Klaus Merten (Foto: privat)

Wissenschaft hat eine Kritikfunktion

Veröffentlicht am 21. April 2020

Kurz vor seinem 80. Geburtstag ist Klaus Merten gestorben. Aus diesem Anlass veröffentlicht BLexKom ein Interview, dass Maria Löblich und Michael Meyen am 8. März 2006 in Münster geführt haben.

Stationen

Geboren am 31. Juli 1940 in Potsdam. 1959 Abitur in Duisburg. Studium an der TH Aachen (Elektrotechnik und Mathematik). 1963 Fachwechsel: Publizistik, Soziologie und Geschichte in Münster. 1967 Studentische Hilfskraft im Forschungsprojekt des Instituts für Publizistik über „Verbreitungsmuster des Gerüchts. Eine experimentelle Untersuchung zur Mundpublizistik“. 1971 Diplomprüfung in Soziologie. Titel der Diplomarbeit: Informationsüberlastung in politischen Systemen und Selektion durch Aufmerksamkeit. 1972 Verwaltung einer Assistentenstelle an der Fakultät für Soziologie in Bielefeld. 1975 Promotion bei Niklas Luhmann. Titel der Dissertation: Kommunikation. Eine Begriffs- und Prozessanalyse zu einem sozialwissenschaftlichen Grundbegriff (Merten 1977). Top Award der ICA. 1976/77 Lehrstuhlvertretung am Institut für Publizistik in Mainz, 1977 bis 1979 am Institut für Soziologie in Gießen. 1979 Professor für empirische Sozialforschung in Gießen, Direktor des Instituts für Soziologie von 1980 bis 1984. 1984 Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der angewandten Kommunikations- und Medienforschung in Münster. 1989 Gründung von COMDAT Medienforschung. Erster Preis der Thyssenstiftung für die Studie „Meinungsführer in der Mediengesellschaft“ (1990). 1990 Gastprofessur am Afrikanischen Zentrum für Journalistik der Universität Tunis. Mitbegründer des Fernstudieninstituts in Heidelberg (PR+plus). 2005 Emeritierung. Gestorben am 20. Februar 2020.

Könnten Sie zu Beginn etwas über Ihr Elternhaus und Ihre Kindheit erzählen?

Ich bin in der Potsdamer Garnisonskirche getauft worden, da, wo Friedrich der Große seine Offiziere vereidigen ließ. So etwas prägt. 1944 sind wir nach Wolfenbüttel evakuiert worden. Von dort ging es nach Stuttgart, nach Duisburg, nach Krefeld. Ich war dauernd auf Wanderschaft. Ich musste mich ständig auf neue Lernstoffe umstellen und zweimal eine halbe Klasse überspringen. Meine Lateinkenntnisse waren schlecht. Die Schwaben hatten kein Latein, Nordrhein-Westfalen hatte Latein. Ich habe relativ früh Abitur gemacht, mit 18. Und dann war ich entschlossen, Mathematik zu studieren. Ich behaupte noch heute, dass da meine Begabung liegt. Leider kannte mein Vater die Professoren an der TH in Aachen und hat meine Karriere vorgeplant.

Was hat Ihr Vater beruflich gemacht?

Er war Professor an der Ingenieurschule in Duisburg. Von seinen Plänen hat er mir kein Wort erzählt. Nach einer sehr heftigen Auseinandersetzung habe ich ihm auf Wiedersehen gesagt. Das war ein schwerer Schritt, aber ich wollte etwas studieren, ohne dass mein Vater hineinreden konnte.

Erklärt das den Wechsel in Richtung Publizistik und Soziologie?

Ich stand fürchterlich unter Druck. Vater kam nach jedem Semester und hat nach den Noten gefragt. Das mussten natürlich Einsen sein. Ich wurde dauernd gegängelt. Mit 20 ist man schon ein bisschen erwachsen und fragt sich, was da eigentlich vorgeht. Vielleicht war das ungeschickt. Ich hatte ein Vorexamen mit wunderschönen Noten, und es hat mir Spaß gemacht, aber die Begleitumstände haben nicht gepasst. Mein Vater hat mir dann den Geldhahn abgedreht.

Hatten Sie einen Berufswunsch, der mit Mathematik und Elektrotechnik verbunden war?

Ich war schon technisch interessiert und habe Modellbau gemacht und diese Sachen, die in die Sturm-und-Drang-Zeit passen. Wenn Sie im Käfer gekommen wären, könnte ich ihn heute noch auseinander nehmen und wieder zusammensetzen, ohne dass eine Schraube übrig bleibt.

Und Publizistik?

Ich hatte eine Freundin, die in Münster Publizistik studierte. Ich bin einmal mitgefahren und hier gelandet. Im Grunde genommen wieder ein Fehler. Als Studienabbrecher war ich stigmatisiert, und ich hatte kein Geld, ein zweites Studium anzufangen. Publizistik fand ich wahnsinnig aufregend. Der Geruch von Zeitung kann süchtig machen.

Wie haben Sie das Studium finanziert? Mit Zeitungsarbeit?

Nein. Ich habe in Duisburg gewohnt und hatte schon früher in den Semesterferien bei den Stahlschmelzern gearbeitet. Das wurde wahnsinnig gut bezahlt. Dort wurden immer Leute für die Nachtschicht gesucht. Ich kam morgens um sechs nach Hause, bin in den Zug nach Münster gestiegen und kam hier halb tot an. Im Seminar bin ich meistens eingeschlafen. Das habe ich eine ganze Weile ausgehalten. Dann kam die Zeit, in der der deutsche Arbeiter von seinem Motorrad mit Beiwagen auf den VW umstieg. So ein Motorrad hat hier damals 150 Mark gekostet und der Beiwagen 25. In Griechenland war das viel teurer. Ich habe solche Dinger nach Griechenland gefahren, dort für viel Geld verkauft und dafür dann Teppiche und solche Sachen mitgenommen, für einen Hellas-Basar. Von dem Gewinn konnte ich ein Semester leben.

Henk Prakke (Foto: Privatarchiv Joachim Westerbarkey)

Wie haben Sie Henk Prakke erlebt?

Das war ein grundguter Mensch. Er sprach allerdings schlecht Deutsch und war mit den Münsteraner Bedingungen nicht sehr gut vertraut. Außerdem war er sehr pflichtbewusst. Man durfte im Semester nur einmal oder zweimal fehlen. Bei meinen Griechenland-Touren hatte ich immer ein schlechtes Gewissen. Ich war dann so leichtsinnig, ihm aus Athen zu schreiben, ich sei für irgendeine Zeitung unterwegs. Er hat das in Münster vorgelesen und mich als fleißigen Studenten gelobt. Die Lüge ist dann natürlich aufgeflogen, und ich hatte eine Zeit lang einen schwierigen Stand.

