Walter Hagemann (Quelle: Privatarchiv Horst Hagemann)

Bernhard Wittek: Die Atmosphäre bei Hagemann war ein echter Lichtblick

Thomas Wiedemann hat Bernhard Wittek am 13. Oktober 2009 in München zu seinem Studium bei Walter Hagemann am Institut für Publizistik an der Universität Münster befragt (vgl. Wiedemann 2012). BLexKom dokumentiert dieses Gespräch aus Anlass des 50. Todestages von Walter Hagemann am 16. Mai 2014.


Bernhard Wittek (Jahrgang 1926) begann sein Publizistikstudium in Münster 1950 und war in den folgenden Jahren führender Kopf der ersten Nachwuchsorganisationen des Fachs (Club Junger Publizisten, Deutsche Vereinigung Junger Publizisten). Nach seiner Promotion, die 1960 genau in die Turbulenzen nach Walter Hagemanns Suspendierung fiel, machte er sich als Pressereferent des Goethe-Instituts einen Namen.

Herr Wittek, Sie waren während Ihrer Studienzeit am Institut für Publizistik in Münster nicht nur engagiertes Mitglied im JuPuClu, dem Club Junger Publizisten, sondern zwei Jahre dessen Vorsitzender und 2. Vorsitzender der Deutschen Vereinigung Junger Publizisten (DVJP). In welcher Beziehung stand denn der JuPuClu zur DVJP?

Der JuPuClu war eine Unterorganisation der Deutschen Vereinigung Junger Publizisten. Eine Ortsgruppe in Münster. Anders als die üblichen Studentenvereinigungen waren wir keine berufsbezogene Fachschaft. Wir waren zwar überwiegend Studenten der Publizistik, aber zu unseren Festen und Exkursionen sind durchaus auch Fremde gekommen. Trotzdem war der JuPuClu stärker auf das Fach ausgelegt als die normale studentische Verbindung.

Gab es ähnliche Vereinigungen auch an den übrigen Standorten des Fachs?

Ja, unter anderem in Nürnberg, Berlin und München. Wir haben beispielsweise die 1. Internationale Publizisten-Tagung 1952 in Münster mitorganisiert, so hieß das etwas großspurig. Zu dieser Tagung kamen Teilnehmer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, aus Holland, Indonesien und Dänemark. Wir kamen auf etwa zehn Nationen.

Was waren denn die Aufgaben des JuPuClu?

Wir waren eine studentische Vereinigung, die beispielsweise behilflich bei Exkursionen war. Wir hatten meistens alle 14 Tage ein Meeting. Vorsichtig formuliert, um keine falschen Erwartungen zu schüren: Bei uns waren etliche aparte Mädchen. Zum Beispiel Sybille von Dinglake, die 1954 nach Münster kam. Hagemann war für so etwas durchaus empfänglich. Eine andere Beauté d’Université war Dagmar Haver, deren Vater Vorsitzender der Ruhrkohle war. Dementsprechend gut war sie gestellt … Der Club-Vorstand bot außerhalb der Lehrveranstaltungen Referate und Diskussionsrunden an. Außerdem setzte sich der Vorstand beispielsweise dafür ein, den Boulevard nicht außer Acht zu lassen, auch wenn es in Münster keine Boulevardblätter gab.

Wie kam dieser Vorschlag bei Walter Hagemann an?

Hagemann fand das gut. Das war das Besondere bei ihm im Gegensatz zu Emil Dovifat und Karl d’Ester. Hagemann war viel beweglicher und nicht von der Systematik eingeengt, die von der Zeitungswissenschaft vor dem Krieg vorgegeben war. In Münster gab es ja auch einen Lehrbeauftragten für Rundfunkkunde.

Kurt Wagenführ.

Genau. Und dann war Hagemann mit seinem Filmseminar exklusiv. Wichtig war auch die Vorlesung „Publizistik im Dritten Reich“, aus der ein bahnbrechendes Buch entstand (vgl. Hagemann 1948). Ich war kurz im Krieg, dann in Kriegsgefangenschaft und kam erst 1947 zurück. Günter Kieslich kam erst 1949 aus Russland zurück. Hagemann bediente die Erwartung dieser Studentengeneration weitaus besser als Dovifat und d’Ester.

