Dieser Text ist die Schriftfassung eines Vortrags, gehalten auf einem Symposium zu Ehren von Lutz Erbring am 17. Juni 2022 an der FU Berlin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Hans-Jürgen Weiß, liebe Katharina Mensing!
Was bin ich froh, dass wir hier von Angesicht zu Angesicht zusammenkommen können, um uns an Lutz Erbring zu erinnern! Das ist alles andere als selbstverständlich. Und was bin ich dankbar, dass ich mein uraltes Versprechen einlösen kann, die Persönlichkeit von Lutz Erbring zu würdigen! Der Rahmen dafür ist ein Symposium zu seinem Gedenken. Mir wäre sehr viel lieber, der Rahmen wäre eine Feier zu seinem 90. oder besser noch zu seinem 99. Geburtstag – dem Geburtstag mit der höchsten Quersumme, die ein Mensch erreichen kann. Das hätte den Zahlenfreund Lutz gut gefallen. Ein solcher Szenenwechsel von einer Gedenkfeier zu einer Geburtstagsfeier ändert nichts, aber auch gar nichts an meiner Würdigung. Es könnte mich aber jetzt sehr entlasten.
Und deshalb gestatten Sie mir bitte diese kontrafaktische Unterstellung. Ich tue jetzt einfach mal so, als säße Lutz da in der ersten Reihe. Er schaut mich mit blitzenden Augen an und streicht sich durch den weißen Schopf. Katharina hat ihn bei der Wahl seiner Garderobe kompetent beraten. Ab und zu sehe ich an seiner Stirn, dass er einen Punkt deutlich anders sieht als ich, aber ich freue mich schon auf den kräftigen Schulterschlag hinterher.
Unser Gedächtnis ist ein guter Ratgeber, was sich zu erinnern lohnt. Was ich vergesse, das kann ich vergessen. Was prägt, das bleibt. Meine erste Begegnung mit Dir, mein lieber Lutz, ist mehr als 30 Jahre her. Das war in den langen, breiten, flachen Lankwitzer Fluren, von denen unzählige Einzelbüros abgingen, die grauen Türen fast alle auch im laufenden Semester geschlossen. Nur eine Tür stand offen im dritten Stock von Haus L, also von Haus Lutz, und an der Tür von L 333 – Quersumme 9! – hing ein Schild: „Come in! We’re open!“ Und vom Flur aus konnte man durch das Sekretariat hindurchsehen, damals noch nicht von Daphne Stelter besetzt. Man sah durch die zweite Tür jemanden am Schreibtisch, der diese Aufforderung offensichtlich ernst meinte, mit Rollkragenpullover, die Stiefeletten auf dem Beistelltisch, den Blick neugierig auf mich gerichtet, der ich dezent anklopfte und mich vorstellte als Geschäftsführer des Studiengangs Journalisten-Weiterbildung, also als jemand, der in der universitären Statusskala dem Hausmeister näher war als dem Ordinarius. Aufspringen, kräftiger Handschlag, rechte Hand weist auf Stuhl, linke Hand rückt Stuhl zurecht, Beine jetzt unter dem Tisch. Sofort ganz im Gespräch, kein Blick mehr auf den Bildschirm. Fragen nach dem Woher und Wohin, aber kein Ausforschen, kein Abchecken, kein Absichern, kein Einspannen. Launige Bemerkungen, die austesten, ob es einen beiderseits begehbaren Humorboden gibt. Die Zeit verfliegt, ich sitze länger als geplant, ich mache mich behutsam los, das Wort „Anschlusstermin“ gibt es noch nicht. Ich murmele etwas von „Verabredung“. Und ich denke: So kann es auch gehen, und es geht gut so.
Einige weitere Begegnungen mit Dir, Lutz, in den späten 1980ern waren nicht ganz so entspannt, vor allem, wenn es um Deadlines ging, an denen nicht zu rütteln war – wenn beispielsweise Gutachten zu Abschlussarbeiten abzugeben waren, und zwar vor einem fixen Prüfungstermin. Da kamen dann bei Dir doch oft andere interessante Gespräche dazwischen oder eines der zahlreichen Scharmützel im Institut, im Fachbereich oder in der Universität. Nicht nur ich hatte es dann bald raus, dass man solche Terminprobleme notfalls mit Hilfe von Katharina löste. Und wenn ich dann Dein Gutachten endlich kurz vor knapp aus dem Fax zog, Zeitstempel 4:26 Uhr, AM, nicht PM!, dann sah ich: Das Warten und Bangen hatten sich gelohnt, nicht nur für den Prüfling, sondern auch für den Mitprüfer.
Ziselierte Beurteilungen auf den Punkt und individuell, heute würde man sagen tailored messages. Textbausteine waren Deine Sache nicht. Scoring auf Skalen auch nicht. Standardfragen und Standardantworten bei Prüfungen ebenso wenig. Die Massenuniversität war nicht Dein Habitat. Andere haben das aufgefangen, sind eingesprungen, haben geholfen, aber sie waren nicht böse drum. Manchmal knirschten Zähne, aber die Augen lachten.