Können Sie sich noch erinnern, welche Veranstaltungen Sie besucht haben?

Alle. Die Studenten wussten damals genau wie heute, wo etwas zu holen ist und wo nicht. Und das war nicht bei Prakke und seinen Assistenten. Gut erinnere ich mich an Gerhard E. Stoll. Ein Vollblutjournalist, der bei der Evangelischen Presseagentur gearbeitet hat und die Sachen auf den Punkt bringen konnte. Auch theoretisch. Seine Seminare waren überfüllt, obwohl wir mit evangelischer Publizistik wenig am Hut hatten.

Winfried B. Lerg auf der DGPuK-Jahrestagung 1975 in Göttingen (Foto: Raimund Kommer)

Winfried B. Lerg auf der DGPuK-Jahrestagung 1975 in Göttingen (Foto: Raimund Kommer)

Warum war bei Prakke und seinen Assistenten nichts zu holen?

Die Vorstellungen vom Studium waren sehr konservativ. Ich meine das nicht politisch. Es gab einfach keine Seminare zu aktuellen Themen. Bei Prakke ging das schon deshalb nicht, weil es für ihn unendlich mühevoll war, sich eine Vorlesung zusammenzubasteln. Er hat sich dann daran festgehalten und das jahrelang immer wieder zelebriert. Heute ist das anders. Wenn man ein spannendes Thema hat, verändert man seine Vorlesung und macht das, was gerade aktuell ist. Das gab es damals nicht. Lerg war Historiker, Schmolke war Historiker. Dröge war zwar kein Historiker, hat aber auch historisch geforscht. Das war unergiebig.

In den Institutsannalen steht noch Ihr Promotionsthema: eine Arbeit über das Gerücht.

Das Thema hat mir Lerg angeboten. Er hatte mit Dröge ein Experiment dazu gemacht. Ich hatte ihm bewiesen, dass sein Experiment ein Artefakt war, und sollte dann darüber promovieren. Ich habe mich ganz toll gefühlt. Motto: aus meinem Studium wird noch etwas. Ich gehörte dazu. Das Institut bestand vielleicht aus 200 Studenten. 70, 80 davon waren aktiv. Wir haben morgens alle im Foyer gesessen und Zeitung gelesen. Ein paar Leute hat man später wieder gesehen. Gerd Schukies zum Beispiel, der Kommunikationschef bei der Bundespost war, oder Cornelius Riewerts, Chefredakteur der Oldenburgischen Volkszeitung. Das hat mir Spaß gemacht. Ich dachte, jetzt wirst du Journalist.

Warum sind Sie es dann nicht geworden?

Ich habe noch geschwankt. Ich habe nebenbei für die Presseabteilung von Bayer geschrieben. Dort wollte man mich auf die PR-Schiene setzen. Das erschien mir geradezu als unethisch. Heute würde ich da keine Bedenken mehr haben, aber damals war das für mich indiskutabel. Dazu kam, dass die Publizistik in der Praxis nicht sehr angesehen war. Prakke hatte eine Zwei-Etagen-Theorie. Für ihn gab es die normalen Journalisten, und oben saßen die Publizisten. Der Publizist ist promoviert und schreibt eine kluge Feder. Unter dem Zorn der schreibenden Branche haben wir alle gelitten. Als ich mich in Duisburg um ein Volontariat beworben habe, war alles sehr nett, bis ich gesagt habe, dass ich Publizistik in Münster studiere. Das war der halbe Rauswurf. Mit denen wollte man nichts zu tun haben. Die Journalisten hat gestört, dass wir etwas besseres sein wollten. Und dann hatten wir null Ahnung von der Praxis. Was wir in Münster gemacht haben, war reine Theorie.

Welcher Richtung am Institut haben Sie sich zugehörig gefühlt: der historisch-deskriptiven, für die Schmolke stand, oder der empirisch-analytischen von Lerg und Dröge?

Der zweiten natürlich. Als Mathematiker macht man die Methoden mit der linken Hand. Man ist ganz anders geschult, denkt in anderen Kategorien und kann mit Zahlen umgehen. Die Studenten haben sich dort oft schwer getan. Auch die Dozenten, auch Dröge.

Wie war damals Ihr Verhältnis zu Winfried B. Lerg?

Er war persönlich wirklich schwierig. Vielleicht nur ein Beispiel. Ich sollte eine Seminararbeit schreiben über die Entstehung des Films. Ich wollte das eigentlich über ein Wochenende machen, kam aber durch einen Zufall nicht an meine Bücher. Mir war das furchtbar peinlich. Ich bin gleich Montag zu Lerg. Er saß da, streichelte seinen Boxer und sagte, tja, so ist das eben. Ich habe die Arbeit nachgeschrieben. 45 Seiten. Er hat mir am Ende des Semesters trotzdem keinen Schein gegeben. Als Hiwi habe ich die Arbeit später im Archiv gefunden. Durchgestrichen. Zu spät eingereicht, Punkt. Das hat mich sehr getroffen. Meine Kollegen haben mir gesagt, Lerg promoviere doch gerade und ich müsse ihn mit Herr Doktor anreden. In der nächsten Sprechstunde habe ich das gemacht. Er streichelte wieder seinen Boxer, gab mir einen eisigen Blick und sagte, Herr Professor Prakke und er seien der Ansicht, wenn ich kein Geld habe für ein Studium, dann solle ich es lassen. Er war am Vormittag durch die Doktorprüfung gefallen. Ich konnte das nicht wissen, weil ich von außen kam. Wir sind Opfer eines Missverständnisses geworden.

Ihren ersten Aufsatz haben Sie dann in Communicatio Socialis veröffentlicht, sozusagen im anderen Lager (Merten 1968).

Ich habe gedacht, dass mich nur noch Fleiß retten kann. Ich war dann bei Schmolke in einem Seminar über katholische Geistliche in der Presse und habe alle Lexika nach Lebensläufen durchwühlt. Schmolke hat mich geködert und gesagt, dass man das noch ausbauen könne. Es werde auch bezahlt. Ich habe dann etliche Geistliche gefunden, die etwas veröffentlicht hatten. Das Geld ist allerdings nie geflossen. Dieses Erlebnis hat mich geprägt. Wenn ich später Studenten in meinen Projekten hatte, habe ich immer darauf geachtet, dass sie gut und schnell bezahlt werden.