Das Thema „Publizistik im Dritten Reich“ war natürlich hochaktuell.

Das war absolutes Neuland. Und die Sachen waren äußerst interessant, die Vorlesungen sehr gut besetzt. Hinzu kommt der Umstand, dass bei Hagemann eine andere Klientel saß.

Wie kamen Sie überhaupt mit Emil Dovifat und Karl d’Ester in Kontakt?

In der Eigenschaft als Münsteraner Vorsitzender lernte ich Dovifat ziemlich intensiv kennen, und d’Ester zumindest bei einer Gelegenheit, einer richtig offiziellen Visite. D’Esters Studenten klagten oft darüber, dass er altersbedingt überfordert war mit den Erwartungen, die man an ihn stellte. Er war vermutlich der am wenigsten Produktive. Er gab eben schon den Pensionär. Wie alt war er denn?

Karl d’Ester wurde 1881 geboren und war damit knapp 20 Jahre älter als Hagemann.
Karl d'Ester mit Studenten in München (Quelle: Starkulla/Wagner 1981: 6)

Karl d’Ester mit Studenten in München (Quelle: Starkulla/Wagner 1981: 6)

Dass so viele nach München gingen, hatte nichts mit d’Ester zu tun, sondern mit der Stadt – man versprach sich in den frühen Semestern zu Recht von München mehr als von Münster und auch Berlin unter den damaligen Verhältnissen. Leute wie Kurt Koszyk oder auch Walter J. Schütz lobten München, weil sie dort hingegangen sind. Sie mussten es ja gut finden. Heinz Starkulla, der auch Schlesier war und den ich ganz gut kannte, bestätigte meine Meinung. Von der DVJP gaben wir auch einen Studienratgeber heraus, in dem München nicht sonderlich gut abschnitt.

Sie fühlten sich also nie von München angezogen?

Ich kannte meine pekuniäre Lage und die war nicht gut, deswegen kam München für mich nicht infrage. Münster konnte ich mir gerade noch leisten. Dann merkte ich aber, dass ich damit gut bedient war, während München in der öden Zeitungswissenschaft hängen geblieben war.

Was war Ihr Eindruck von Emil Dovifat?

Dovifat erkannte erst verhältnismäßig spät, dass es mit der reinen Konzentration auf Druckmedien oder gar die Tageszeitung nicht zu schaffen war. Er war sogar ein bisschen neidisch auf Hagemann. Er gab zu, dass ihm so etwas nicht eingefallen wäre, obwohl es eigentlich ihm und Berlin zugestanden hätte. Hagemann war durchaus anregend und führend. Die Erweiterung des Fachs, die er mitgemacht hat, dass er sein Netz viel weiter gespannt hatte, muss hervorgehoben werden. Für mich war Münster zunächst ein Zwang, dann merkte ich, dass ich dort mein Studium rasch absolvieren konnte, und darüber hinaus studierte ich dabei noch das interessanteste Fach, nämlich die Publizistikwissenschaft.

Haben Sie aufgrund Ihrer Kontakte zu den anderen Instituten in Deutschland auch etwas von den Auseinandersetzungen zu spüren bekommen, die zwischen Münster und München bestanden?

Nicht näher. D’Ester wusste natürlich, dass ich aus Münster komme. Er sah aus wie eine Spitzweg-Figur, durchaus ein Grandseigneur, aber schon etwas altersklapprig. Mit Hagemann dürfte er auf Anhieb nicht gekonnt haben. Auch in der Fachdebatte bestand d’Ester sehr auf seiner Auffassung von der Zeitungswissenschaft. Er war sehr auf die Pressegeschichte ausgelegt. Ich war einmal zum Tee bei d’Ester eingeladen. Dabei stellte er ein paar Fangfragen, wie ich zu der ganzen Frage in Münster stehe. Ich antwortete ihm, dass ich sehr an der Erweiterung interessiert bin, am Rundfunk und am Film. Das hat er zur Kenntnis genommen, ohne ein abschließendes Werturteil zu fällen.

