel Anspruch wie meinetwegen das Radio. Beim Film war es so, dass die Wissenschaft erst noch entstehen musste, die Leute, die die Filme gesehen hatten, bauten dann mit an seinen Bausteinen. Und es gab ja auch sein Buch Der Film (Hagemann 1952) in dem er all diese Dinge verwertet hat.

Kam es sonst also gar nicht zum Tragen, dass Hagemann eine Filmzeitschrift herausgab?

Kuhn: Meines Wissens hat er dort selbst gar nicht geschrieben. Wahrscheinlich war Hagemann nur eine Art förderndes Mitglied. Er hat das nicht für dringend gehalten. Er hat nie zugegeben, dass er nicht so viel davon verstand, das wäre ihm unangenehm gewesen. Man konnte merken, dass es ihm nicht so am Herzen lag, sagen wir es mal so. Aber er hat es durchaus ernst genommen. Wie gesagt, er hat eigentlich immer uneingeschränkt zugehört und sich nur eingemischt, wenn er eine Frage hatte. Was da anders oder besser war, das wollte er dann wissen. Ich bin mir auch sicher, dass er sich den einen oder anderen Film hinterher angesehen hat. Früher war es ja nicht so, dass ein Film nach ein paar Tagen schon wieder abgesetzt wurde. Heute spielen sie einen Film ja nur noch zwei oder drei Wochen.

Und das waren alles aktuelle Filme, die gleichzeitig im Kino liefen?

Kuhn: Ja, fast nur. Das musste ja sein.

Ich würde noch mal gern das Thema wechseln: Können Sie sich noch erinnern, an Exkursionen des Instituts teilgenommen zu haben?

Kuhn: Wir sind mal nach Bonn gefahren zum Bundeshaus. Da haben wir in einer Jugendherberge geschlafen. Ich kann mich erinnern, dass wir noch durch Köln gestöbert sind, das waren ein paar Tage. Aber ich weiß gar nicht, ob er da dabei war.

Organisiert wurden die Exkursionen aber wohl von Hagemann.

Kuhn: Ja, dafür war er zuständig. Er musste sich ja auch um die Finanzierung kümmern. Und Hagemann hat auch dafür gesorgt, dass es funktioniert hat. Es gab sicher noch andere Exkursionen, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Meist fand das am Wochenende statt, da war ich häufig zu Hause.

Herr Kuhn, Sie haben Ihr Studium nicht abgeschlossen, weil Sie ja nicht promoviert haben. Wann haben Sie denn beschlossen, Ihr Studium aufzugeben?

Kuhn: Ich hatte schon einen Job. Hinzu kam, dass Hagemann weg war. Dann kam Henk Prakke, über den ich am besten gar nichts sagen will. Das hatte sich dann erledigt.

Und wo haben Sie zu der Zeit gearbeitet?

Kuhn: Bei den Ruhr-Nachrichten in Dortmund. Dort wartete man schon auf mich. Ich hatte dort in den Semesterferien schon gearbeitet.

Bewegten Sie sich damals auch schon im Bereich Film?

Kuhn: Nein, ich musste natürlich ein Volontariat machen, aber ich habe neben dem Studium bloß ein Jahr volontiert – normalerweise sind das ja zwei Jahre – und in der Lokalredaktion angefangen, wurde aber dann nach einem Vierteljahr ins Feuilleton versetzt, weil da ein junger Kollege ausgefallen war. 1972 bin ich nach Stuttgart gekommen. Die Zeit davor habe ich zuerst bei den Ruhr-Nachrichten verbracht, aber auch bei der Funkuhr, einer Programmzeitschrift, und beim Lübbe-Verlag gearbeitet.

Huhndorf: Hagemann vermittelte ja auch die Praktika, zum Beispiel nach Köln zum Westdeutschen Rundfunk.

Kuhn: Die Möglichkeiten, in den Semesterferien zu arbeiten, wurden vom Institut forciert.

Ich würde gerne noch auf das Verhältnis zwischen Hagemann und den Studenten zu sprechen kommen. War das persönlich oder eher formell und distanziert?

Kuhn: Also ich würde sagen, Hagemann war in der Beziehung sehr zurückhaltend. Er hat natürlich mit den Studenten gesprochen, wenn sie etwas von ihm wissen wollten. Er hat sie auch gelegentlich nach Hause eingeladen, aber ich bin da nie dabei gewesen. Ich habe immer geglaubt, Günter Kieslich und Walter J. Schütz hätten ein etwas engeres Verhältnis zu ihm, aber hinterher hat sich herausgestellt, dass das gar nicht so war.

Hat er tatsächlich Leute zu sich nach Hause eingeladen?

Kuhn: Ja sicher. Also Leute, die ihm näher standen, weil sie halt für ihn schon gearbeitet haben.

Huhndorf: Davon wusste ich nichts, bis eben auf die letzte Phase, als ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit zu ihm nach Hause eingeladen wurde. Aber ich gehörte ja auch nicht zu den ganz alten „Schlachtrössern“.

Noch einmal in die späten 1950er-Jahre. In der Literatur wird immer dargestellt, dass sich in dieser Zeit ein Wandel in Hagemann vollzogen hat: vom Wissenschaftler zum Politiker und hinsichtlich seiner politischen Überzeugungen (vgl. Pasquay 1986, Hachmeister 1987). War es Ihrer Meinung tatsächlich ein Wandel?

Kuhn: Nein, das war kein Wandel, das ist falsch.

Huhndorf: Für die Zeit vor 1954 kann ich nichts sagen. Es kann natürlich sein, dass die eingetretenen Ereignisse eine gewisse Wirkung hatten. Die Wiederbewaffnung zum Beispiel.