Wie sind Sie zu Niklas Luhmann gekommen?

Mein Leben schien irgendwie auf einer schlechten Bahn zu sein. Das erste Studium hatte ich geschmissen und beim zweiten kam keine Substanz rüber. Entweder hätte ich zur Zeitung gehen müssen oder das Studium noch einmal wechseln. Mein Vater hat nur noch ironische Bemerkungen gemacht. Ich habe aber im Nebenfach Soziologie studiert. In Münster war damals noch der alte Schelsky. Das war spannend vom ersten bis zum letzten. Luhmann war dort unser Geheimtipp. Wir sind hingewandert, weil er eine ganz andere Sorte von Wissenschaft gemacht hat.

Was war bei Luhmann oder auch bei Heinz Hartmann anders?

Dort wurde sehr viel mit Theorie gearbeitet und diskutiert. Das war für uns ganz neu. Wir wussten nur, was ein Aufmacher ist und wie man Film definiert. Vielleicht war Prakke theoretisch viel besser, als wir wahrgenommen haben, aber er sprach schlecht deutsch. In den Prüfungen mussten wir Definitionen runterrattern. Ein Filmspezialist hat einmal zurückgefragt, welche Definition von Film er denn hören wolle. Prakke kannte nur die eine. Er hat dann nicht mehr geprüft. Das war Prakkes Grenze. Natürlich musste man seine Definitionen wissen, aber es gab keinen Diskurs, zum Beispiel über die Frage, was eigentlich Publizistik ist. Bei den Soziologen war das anders. Man hat geredet, und die Studenten waren viel freier. Auch schon vor 1968. Dort wurde diskutiert, wie man das Studium verändern kann. Schelsky vorneweg. Die Soziologen haben die 68er Zeit deshalb viel besser überstanden. Dort haben die Studenten kein Rambazamba gemacht. Bei uns schon.

Hatten Sie Verständnis für die Anliegen der Institutsbesetzer?

Ich habe die Sache am Anfang positiv gesehen, mich aber nach kurzer Zeit abgewendet. Mir war die Destruktionslust einfach zu groß. Ich war der letzte Fachschaftsvorsitzende und Hiwi in der Bibliothek. Fast schon im Establishment. Wenn man in einer Diskussion nicht gesagt hat, was sie hören wollten, dann war man schon der Feind.

Waren Sie an den Auseinandersetzungen beteiligt?

Auf der anderen Seite. Ich saß zum Beispiel in der Bibliothek, als gedroht wurde, alles abzufackeln. Bücher verbrennen ist für mich ein Graus. Ich habe Lerg angerufen und zwei Feuerlöscher geholt, um die Tür im Fall der Fälle zu verteidigen. Fast hätte ich die Sekretärin nass gespritzt, als sie nachmittags plötzlich aufgeschlossen hat.

Sehen Sie sich heute eher als Luhmann-Schüler oder auch als Prakke-Schüler?

Eher als Luhmann-Schüler. Von Prakke habe ich nicht viel lernen können. Persönlich war er sicher die integerste Figur am Institut. Ein Calvinist im besten Sinne des Wortes. Aufrecht, ehrlich, klar. Freie Diskussionen liefen bei ihm aber nicht, schon sprachlich nicht. Das 68er Buch „Kommunikation der Gesellschaft“ wurde uns als Beginn einer neuen Ära im Fach angekündigt (Prakke et al. 1968). Als ein Buch, das Anspruch erhebt über den Tag hinaus. Diese normative Dimension passte überhaupt nicht in die Zeit der Studentenrevolution. Und wie lange hat es gehalten? Als ich 1973 meine Dissertation geschrieben habe, waren dort ganz viele Sachen richtig falsch.

Nach dem Prakke-Schüler haben wir gefragt, weil Sie sich in Ihren ersten Aufsätzen an der Münsteraner Schule regelrecht abgearbeitet haben (Merten 1973, 1974).

Abgearbeitet lasse ich stehen. Es war kein interner Rachefeldzug. Ich habe bei den Soziologen viel freier zu denken gelernt. Man wurde dort mit sehr vielen Perspektiven konfrontiert. Man lernte Luhmann kennen mit seiner ungeheuren Abstraktion und hat versucht, dort mitzudenken. Er hat sehr schnell einen Stamm von Fans gehabt. 20, 30 Leute, die im Seminar saßen. Als die 1969 nach Bielefeld sind, bin ich mitgegangen. Ich habe zunächst beides studiert, Publizistik und Soziologie. Der letzte Schritt war dann, keine Dissertation in Publizistik zu schreiben, sondern ein Diplom in Soziologie. Ich bin in Bielefeld Hilfskraft geworden und dann Assistent für Statistik.

Wie ist das gekommen?

In Bielefeld musste eine große Methodenabteilung aufgebaut werden. Dort gab es plötzlich Statistikerstellen. Ich war ja Mathematiker und habe mich beworben.

Welche Beziehung hatten Sie zu Niklas Luhmann?

Eine sehr gute. Er war sehr fürsorglich. Mit seinen Studenten ging er sehr höflich um. Wir haben zum Beispiel alle bei ihm zu Hause gesessen, und er hat uns seinen Zettelkasten erklärt. Er hat gesagt, wir müssten effizienter studieren und er mache uns mal einen Vorschlag. Das war seine Antwort auf 68. Die Eifrigeren haben das übernommen. Ich habe das heute elektronisch. Die anderen haben gesagt, aha, und haben nachts bei Luhmann Tee getrunken. Er war ein großer Teetrinker.

Tee nachts bei Luhmann? In den Erinnerungen von Schülern ist ja sonst immer eher von Distanz die Rede (Bardmann/Baecker 1999).

Das Problem kenne ich. Ich habe mich auch nicht aufgedrängt, schon weil ich den Mann viel zu sehr verehrt habe. Es gab aber Studenten, die anders waren. Luhmann war sehr konziliant. Es gab dort geistvolle Gespräche. Ich habe zweimal teilgenommen, aber ich gehörte nicht zum engen Kreis. Als Luhmann dann später zur ganz großen Figur wurde, hat er sich Arroganz zugelegt, um sich Zeit freihalten zu können.

Was haben Sie noch von Luhmann gelernt?

Natürlich den Zugriff über die Systemtheorie. Und dann war Bielefeld interessant. Die Universität wurde 1969 gegründet, und ich war einer der ersten Studenten. Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen: Die Studenten wurden auf Staatskosten mit dem Bus nach Bielefeld gekarrt und abends wieder zurück nach Münster.