Mit Dovifat verstand sich Hagemann aber besser.

Ja. Grundsätzlich war das Verhältnis zwischen Münster und Berlin nicht schlecht.

Dürfte ich Ihnen einige Fragen zu Ihrer Person stellen. Sie sind in Schlesien geboren?

Ja, 1926 in Beuthen, Oberschlesien. Meine Mutter kam als Heimatvertriebene mit Bruder und Schwester nach Osnabrück, alle auf Notquartiere verteilt. Ich hatte die Adresse meiner Mutter und kam so nach der Kriegsgefangenschaft auch dorthin.

Entschieden Sie sich deshalb, in Münster zu studieren?

Das hat sich dann angeboten, weil es das Günstigste für mich war. Im ersten Semester bin ich nur dreimal in der Woche nach Münster gefahren und danach habe ich mir dort eine preiswerte Bude genommen und von Anfang an gejobbt. Ich hatte eine Stelle als Korrektor bei Fahle und habe für 89 Pfennig die Stunde Adressbücher durchgesehen. Münster war für mich optimal. Ab 1952 habe ich bei den Westfälischen Nachrichten ab und zu ein bisschen mitgearbeitet. Einer der Hagemann-Schüler bekam dann bei der Kreisausgabe der Westfälischen Nachrichten eine Chef-vom-Dienst-Stelle – und ich wurde so in Warendorf als Volontär alleiniger Redakteur. Das war Learning by Doing, wobei ich natürlich schon vorher als freier Mitarbeiter gelernt hatte, wo es lang geht.

Welche Fächer studierten Sie neben Publizistik?

Ich fing mit Germanistik im Hauptfach an. Bei der Promotion wählte ich dann die Fächer Publizistik, Germanistik und Anglistik. Publizistik war also nicht von Anfang an mein Hauptfach. Ich wechselte eher per Zufall zur Publizistik. In den ersten Semestern machte ich auch noch Kunstgeschichte. Mein Interesse für dieses Gebiet rührte daher, dass ich im Krieg nach Ägypten gekommen und dort bis 1947 in Gefangenschaft war.

Wie waren denn die Studienbedingungen vier Jahre nach Kriegsende in Münster?

Ganz schlecht war das alles. Wir waren ganz schlecht ausgestattet.

Und hat sich die Situation bis zu Ihrer Promotion (vgl. Wittek 1962) entspannt?

Das Studium beendete ich eigentlich schon 1954. Dann saß ich in London an meiner Doktorarbeit oder jobbte, zum Beispiel in Warendorf. Grundsätzlich waren aber die Bedingungen im Vergleich zu anderen Städten in Münster, das ja ziemlich zerbombt war, nicht besonders gut. Und da hat Hagemann durchaus eine Atmosphäre geschaffen. Man konnte das Institut als Gammelräume nutzen, zum Quatschen und Aufwärmen, es war auch sehr zentral gelegen. Die Allgemeinbedingungen waren in Münster in der Zeit, in der ich anfing, denkbar schlecht – aber das Institut für Publizistik war die Wärmehalle. Auch die Bibliothek war damals wirklich sehr mangelhaft, das fand ich nicht gut. Die Atmosphäre bei Hagemann war ein echter Lichtblick. Man ging da gern hin.

Welches Ansehen hatte denn das Institut zur damaligen Zeit an der Universität? Als Ganzes hatte das Fach ja eher mit Legitimationsproblemen zu kämpfen.

Das ist richtig. Aber wissen Sie, unter den Studenten, die bei Hagemann waren, war eine ganz andere Schicht, ein ganz anderer Typus als bei Benno von Wiese in der Germanistik oder bei Edgar Mertner in der Anglistik. Letzterer gehörte übrigens zu den Menschen, die gegen die Atombewaffnung waren, weswegen er von Hagemann und dessen politischem Engagement viel gehalten hat.

Gab es also auch Professoren, die Hagemann geschätzt haben?