Verwiesen wird zum Beispiel darauf, dass sich Hagemanns Weltreise – er war auch in Hiroshima – als besonders prägend hinsichtlich seiner politischen Gesinnung erwiesen hat.

Kuhn: Das kann natürlich sein, dass das ein Grund war. Er hat offensichtlich erlebt, dass die Welt noch schlechter ist, als er vorher angenommen hat.

Huhndorf: Auch die Union hat sich natürlich gewandelt. Mit der stärkeren Westbindung. Da kann man ja auch die These vertreten, dass sich Hagemann gar nicht so gewandelt hat, sondern eher die Union. Und er ist dann in die Situation gekommen, dagegen zu opponieren. Aus diesen nationalen Gründen, die wir erörtert haben. Also dass sich Hagemann vom glühenden Adenauer-Anhänger zu dessen Gegner gewandelt hat, das ist so monokausal, glaube ich, nicht richtig.

Kuhn: Aber es kann natürlich sein, dass diese äußeren Einflüsse, die er gesehen hat, seine Meinung geändert haben.

Und wie standen die Studierenden Hagemann und seinem politischen Aufbegehren gegenüber?

Kuhn: 1957 und 1958 war die Meinung im Institut eigentlich immer noch auf seiner Seite. Was sich da tat und was er zu sagen hatte, war nachvollziehbar. Die Keilerei kam erst später.

Huhndorf: Das kam ziemlich plötzlich. Man muss vielleicht auch berücksichtigen, wo das Herz der Studentenmehrheit schlägt, das schlägt kaum je konservativ. Ich kann das nicht belegen, aber ich glaube, auch am Institut bestand keine Mehrheit für die Adenauer-Politik.

Kuhn: Nein, natürlich nicht. Am Anfang waren noch alle d’accord mit Hagemann.

Gab es denn auch Kommilitonen, die sich mit Hagemann gemeinsam engagierten? Zum Beispiel auf Demonstrationen?

Huhndorf: Ich erinnere mich, wie er an der Straßenwache gegen den Atomtod mitgemacht hat. Da standen Mertner und Hagemann in Münster auf der Straße.

Kuhn: Für die Studenten war das ganz normal. Mertner war auch kein dummer Mann. Er war genauso wie wir alle damals gegen diese Politik. Kein Mensch wusste, warum wir einen Atomminister brauchen, der Franz-Josef Strauß hieß.

Huhndorf: Die Rechten haben dann natürlich mit Fleiß verbreitet, dass die ganze Protestbewegung aus dem Osten gesteuert ist.

Ihr Kommilitone Dietrich Strothmann erzählte mir, dass er sich mit Hagemann an den Münsteraner Dom kettete und Parolen der Bewegung gerufen habe.

Kuhn: Das kann sein. Das war ein akuter Anlass, wirklich an die Öffentlichkeit zu gehen. Aber eigentlich auch immer im Verein mit den Studenten selbst.

Strothmann meinte, dass er aktiv dabei war. Sie auch?

Kuhn: Ja.

Und wie kann man sich diese Protestveranstaltungen vorstellen?

Kuhn: Ach, das kennen Sie doch: Lichterketten usw. Daran hat sich doch nichts geändert.

Ganz ohne militante Aktionen?

Kuhn: Nein, aber das wurde im Zweifelfall immer von außen herangetragen.

Literaturangaben

  • Emil Dovifat: Publizistik als Wissenschaft. Herkunft – Wesen – Aufgabe. In: Publizistik 1. Jg. (1956), S. 3-10.
  • Heide Fehrenbach: Cinema in Democratizing Germany. Reconstructing National Identity after Hitler: Chapel Hill: University of North Carolina 1995.
  • Lutz Hachmeister: Theoretische Publizistik. Studien zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland. Berlin: Spiess 1987.
  • Walter Hagemann: Publizistik im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Methodik der Massenführung. Hamburg: Heitmann 1948.
  • Walter Hagemann: Der Film. Wesen und Gestalt. Heidelberg: Vowinckel 1952.
  • Walter Hagemann: Dankt die Presse ab? München: Isar-Verlag 1957a.
  • Walter Hagemann (Hrsg.): Die deutsche Zeitschrift der Gegenwart. Eine Untersuchung des Instituts für Publizistik der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Münster: Fahle 1957b.
  • Günter Huhndorf: Publizistische Kleindrucke in England vor 1558. Münster: Kramer 1959.
  • Anja Pasquay: Zwischen Tradition und Neubeginn. Walter Hagemann in Münster 1946-1959. In: Rüdiger vom Bruch/Otto B. Roegele (Hrsg.): Von der Zeitungskunde zur Publizistik. Biographisch-institutionelle Stationen der deutschen Zeitungswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main: Haag + Herchen 1986, S. 249-273.
  • Walter J. Schütz: Ich habe immer von Selbstausbeutung gelebt. In: Michael Meyen/Maria Löblich: „Ich habe dieses Fach erfunden“. Wie die Kommunikationswissenschaft an die deutschsprachigen Universitäten kam. 19 biografische Interviews. Köln: Herbert von Halem 2007, S. 33-58.
  • Thomas Wiedemann: Walter Hagemann. Aufstieg und Fall eines politisch ambitionierten Journalisten und Publizistikwissenschaftlers. Köln: Herbert von Halem 2012.

Empfohlene Zitierweise

    • Günter Huhndorf und Otto Kuhn: Hagemann hatte was zu sagen. Feature zum 5o. Todestag von Walter Hagemann. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2014. http://blexkom.halemverlag.de/walter-hagemann_hagemann-hatte-was-zu-sagen/ (Datum des Zugriffs).