Henk Prakke (Zweiter von links) mit Michael Schmolke (links) und Winfried B. Lerg (ganz rechts) sowie Franz Dröge (Quelle: Privatarchiv Joachim Westerbarkey)

Henk Prakke (Zweiter von links) mit Michael Schmolke (links) und Winfried B. Lerg (ganz rechts) sowie Franz Dröge (Quelle: Privatarchiv Joachim Westerbarkey)

Reformuniversität.

Der Anspruch hieß Eliteuniversität. Damit hat Schelsky das Ganze in Gang gekriegt. Junge Leute, die etwas bewegen wollten. Schelsky hat gesagt, tut etwas, dann ist Geld da. Man konnte als Assistent Geld für Projekte beantragen, musste dafür aber auch Leistung bringen. Wir hatten Kontakt zu den Psychologen, den Pädagogen, zu den Verhaltenswissenschaftlern, zu den Biologen. Das Klima war ganz anders. Wenn man ein Problem hatte, ging man in die Mensa und setzte sich neben Karl Peter Grotemeyer, den Rektor. Und wehe, man sprach ihn mit Herr Rektor an. Das war eine gute Zeit. Man kam an die Leute heran, und der Geist war anders. Ich bin danach nach Gießen, an eine alte Universität, und von da zurück nach Münster. Das war hier richtig abschreckend.

Luhmann scheint in Bielefeld aber von Anfang an umstritten gewesen zu sein.

Hinter vorgehaltener Hand hieß es: der Verrückte. Ja, die Theorie. Eine Modetheorie, von der in vier Jahren nichts mehr da wäre. Luhmann hat sich zurückgezogen. Er hatte keinen Assistenten, nur eine Sekretärin, die Tag und Nacht gearbeitet hat. In den Fakultätsrat kam ein total übermüdeter Luhmann mit einem Stück Zettelkasten und hat während der ganzen Debatte sortiert. Manchmal schrieb er auch etwas oder hat Druckfahnen durchgesehen.

War die Assistentenstelle in der Statistik die Qualifikation für die Professur in Gießen?

Ja. Ich fand hervorragend, was Luhmann gemacht hat, und habe das später auch auf die Kommunikation angewendet, aber ich war Mathematiker oder Statistiker. So bin wieder auf der methodischen Ebene gelandet.

Auch in der Bielefelder Zeit haben Sie hauptsächlich in kommunikationswissenschaftlichen Zeitschriften publiziert, auch programmatische Aufsätze zur Fachentwicklung. Haben Sie die Soziologie damals als Warteschleife gesehen?

Diese Frage hat sich mir so nie gestellt. Vielleicht hat sich da die Mathematik gerächt. Für die Stellenausschreibung in Bielefeld habe ich einen Programmierkurs gemacht. Es gab dort die ersten Großrechner, fünf Stockwerke hoch. Das mit dem Programmieren war ein Fehler. Die Kollegen kamen mit Tausenden von Lochkarten und haben gefragt, ob ich das nicht für sie rechnen könne. Ich habe Mittelwerte gerechnet, Varianzen und Regressionen. Ich habe Programme geschrieben, um mit möglichst wenig Speicherplatz auszukommen (vgl. exemplarisch Merten/Lisch 1975). So war ich dann bei den Methoden. Vielleicht habe ich deshalb nicht mit Soziologie angefangen. Wir haben Luhmann bewundert, aber seine Theorie ließ sich empirisch nicht prüfen. Als ich dann den Ruf auf die Empiriestelle nach Gießen hatte, war die Theorie weg. Luhmann war weit, und ich war pflichtgemäß auf die Empirie verdonnert. Ich war der erste Methodiker in Gießen.

Wenn man Ihre Literaturliste ansieht, dann scheinen Sie im Herzen Publizistikwissenschaftler geblieben zu sein.

Da ist sicher etwas dran. Das Thema war mir vertraut. Von Kommunikation hatte ich ein bisschen Ahnung, und vielleicht spielte auch das schlechte Gewissen eine Rolle. Du hast das studiert und nicht zu Ende gebracht. Im Unterbewusstsein ist das immer da. Also habe ich die Systemtheorie genommen und auf Kommunikation angewendet.

1976/77 haben Sie Elisabeth Noelle-Neumann in Mainz vertreten. Wie ist es dazu gekommen?

Sie kannte meinen Namen von den Humanismus-Gesprächen in Salzburg (vgl. Schatz 1975). Dort hatte sie mit Luhmann über mich gesprochen, und weil sie ihn sehr schätzte, wollte sie den Bielefelder Doktoranden an Land ziehen. Frau Noelle-Neumann hat mich dann nach Mainz eingeladen und ich habe die Stelle vertreten.

War Mainz für Sie eine Option?

Verglichen mit Bielefeld waren die Verhältnisse dort mittelalterlich. Noelle-Neumann war die dominante Figur. Wer nicht in ihrem Fahrwasser geschwommen ist, hatte Schwierigkeiten. Als Lehrbeauftragter bekam man von der Sekretärin gleich Verhaltensregeln, auf drei Seiten. Da stand zum Beispiel, dass Publikationen mit Frau Noelle-Neumann abzustimmen seien. Das war ich nicht gewohnt. Habe ich auch nicht gemacht. Das war die harmlose Regel. Eine Seite weiter wurde vor den Studenten gewarnt. Die Studenten seien im Moment etwas aufmüpfig. Wenn es Schwierigkeiten gebe, solle man doch ins Sekretariat gehen und in der Personenkartei nachlesen, ob schon etwas vorliegt. Datenschutz lässt grüßen. Das hat mir überhaupt nicht gefallen. In dieses Korsett wollte ich mich nicht zwängen lassen.

Gab es politische Differenzen?

Ich wusste natürlich, dass Noelle-Neumann für die CDU stand. Am schwarzen Brett hingen außerdem manchmal Artikel aus dem Reich, die sie geschrieben hatte. Ein paar Stunden, dann wurde das wieder abgerissen. Wichtiger als die Politik war aber sicher ihre Dominanz. Als sie mir eine Stelle angeboten hat, sind wir in ihr Büro gegangen, vorbei an 35 Studenten, die tief gegrüßt haben und fast zu Boden sanken. Guten Tag, Frau Professor, und sie wedelte gnädig vorbei. Wir haben dann über meine Zukunft geredet. Sie wollte mich partout haben, aber ich habe mir Bedenkzeit erbeten. Darauf war sie nicht gefasst. Als wir herauskamen, saßen die 35 immer noch da. Sie sagte einfach, meine Damen und Herren, die Sprechstunde ist beendet, melden Sie sich für den nächsten Termin an. Draußen stand schon der Chauffeur.