Auf jeden Fall. Von den Studenten wurden wir manchmal auch beneidet. Man wusste, dass es bei uns sehr interessant zuging. Gisela Kleine zum Beispiel studierte im Hauptfach Germanistik und war im Nebenfach bei Hagemann. Sie schwärmt heute noch davon, was bei den Publizisten los war. Da waren unheimlich witzige Leute. Und Sie wissen ja, wie viele Hagemann-Schüler Chefredakteure wurden.

Ja, beinahe ein Dutzend.

Natürlich hatte das auch mit deren Qualität zu tun, aber ich würde sagen, dass Hagemann durch seine Art, das Fach zu erweitern, die Leute angeregt hat, nicht nur reine Zeitungshistorie zu betreiben. Mein Interesse war ganz stark Film und Hörfunk, ich wollte dort irgendetwas Einschlägiges machen.

Haben Sie denn auch Veranstaltungen von Kurt Wagenführ oder Wilmont Haacke besucht?

Bei Wagenführ belegte ich Seminare, die ich zum Teil nicht so brillant fand, aber es schadete nicht. Man hat im Grunde genommen bei Hagemann mehr bekommen als bei Wagenführ oder Wilmont Haacke, auch über das Feuilleton. Bei Haacke habe ich auch mal eine Veranstaltung belegt, aber im Zentrum stand bei mir Hagemann.

Sie haben ja vorhin schon die Vorlesung „Publizistik im Dritten Reich“ erwähnt. Gab es denn sonst noch Lehrveranstaltungen, die Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben sind?

Vor allem natürlich die Filmseminare.

Wie kann ich mir deren Ablauf vorstellen?

Es gab meistens Referate der Teilnehmer. Ich belegte einmal ein Seminar über Synchron- und Originalfassungen – und meistens beschäftigten wir uns dann mit englischen Filmen, die man sich auch im Original anschauen konnte.

Wer war denn für die Filmauswahl verantwortlich?

Hagemann hat parallel den Studentischen Filmclub in Münster aufgezogen. Wer genau die Filme ausgewählt hat, das weiß ich nicht mehr. Aber es waren außergewöhnliche Filme geboten.

Wurden die Filme auch vorgeführt?

Nicht im Institut. Die Filmvorführung war ja schwierig. Meistens wurde ein bestimmter Film vorausgesetzt, den musste man sich angesehen haben. Wir wussten zu Beginn des Semesters, wann bestimmte Filme laufen würden. Im Institut bestand dazu keine Möglichkeit. Und dann ging es um die Inhaltssynopse: Man sprach zunächst über den Film, aber das muss man sich als ziemlich familiäre Atmosphäre vorstellen. Zugleich war das Filmseminar sehr prominent besetzt. Eine der großen Leuchten war Enno Patalas. Aber auch Dieter Krusche, der im Anschluss bei der Münsterschen Zeitung und später beim ZDF Filmkritiker war.

Walter Hagemann war zudem Herausgeber der Zeitschrift filmforum und begründete die Deutsche Gesellschaft für Filmwissenschaft. Machte sich das im Filmseminar bemerkbar?

Hagemann war sehr kenntnisreich und hatte einen sicheren Filmgeschmack. Er gab den anspruchsvollen Filmbesucher, man konnte also durchaus ernsthaft mit ihm über Filme diskutieren. Und er ließ der Debatte eigentlich ziemlich freien Lauf.

Welche Filme standen auf dem Programm? Dass Hagemann aus der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft wegen des Films Die Sünderin austrat, spricht zumindest aus heutiger Sicht eher für einen konservativen Filmgeschmack.

Wir haben sehr viele französische Filme gesehen, das war damals in Mode. Es gab ja auch die Französischen Filmtage in Baden-Baden, die von einem Kulturreferenten der Besatzungsmacht ins Leben gerufen worden waren und einmal jährlich stattfanden. Dort ist Hagemann mit vier oder fünf Studenten hingefahren – sogar die Unterkunft hat Hagemann organisiert (vgl. Paech 1989: 235). Das muss ganz spannend gewesen sein.