Waren Sie parteipolitisch engagiert?

Als Student war ich natürlich in der SPD. Eigentlich hätte ich ja in die KPD eintreten müssen. Ich habe gedacht, du musst jetzt auch mal etwas Fortschrittliches machen. Beim ersten Mal hatte ich CDU gewählt. Ich sehe noch die Litfasssäulen in Duisburg vor mir. Große, weiße Plakate, Adenauer in schneeweißem Hemd, braungebrannt, Erhard, schneeweißes Hemd, braungebrannt. Darunter nur zwei Worte: Keine Experimente. Ich dachte, jawohl, das ist eine ehrliche Sache. In der SPD habe ich mich dann aber nie bewegt und bin auch wieder ausgetreten. Ich brauchte die Politik nicht. Ich habe die SPD beraten, bei Wahlen zum Beispiel. Das war es dann aber auch.

Warum sind Sie von Gießen zurück nach Münster gegangen, von einer C2- auf eine C3-Professur?

Gießen war eine Lebenszeitstelle. Das war wichtig, weil ich schon Kinder hatte. Mit den Kollegen konnte ich gut umgehen. Alle riesig nett und stark links. Womit ich nicht umgehen konnte, war dieser Besserwisseranspruch. Weil ich links bin, mache ich alles richtig. In der Forschung haben diese Leute nichts gemacht. Das letzte Buch hatten sie geschrieben, als sie promoviert haben. Zum großen Teil waren das die berühmten hessischen Überleitungsprofessoren. Herzensgute Leute, aber über Wissenschaft konnte man mit ihnen nicht reden. Mir fehlte das Flair von Bielefeld. Die vielen Gespräche quer durch die Fakultäten. In Gießen war ich in der Provinz gelandet.

Haben Sie sich in Münster als Rückkehrer gefühlt?

Nach Münster zu gehen, war ein großer Fehler. Zeitgleich kam ein Ruf nach Trier, wieder für Methoden in der Soziologie, und Gießen hat mir auch eine C3-Stelle angeboten. Ich wollte aber nach Münster, auch wegen meiner alten Liebe Kommunikation. Ich habe mich vorher nach dem Klima erkundigt. Lerg war für mich ja noch eine Drohkulisse, und mir war natürlich nicht verborgen geblieben, dass er in Sachen Forschung nichts mehr gemacht hatte. Die Verwaltung und einige Kollegen haben aber gesagt, es sei alles geregelt und ich solle unbedingt kommen.

Josef Hackforth, Michael Schmolke, Winfried B. Lerg und Joachim Westerbarkey (von links nach rechts) auf der DGPuK-Jahrestagung 1975 in Göttingen (Foto: Raimund Kommer)

Josef Hackforth, Michael Schmolke, Winfried B. Lerg und Joachim Westerbarkey (von links nach rechts) auf der DGPuK-Jahrestagung 1975 in Göttingen (Foto: Raimund Kommer)

Warum war das ein Fehler?

Weil die Strukturen immer noch die alten waren. Aus Bielefeld war ich ein relativ freies Leben gewohnt. Sich Themen suchen, die einen interessieren, frei forschen können. In Münster lief mir als erster Joachim Westerbarkey über den Weg und fragte, ob ich seine Habilitation nicht mal ansehen könne. Lerg habe sie schon seit anderthalb Jahren, wolle sie aber nicht lesen. Er hat Westerbarkey einfach schmoren lassen. So etwas macht man nicht, wenn man zusammen studiert hat. Lerg war der Institutspotentat und hatte das Problem, dass er nichts mehr geschrieben hat. Das geht mich eigentlich nichts an, weil jeder Kollege arbeiten kann, wie er will. Schlimm wurde es, als er solche Verhaltensweisen auch von uns eingefordert hat. Mit wurde gesagt, dass ich zu viel forschen würde und darüber doch einmal mit Herrn Lerg reden müsse. Das ging an die Substanz.

Waren Sie Lergs Favorit oder wurden Sie gegen seinen Willen berufen?

Die Fraktion Weischenberg wollte wohl Karsten Renckstorf haben. Lerg, Westerbarkey und Hackforth haben für mich gestimmt. Es sollte ja auch neue Strukturen geben. Ein Direktorium. Stattdessen hatten wir einen Autokraten, der alles alleine entscheiden wollte. So etwas geht vielleicht, wenn man eine Noelle-Neumann hat, so ein Energiebündel, das etwas bewegt. Lerg hat nichts bewegt.

Wie hat Ihnen der Spiegel-Artikel von 1994 über die Zustände am Institut gefallen (Nr. 34, S. 56)? Dort wurde geschrieben, dass die beiden C3-Professoren Merten und Weischenberg ihre Gelder nicht bekommen, dass Sachen vom schwarzen Brett verschwinden, Postsendungen abgefangen werden …

Es war eine wilde Zeit. Das hat mich sehr viel Arbeitszeit gekostet. Einmal hatten wir für ein Projekt Kassettenrekorder bestellt, einhundertfünfzig Stück für Tiefeninterviews. Die Postsendung kam und kam nicht, und die Interviewer wurden ganz unruhig, weil es längst losgehen sollte. Wir haben dann bei der Frachtpost nachgeforscht. Das Ergebnis: Der Bote war mit dem riesigen Kasten auf einer Karre ins Institut gekommen, hatte aber zufällig bei Lerg angeklopft. Er hat die Annahme verweigert und den Mann weggeschickt. So etwas geht an das Eingemachte. Solche Fälle hat es dauernd gegeben. Im Nachhinein muss man sicher sagen, dass ich mich ungeschickt verhalten habe. Vielleicht hätte ich so etwas lieber schlucken sollen und es nicht krachen lassen. Die Atmosphäre im Institut war dann immer mehr als angespannt.

Hans Mathias Kepplinger mit Doris Graber (links) und Elisabeth Noelle-Neumann 1982 in Mainz (Quelle: Hans Mathias Kepplinger)

Sie haben sich relativ häufig mit Vertretern des Mainzer Institutes auseinandergesetzt (vgl. exemplarisch Merten 1982, 1992). Haben Sie sich als Gegenspieler von Hans Mathias Kepplinger gesehen?

Vielleicht hat da noch ein Stück Bielefeld gewirkt. Ich habe mich manchmal gefragt, ob ich Kepplinger hasse, weil er auf einer Stelle sitzt, um die ich mich auch beworben hatte. So stark sind meine Gefühle aber doch nicht. Ich bin kein Überzeugungstäter, aber in Bielefeld haben wir in der Aufbruchphase gesagt, Wissenschaft ist begründungspflichtig. Wir waren junge Leute mit sehr viel Ethos und Engagement. Und plötzlich sehen Sie, dass da jemand forscht, weil es der CDU so gefällt. Als Methodiker hat man ja einen Blick für solche Sachen. So kam es zu dem Konflikt mit Kepplinger. Ich habe mich darüber echauffiert, dass man Wahlkampf macht und das als Wissenschaft ausgibt. Er hat natürlich zurück geschossen.

Sie spielen auf den Streit um die Studie zum 1976er Wahlkampf an (vgl. Kepplinger 1979, 1980).

1982 gab es in Münster eine DGPuK-Tagung, „Massenmedien und Wahlen in der Demokratie“. Ich hatte dort einen Beitrag eingereicht, in dem ich mich mit dieser These von den Kameraperspektiven auseinandergesetzt habe. Ich hatte schon ein bisschen Bammel, aber dachte, dass ich mich nicht drücken dürfte. Als ich angefangen habe, entstand plötzlich Unruhe im Saal, und ein paar von Noelle-Neumanns Leibwächtern sind nach draußen geschossen, um sie hereinzuholen. Noelle-Neumann hat sich für eine Zwischenfrage gemeldet, mich freundlich angelächelt und gesagt, Herr Merten, Sie haben die falschen Daten. Ob sie denn wohl ihre Folien auspacken dürfte. Natürlich durfte sie, und ich dachte, oh je, du hast die falschen Daten, du hast einen Mords-Unsinn gemacht. Ich war richtig verunsichert, bis ich gesehen habe, dass sie von etwas ganz anderem redete. Es gab einen richtigen Showdown. Ich hatte zwar die richtigen Daten, und meine Interpretation war valide, aber ich war zugleich sehr verstört darüber, dass die „große Dame“ Noelle-Neumann vorsätzlich falsche Daten und falsche Aussagen heranzog, nur um im Saal recht zu behalten. Obwohl ich in der Sache gesiegt hatte, bin ich sofort nach dem Vortrag abgefahren. Ich wollte nicht mehr auf der Tagung bleiben.

Welche Bedeutung haben Kritik und Auseinandersetzung generell für Ihre wissenschaftliche Arbeit?

In dieser Hinsicht bin ich ein Trottel. In Bielefeld haben wir nächtelang diskutiert. Jedes Wort war erlaubt, man musste es nur begründen können. Ich war also einen kritischen, diskursiven Stil gewohnt. An anderen Stellen kannte man so etwas überhaupt nicht. Ich bin über viele Kollegen argumentativ hergefallen, ohne etwas gegen sie persönlich zu haben, und habe nie verstanden, warum sie dann persönlich verschnupft waren. In Bielefeld hat man jedes Argument benutzt, um die Gegenseite wissenschaftlich zu überzeugen. Die meisten Kollegen an anderen Universitäten haben das überhaupt nicht verstanden. Später habe ich dann aus der Wissenschaftssoziologie erfahren, dass der ideale Wissenschaftler „ein Mensch ist, der ein streitsüchtiges Interesse an der Arbeit seines Nachbarn hat“ (Storer 1972: 63), wenn er denn die Funktion des „organized scepticism“ ernst nimmt. Das war aber nur ein halber Trost, denn ich habe nur sehr wenige Kollegen kennen gelernt, mit denen man sich wissenschaftlich „fetzen“ kann und hinterher trotzdem schiedlich-friedlich ein Bier trinken geht.

Haben Sie sich durch Ihre Attacken möglicherweise eine Karriere verbaut, die über die Münsteraner Professur hinausgeführt hätte?

Ja. Aber das war mir schon vor zwanzig Jahren klar.

Bedauern Sie im Rückblick einzelne Angriffe?

Ich hätte natürlich gern eine andere Professur gehabt. Gerade wegen der Lage in Münster. In Berlin gab es vielleicht eine Chance, aber da saß Frau Noelle-Neumann in der Berufungskommission. Ich bereue aber fast nichts, weil mir auch meine Unabhängigkeit wichtig war. Die habe ich mir bis heute erhalten. Wenn ich etwas zu kritisieren hatte, dann habe ich es auch gemacht. Wie jetzt gerade erst wieder in der Auseinandersetzung mit dem Medientenor (vgl. Merten et al. 2005). Ich weiß nicht, ob man darauf stolz sein kann.

1989 haben Sie das Medienforschungsinstitut COMDAT gegründet. Konnte das Institut etwas, was Sie an der Universität nicht konnten?

Eigentlich bin ich gar kein Unternehmer. Dazu muss man sehr viel abgeschliffener sein, nicht so eckig. COMDAT war ein Zufall. Wir wollten etwas für den WDR machen und haben dort auch ein Papier geschrieben, am Ende hieß es aber, mit euch Professoren machen wir keine Verträge. Wir haben x-mal erlebt, dass wir Geld ausgegeben haben, ihr aber noch nicht fertig wart, als wir entscheiden mussten. Mir wurde geraten, ein eigenes Institut aufzumachen. Wenn dann am Tag X der Bericht nicht da sei, könne man das Geld zurückfordern. Ich habe eine Woche überlegt. Ich hatte ja keinerlei Vorwissen. Heute bin ich sehr froh, dass ich das gemacht habe. Man fängt an, über Forschungsökonomie nachzudenken. Als Historiker können Sie alles bis zur letzten Kleinigkeit erforschen. Hat Kolping einen Ring getragen? War da ein schwarzer Stein drin oder ein roter? Da Sie für solche Details investieren müssen, fragt man sich natürlich als Unternehmer, ob die Farbe des Steins wirklich relevant ist. Für mich war das auch eine Herausforderung.

Wie war Ihre Münsteraner Professur ausgestattet?