Der wohl prominenteste Hagemann-Schüler im Filmmétier, Enno Patalas, wurde von Hagemann aus dem Filmseminar hinausgeworfen. Wie kam es zu diesem Eklat?

Patalas hat Dinge bereits vorab veröffentlicht, die er erst in seiner Dissertation darstellen hätte sollen. Das wurde dann Hagemann zugetragen von jemandem, der Patalas nicht wohl gesonnen war. Hagemann forderte Patalas schließlich auf, coram publico den Saal zu verlassen.

Und der Rauswurf aus dem Filmseminar bedeutete automatisch das Ende seines Studiums?

Ja, das Studium bei Hagemann konnte sich Patalas abschminken. Er gab dann eine Zeitschrift heraus: die Filmkritik. Ich bin eng mit Enno Patalas befreundet. Zwar hat er mittlerweile den Professorentitel, aber dass er den Doktor nach seinem Rauswurf nicht mehr machen konnte, hat er nie ganz verwunden.

Hagemann und der JuPuClu organisierten auch Exkursionen. Haben Sie an diesen teilgenommen?

Aber sicher. Die Exkursionen waren gut geplant und brachten etwas. Hagemann suchte die ungewöhnlichen Kontakte und hat den Nachwuchs an die interessanten Quellen geführt. Wir waren zum Beispiel durch ihn bei Axel Springer.

Kannten sich Hagemann und Springer persönlich?

Das ist möglich. Springer nahm uns damals richtig wahr. Er entzog sich aller anderen Pflichten und erklärte, er habe gerade interessierte Besucher. Das waren keine Riesenexkursionen, die größten umfassten 20 bis 25 Leute, mehr nahm Hagemann grundsätzlich nicht. Er suchte immer ein bisschen aus, die Qualität als Student war ein Kriterium, sein Interesse und Engagement.

Welche weiteren Exkursionen sind Ihnen in Erinnerung geblieben?

Wir waren in Paris, ein- oder zweimal in Holland, wir haben eine Werksbesichtigung bei Bayer in Leverkusen gemacht, waren in Bonn bei der Bundespressekonferenz. Das waren natürlich universitäre Veranstaltungen, aber man hatte daneben auch genügend Zeit, in der Stadt herumzulaufen. Hagemann war auf dem Sektor ein ganz großer Aufreißer, der wusste, dass er seinen Geldgebern den Praxisbezug nachweisen musste.

Stellte Hagemann die Exkursionen dank seiner Kontakte auf die Beine?

Ja. Hagemann stellte sehr geschickt Kontakte her. Davon habe ich auch während meiner Dissertation häufig profitiert. Er war an meinem Vorhaben sehr interessiert und unterstützte mich nach Leibeskräften. Durch ihn konnte ich auf zahlreiche ehemalige deutsche Mitarbeiter der BBC zurückgreifen – alles Leute, die nicht besonders interessiert waren daran, sich selbst in einer Arbeit zu finden, schließlich war es in der Adenauer-Zeit nicht unbedingt ehrenwert, beim „Feind“ mitgearbeitet zu haben. Hagemann vermittelte mich zum Beispiel an Johannes Maier-Hultschin, lange Zeit Pressesprecher der nordrhein-westfälischen Landesregierung und während des Krieges als Emigrant in England. Hagemann riet mir: Bleiben Sie dran am Thema, es lohnt sich. Und er half mir bei der Materialbeschaffung, zum Beispiel verkaufte mir Bruno Adler, ein deutscher Literat und Emigrant, der in London lebte und für die BBC gearbeitet hatte, sehr spannendes Archivmaterial. Hagemann war dabei sehr unkonventionell und unterstützte mich sehr, an die nötigen Manuskripte zu gelangen.

Welche Beweggründe gab es überhaupt dafür, die deutschsprachigen BBC-Sendungen während des Zweiten Weltkrieges zu untersuchen? Sind Sie auf das Thema gestoßen?