Mir war eine Ratsstelle zugesichert worden. In Gießen hatte ich ja eine Assistentenstelle für Methoden. Als ich hier ankam, war die Ratsstelle schon besetzt. Mit Josef Hackforth. Es hat einen Mordskrach gegeben. Es gab ein Netzwerk zwischen Lerg, dem Dekan und der Universitätsverwaltung, die sehr korrupt war. Als Newcomer sehen Sie so etwas natürlich noch nicht. Ich wurde systematisch an der Forschung gehindert. Mir wurden Räume weggenommen, mir wurde die Rats-Stelle weggenommen. Ich bekam eine Assistentenstelle, besetzt mit Georg Ruhrmann. Als diese Stelle auslief, gab es keine neue. Es hieß, wir mögen dich nicht so gern. Ich habe mich dann ein wenig in die innere Emigration abgesetzt. Ich habe weiter Wissenschaft gemacht, aber möglichst außerhalb des Instituts. Das gab natürlich auch wieder Probleme. Lerg hat mir zum Beispiel vorgeworfen, der Universität Papier wegzunehmen. Es war genau umgekehrt. Ich habe mein Papier in die Universität getragen.

Wie sind Sie als COMDAT-Chef mit dem Problem Auftragsforschung umgegangen?

Ich habe Aufträge abgelehnt. Heute sehe ich das anders, heute bin ich viel friedlicher geworden. Wenn man ein bisschen Contenance hat, kann man gut mit Aufträgen leben. Damals habe ich gesagt, wir schreiben das, was wir für richtig halten, und nicht das, was die Leute hören wollen. Ein Angebot von der Adenauer-Stiftung habe ich zum Beispiel aus Prinzip abgelehnt. Ein lukratives Angebot. Das war grottenfalsch. Heute hätte ich damit keine Probleme, solange die Bedingungen klar sind. Intern kann man mit den Daten machen was man will, extern hat sich der Auftraggeber an die Daten zu halten, die wir machen.

Auf der Verabschiedung von Siegfried J. Schmidt haben Sie gesagt, dass kein anderer als er den Konstruktivismus in die Kommunikationswissenschaft eingeführt habe (Merten 2006). Welchen Anteil hatte Klaus Merten daran, dass Münster zur „Hochburg systemtheoretischen und konstruktivistischen Denkens in der Kommunikationswissenschaft“ geworden ist (Scholl 2002: 18)?

Das kann ich schlecht abschätzen. Ich habe Schmidt in Bielefeld kennen gelernt. Flüchtig. Er saß bei Literatur und Linguistik und ich in der Soziologie. Ich war als Student bei ihm in der Sprechstunde wegen meiner Dissertation, bin aber ziemlich frustriert gegangen, weil er es nicht verstanden hat. Richtig kennen gelernt haben wir uns dann über das Funkkolleg (Merten et al. 1990/91). Schmidt saß damals in Siegen, wohnte aber privat in Münster. Ich hatte die konstruktivistische Zeit verschlafen. Erst war ich in Gießen mit Methoden beschäftigt und dann in Münster mit dem Instituts-Clinch. Ich habe dort viel Zeit weggeworfen. Maturana hatte ich völlig übersehen. Natürlich könnte ich sagen, Luhmann hat auch Konstruktivismus gemacht, aber die Sache im Sinne von Maturana zu drehen und die Idee dann flächendeckend zu penetrieren, wie eine Kampagne für irgendeine Marmelade, das war Schmidts Leistung.

Ist Schmidt mit dieser Vision angetreten? Den Konstruktivismus wie eine Marmelade zu verkaufen?

Ja. Er war da sehr idealistisch. Unter dieser Orthodoxie habe ich manchmal gelitten. Ich habe mich gefragt, ob man das wirklich alles so durchdrücken muss. Das Buch „Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus“ hätte ich niemals geschrieben, obwohl der Begriff radikal nicht von ihm stammt, sondern von Glasersfeld. Er stand aber dahinter. Wir haben zusammen das Funkkolleg gemacht und festgestellt, dass das eine interessante Richtung ist.

Wie hat das Trio Schmidt, Weischenberg, Merten die Aufgaben geteilt?

Wir waren absolut gleichberechtigt. Schmidt hat hier in Münster gesessen, und als Lerg dann gestorben ist, haben wir überlegt, ob man nicht den Schmidt da hinsetzen kann.

In der Kommunikationswissenschaft haben beispielsweise auch Manfred Rühl oder Ulrich Saxer systemtheoretisch gearbeitet. Waren das für Sie eher Verbündete oder eher Konkurrenten?

Ich habe sie wenig wahrgenommen. Saxer hat da nie so ganz tief gepflügt. Er hatte keine so klare Position wie Schmidt, so dass es auch keine inhaltliche Auseinandersetzung geben musste.

Bei der Verabschiedung von Schmidt haben Sie die Einigkeit betont, die das Münsteraner Institut so stark mache. Hat sich das Klima nach Lergs Tod verändert?

Erst gab es noch eine große Auseinandersetzung mit Siegfried Weischenberg. Als er nach Hamburg ging, trat Ruhe ein. Die letzten Jahre waren meine beste Zeit in Münster.

Über welchen Autor haben Sie sich am meisten gefreut, als Sie die Festschrift zu Ihrem 65. Geburtstag in der Hand gehalten haben (vgl. Wienand et al. 2005)?

Ich habe noch gar keine Zeit gehabt, das richtig zu lesen. Ich habe allen gedankt und das Buch dann weggelegt. Zurzeit habe ich wirklich ganz andere Probleme.

Wie erklären Sie die Hinwendung zur PR-Forschung in der letzten Phase Ihrer Hochschullehrertätigkeit?

Wahrscheinlich war das eher Zufall, aber ich versuche es. Mir war schon in Bielefeld aufgefallen, dass wir sehr weit von der Praxis entfernt sind. Dass es doch schön wäre, wenn wir wenigstens einen Teil unseres Wissens anwenden könnten. 1992 hat mich Günter Bentele angerufen und gesagt, die Deutsche Akademie für Public Relations wolle ein Fach PR einführen und suche wissenschaftlichen Beistand. Ich müsse unbedingt nach Frankfurt kommen. Das war der Startschuss. Dann wird man gefragt, ob man nicht dieses oder jenes machen könne. 1997 zum Beispiel die große Befragung über PR als Beruf (vgl. Merten 1997). Und plötzlich sitzt man in ganz vielen Gremien und fragt sich, was man dort eigentlich verloren habe. Heute bereue ich das ein bisschen, auch wenn PR als Kommunikationsthema hoch interessant ist. Viel spannender als Journalismus oder Werbung.

Bei der Verabschiedung von Siegfried J. Schmidt haben Sie Selbstverwaltung und Lehre als schmerzenden Nagel beschrieben, als „gefährlichen Zeitfresser“, der „Wunden“ hinterlässt (Merten 2006). Waren Sie lieber Forscher als Lehrer?

Wenn ich gewusst hätte, wie viel Zeit ich jetzt für die Forschung habe, dann hätte ich mich mit 63 oder mit 60 pensionieren lassen und nur noch geschrieben. Empirische Arbeit ist in der Lehre sehr aufwändig. Wenn ich im Seminar eine Inhaltsanalyse mache, dann muss ich das Material besorgen, muss die Studenten ausbilden, muss alles kontrollieren. So eine Veranstaltung macht unheimlich viel Arbeit. In Gießen habe ich das Gegenbeispiel erlebt. Lektüreseminare, bei denen wenig rumkommt und die null Arbeit machen. So etwas habe ich nie gemacht. Ich hätte mich immer gegenüber den Studenten schuldig gefühlt.

Was ist in nächster Zeit von Ihnen zu erwarten?

Erst einmal eine PR-Einführung. Dreibändig. Ich habe jetzt so viel Material gesammelt, dass das wirklich schön wird. Dann der zweite Band zur Einführung (vgl. Merten 1999). Der Methodenband. Dazu theoretische Aufsätze, über die Lüge, über das Gerücht und über den Kommunikationsbegriff.

Wenn Sie auf Ihre Zeit am Münsteraner Institut zurückblicken: Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

Gute Frage. Müsste ich lange drüber nachdenken.

Was bleibt von Klaus Merten in der Kommunikationswissenschaft? Was sollte bleiben, wenn Sie darauf Einfluss hätten?

Dass die Wissenschaft bestimmte Prinzipien hat, die man nicht aufgeben darf. Das geht in Richtung Ethik. Die Wissenschaft hat eine Kritikfunktion und muss schauen, dass sie unabhängig bleibt, dass sie sich ein eigenes Urteil gestattet. Sie können natürlich sagen, es ist klar, warum Merten für die Kritikfunktion plädiert. Aber das nehme ich mir dann doch heraus. Er hat es ja gemacht.

Literaturangaben

  • Theodor M. Bardmann/Dirk Baecker (Hrsg.): „Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?“ Erinnerungen an Niklas Luhmann. Konstanz: UVK 1999.
  • Hans Mathias Kepplinger: Ausgewogen bis zur Selbstaufgabe? Die Fernsehberichterstat-tung über die Bundestagswahl 1976 als Fallstudie eines kommunikationspolitischen Prob-lems. In: Media Perspektiven Nr. 11/1979, S. 750-755.
  • Hans Mathias Kepplinger: Optische Kommentierung in der Fernsehberichterstattung über den Bundestagswahlkampf 1976. In: Thomas Ellwein (Hrsg.): Politikfeld-Analysen 1979. Wissenschaftlicher Kongreß der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, 1.-5. Oktober 1979 in der Universität Augsburg. Opladen: Westdeutscher Verlag 1980, S. 163-179.
  • Klaus Merten: Fachlich-biographische Notizen zur publizistischen Tätigkeit katholischer Geistlicher. In: Communicatio Socialis 1. Jg. (1968), S. 74-76.
  • Klaus Merten: Aktualität und Publizität. Zur Kritik der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik 18. Jg. (1973), S. 143-165.
  • Klaus Merten: Vom Nutzen der Lasswell-Formel – oder Ideologie in der Kommunikationsforschung. In: Rundfunk und Fernsehen 22. Jg. (1974), S. 143-165.
  • Klaus Merten: Kommunikation. Eine Begriffs- und Prozessanalyse. Opladen: Westdeutscher Verlag 1977.
  • Klaus Merten: Der wahlentscheidende Einfluss des Fernsehens auf die Bundestagswahl 1976 – oder Alchimie in der empirischen Sozialforschung. In: Heribert Schatz/Klaus Lange (Hrsg.): Massenkommunikation und Politik. Aktuelle Probleme und Entwicklungen im Massenkommunikationssystem der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main: Haag + Herchen 1982, S. 121-139.
  • Klaus Merten: Mainzer Köche. Kommunikationsforschung als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. In: Medium 22. Jg. (1992), H. 1, S. 63-65.
  • Klaus Merten: Das Berufsbild von PR – Anforderungsprofile und Trends. Ergebnisse einer Studie. In: Bernd-Jürgen Martini (Hrsg.): Handbuch PR. Öffentlichkeitsarbeit & Kommunikationsmanagement in Wirtschaft, Verbänden, Behörden. Grundlagen und Adressen. Drei Bände. Neuwied: Luchterhand 1997. Band 2, Kapitel 3.635, S. 1-23.
  • Klaus Merten: Medien und Kommunikation. Konstruktionen von Wirklichkeit. 13 Bände. Weinheim: Beltz 1990/91 (herausgegeben mit Siegfried Weischenberg und Siegfried J. Schmidt).
    Klaus Merten: Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Band 1. Münster: Lit 1999.
  • Klaus Merten: Geflügelte und erdverbundene Worte. Zum Abschied von Siegfried J. Schmidt, 2006.
  • Klaus Merten/Ralf Lisch: Fortran IV. Eine Einführung in die elektronische Datenverarbeitung. Zum Selbststudium. Stuttgart: Fischer 1975.
  • Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hrsg.): Medien und Kommunikation. Konstruktionen von Wirklichkeit. 13 Bände. Weinheim: Beltz 1990/91.
  • Klaus Merten/Christina Dahm/Tanja Spriesterbach/Jasmin Top/Philipp Winterberg: Medien, Dachse & Tenöre. Zur Ethik und Methodik von Medienresonanzanalysen. Ein Weißbuch zum Mediendax 30. Münster: Lit 2005.
  • Henk Prakke/Franz Dröge/Winfried B. Lerg/Michael Schmolke: Kommunikation der Gesellschaft. Einführung in die funktionale Publizistik. Münster: Regensberg 1968.
  • Oskar Schatz (Hrsg.): Die elektronische Revolution. Wie gefährlich sind die Massenmedien? Graz: Styria 1975.
  • Armin Scholl (Hrsg.): Systemtheorie und Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft. Konstanz: UVK 2002.
  • Norman W. Storer: Das soziale System der Wissenschaft. In: Peter Weingart (Hrsg.): Wissenschaftssoziologie 1. Frankfurt am Main: Fischer Athenäum 1972, S. 60-81.
  • Edith Wienand/Joachim Westerbarkey/Armin Scholl (Hrsg.): Kommunikation über Kommunikation. Theorien, Methoden und Praxis. Festschrift für Klaus Merten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005.

Empfohlene Zitierweise

Klaus Merten: Wissenschaft hat eine Kritikfunktion. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2020. http://blexkom.halemverlag.de/merten-interview/ ‎(Datum des Zugriffs).