Ja. Ab 1942 sind Oberschüler und Frauen zur Flak gekommen. Mit den Funkübermittlungsgeräten dort hatte man auch die Möglichkeit, BBC zu hören, wenn man technisch beschlagen war. In der britischen Gefangenschaft war ich dann zwei Jahre in Ägypten und arbeitete dort als Dolmetscher. Auch erhielt ich dort eine Zeitschrift für Kriegsgefangene zur Umerziehung. Insofern war mein Interesse an dem Thema geweckt und ich dachte mir, dass daran noch nicht so viel gearbeitet worden war. Mein Buch Der britische Ätherkrieg gegen das Dritte Reich (Wittek 1962) galt zwei oder drei Jahre als Standardwerk auf dem Gebiet.

Gab es bei Hagemann Doktorandenseminare?

Ja. Die Betreuung war recht gut. Wie schon gesagt, Hagemann hat mich sehr unterstützt. Ein Mitstudent, der dann bei der BBC war, schrieb mir: Lassen Sie es lieber bleiben. Ich bin doch dran geblieben und Hagemann fand das ganz beachtlich.

Haben Sie Ihre Promotion dann vollständig in England gemacht?

Nein, ich habe in London nur die Quellenrecherche betrieben. Ich habe insgesamt drei oder vier Ausflüge nach London gemacht, der letzte im Jahr 1956 dauerte vier Monate. Ich wohnte in einem Vorort von London bei weit entfernten Verwandten, zwei Nonnen. Danach war ich so abgebrannt, dass ich die Bemühungen um die Dissertation, die sich als sehr schwierig erwies, aussetzen und Geld verdienen musste – in Warendorf. In der Zwischenzeit habe ich geheiratet und immer wieder Ferienvertretungen bei Zeitungen gemacht. Im Grunde genommen wäre ich auch früher mit meiner mündlichen Prüfung zurande gekommen, wenn mir der Skandal um Hagemann nicht dazwischen gekommen wäre. Im Nachhinein ist mein verspätetes Rigorosum gar nicht schlecht gewesen, denn mein weiterer beruflicher Werdegang hat sich ja vom Zeitungsjournalismus weg bewegt: Ich wurde schließlich Pressechef beim Goethe-Institut und konnte mir einen Job im Ausland aussuchen.

Bei wem war denn Ihre mündliche Prüfung letzten Endes?

Bei Henk Prakke.

Ihr Kommilitone Günter Huhndorf musste dagegen extra nach München zum Rigorosum.

Bei mir war das etwas später. Prakke war schon da. Man sagte mir, er sei sehr pingelig. Von seinem Opus De samenspraak in onze samenleving (Prakke 1957) gab es damals noch keine Übersetzung. Ich las es auf Niederländisch und merkte, dass es verständlicher ist, wenn man es laut liest.

Zurück zu Walter Hagemann: Inwieweit kamen denn seine politischen Ansichten in den Lehrveranstaltungen zur Sprache? Kurt Koszyk schrieb mir, Hagemann habe aus seiner glühenden Adenauer-Verehrung zu Beginn der 1950er Jahre keinen Hehl gemacht.

Das kann ich nicht bestätigen, und ich bin 1949 gekommen. Ich weiß, er hat sich oft gezankt mit einem Studenten, der sich gegen die Amnesie der NS-Verbrechen in der Adenauer-Zeit verwahrte. Sagen wir mal, ein astreiner Antifaschist war Hagemann in der Zeit nicht. Aber mit dem Buch Publizistik im Dritten Reich (Hagemann 1948) hat er die täglichen Sprachregelungen gründlich behandelt – für ihn war Joseph Goebbels der eigentliche Verursacher, obwohl er Hitler nicht schöngeredet hat. Aber dass er dann Konrad Adenauer in den höchsten Tönen gelobt haben soll? Das kann ich nicht unterschreiben. Später bin ich nicht mehr in die Vorlesungen gegangen, ich kann also nicht sagen, ob er sich Ende der 1950er-Jahre positioniert hat. Ich hatte keine Veranlassung mehr, mich in jener Zeit bei ihm vorzustellen.

Hagemann war überzeugter Katholik und aktives Mitglied in der Gesellschaft Katholischer Publizisten Deutschlands. Kam das irgendwo zum Tragen?

Das hat man nicht gemerkt. Ich erinnere mich aber an ein Essen in einem Kloster in Frankreich. Einige meinten, man erweise dem französischen Gastgeber Respekt, wenn man ein Tischgebet spreche – und ich beobachtete Hagemann aus den Augenwinkeln beim Beten. Aber dass er überzeugt und geradezu mit missionarischem Eifer den katholischen Glauben vertreten habe, kann ich nicht bestätigen.

Wie kann man überhaupt das Verhältnis zwischen Hagemann und seinen Studenten beschreiben?

Er war ein Charmebolzen gegenüber den Frauen. Die spätere Suhrkamp-Autorin Gisela Kleine sagte, dass er ihr vorgeschlagen habe, man könne sich doch über ihr Rigorosum auf Sylt unterhalten. Da war er nicht abgeneigt. In Münster ist in solchen Sachen relativ viel passiert, das war keineswegs nur bei den Publizisten so. Hagemann war aber nicht jemand, den man sich da als Süßholzraspler vorstellen musste, er war eher etwas verhalten.

Wie reagierten denn die Studenten auf Hagemanns Opposition gegen Adenauer?

Zu der Zeit waren da natürlich schon völlig andere Leute als in den Jahren, als ich zu studieren begonnen hatte, die fanden das vermutlich nicht so lustig. Und bei den Studenten in Münster ist doch eher eine konservative Mehrheit zu vermuten. Mir hat nur der CDU-Politiker Heinrich Windelen in Warendorf geraten, möglichst schnell bei Hagemann meinen Abschluss anzustreben, solange er noch in Münster ist. Aber Hagemann hatte dann auch einen Koller und veranlasste Günter Kieslich dazu, Wache gegen die Atombewaffnung zu stehen. Ich war mit Kieslich sehr gut befreundet. Er empfand sich durchaus genötigt, da mitzumachen.

Was, glauben Sie, löste diesen Koller aus?

Hagemann muss irgendetwas in Polen widerfahren sein – möglicherweise hat er über die Vernichtung des Ghettos in Warschau erfahren. Und nach seiner Weltreise 1955 äußerte er sich sehr bewegt über Hiroshima.

Walter J. Schütz (2007) berichtete, dass Hagemann nach der Rückkehr von seiner Reise Studenten zu sich nach Hause eingeladen und er dort von seinen Erlebnissen in Hiroshima mit Tränen in den Augen berichtet habe. Das muss ihn sehr berührt haben.

Auch Günter Kieslich erzählte mir von den ihm übertrieben erscheinenden Reaktionen auf das, was er erlebt hatte, dass er das sozusagen nicht verarbeiten konnte.

Was wussten die Studenten von Hagemanns Liebschaften? Walter J. Schütz meinte mir gegenüber, dass Hagemann in mindestens einer Angelegenheit instrumentalisiert wurde.

In dieser Geschichte mit der Vaterschaftsklage glaube ich das auf jeden Fall auch.

Schütz berichtete von einem Institutsfasching …

… und dann gab es da eine Studentin, die sozusagen auf ihn angesetzt wurde, ja. Und plötzlich hieß es dann, sie bekomme ein Kind. Aber die meisten Geschichten sind reine Vermutungen. Natürlich gab es Gerüchte. Man dachte sich, Hagemann müsse noch einmal beweisen, dass er noch nicht ganz abgebaut hat. Münster hat diese katholische Tour, dass man es erst einmal versucht. Für mich aus dem Osten war das Neuland, wie mit einer gewissen Unverfrorenheit manche Geschichten, die sich eigentlich nicht gehörten, dann doch zumindest versucht wurden. Also da ist schon so ein bisschen katholische Verklemmtheit mit dabei. Und dann wurde Hagemann natürlich richtig an den Schandpfahl gestellt.

Literaturangaben

Empfohlene Zitierweise

  • Bernhard Wittek: Die Atmosphäre bei Hagemann war ein echter Lichtblick. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2014. http://blexkom.halemverlag.de/walter-hagemann_die-atmosphäre-bei-hagemann-war-ein-echter-lichtblick/ (Datum des Zugriffs).