Woher kommt diese offene, zugewandte Art, wo hast Du das gelernt? Kenneth Branagh, einer der diesjährigen Oskar-Favoriten, hat die Antwort auf den Punkt gebracht: „Wir alle haben eine Geschichte. Sie unterscheidet sich von anderen nicht dadurch, wie sie endet, sondern dadurch, wo sie beginnt.“ Und Deine Geschichte, Lutz, beginnt nicht in Leipzig, wo Du geboren bist, oder in Köln, wo Du die Schule besucht hast und eine Zeit lang durchaus studiert hast, mit heißem Bemüh‘n.
Deine Geschichte beginnt in Ann Arbor in Michigan, einem der Vereinigten Staaten von Amerika. Dieser Ort mit der dort ansässigen University of Michigan hat Dich am meisten geprägt, Dein Denken, Dein Handeln, Deinen Habitus. Du hast das zeit Deines Lebens zelebriert – von A wie Amischlitten, ein Chrysler Le Baron, bis Z wie Zeitung, die New York Times. Dein Sprechen ist mit Amerikanismen gewürzt. Wir haben uns schnell daran gewöhnt, weil es unprätentiös ist. Und ab und an coverten wir auch etwas, aber das war dann doch oft gekünstelt und nicht mit Deiner Lässigkeit eingestreut. Ich höre Dich noch: „A-People hire A-People, B-People hire C-People.“ Das fand ich cool, habe es dann zweimal welt- und beiläufig in eine Runde geworfen, ohne jegliche Reaktion, es passte eben nicht zu mir. Dann habe ich es gelassen. Amerikaphilie war in den 1980ern etwas Exotisches. Die USA unter Ronald Reagan waren der Erzfeind, das Böse schlechthin. In Deutschland wurde der Vietnamkrieg immer noch weitergeführt. Es gab wenige, die nicht nur die Pershings sahen, sondern auch die SS20, und die meisten dieser wenigen achteten sehr auf Äquidistanz zwischen Washington und Moskau. Du aber wusstest auch damals, wo Dein politischer Platz ist. Du hast immer für die liberale Demokratie gebrannt, jede Einschränkung individueller Freiheitsrechte bekämpft, die „balance of power“ verteidigt, als wäre das Deine eigene Erfindung. Und sie war ja auch Teil Deiner DNA. Und wie oft habe ich Dir Recht geben müssen, widerwillig zwar, aber aus Einsicht in gute Gründe. Mit Habermas hast Du nichts am Hut, aber wie er setzt Du ausschließlich auf die „Kraft des besseren Arguments“.
Auch in Deiner Wissenschaftlichkeit haben Dich die USA geprägt. Dies zeigt sich in Deiner unbefangenen Begeisterung für technische Neuerungen, im Drang, zu den early adopters zu gehören, bloß nicht zu den laggards. Du warst der Erste aus meinem Umkreis, der irgendetwas mit diesem Internet machte. Und diese Prägung zeigt sich auch in Deinen klaren Vorstellungen, wie man akademische Karriere macht, wie man Studenten und Mitarbeiter aussucht und wie eine Universität funktionieren kann, wie man miteinander umgeht zwischen Kollegen und zwischen Lernenden und Lehrenden, nämlich fair. Vor allem aber zeigt sich diese Prägung in Deiner methodologischen Strenge. Du bist ein Meisterschüler von Karl Raimund Popper; da ist kein Funken von Sympathie für Paul Feyerabends „Anything goes“. Du bist der personifizierte Kritische Rationalismus und damit markierst Du den Gegenpol zum deutschen Idealismus, an dem man sich wärmen, aber vor allem auch verbrennen kann. Dabei ist das Besondere an Dir: Du vertreibst das Fühlen und Sehnen aus dem Reich der Wissenschaft mit Inbrunst. Du bist ein emphatischer Rationalist. Das hat etwas Paradoxes und ist deshalb faszinierend. Und unbedingt Distanz zu halten zwischen empirischer Analyse und normativen Überlegungen – das ist Deine Norm, Dein ehernes Gesetz. Sein und Sollen sind scharf zu trennen – das sollte überall und immer so sein. Da kannst Du schon mal scharf werden, nahezu so scharf wie Deine Saucen. Du hast methodische Strenge gelebt und Du hast dafür gebrannt. Dadurch hast Du geleuchtet.
Und das hat gewirkt, wie Du heute in den Vorträgen hören und sehen und ja, fühlen konntest. Die Vortragenden heute sind schillernde Beispiele dafür, wie Deine Mission weitergetragen wird. Du hast Volker Gehrau, Benjamin Fretwurst, Anke Wonneberger, Jens Wolling, Merja Mahrt und etlichen anderen das Rüstzeug mitgegeben, das kleine und das große Einmaleins der quantitativen empirischen Sozialforschung, ein Instrumentarium, mit dem sie arbeiten können. Aber viel mehr noch: Du hast ihnen den Geist gegeben, Du würdest sagen, den spirit.
Durch Deine Lehre hast Du gewirkt, Du warst ein leidenschaftlicher Hochschullehrer. Du hast das Rollenportfolio des deutschen Universitätsprofessors auf Deine Weise gewichtet und die Lehre ganz stark gemacht – auf Deine eigene unvergessliche Weise, selbstverständlich an der Tafel, mit nichts als Kreide und Lappen, ohne Folien, ohne Punkt und ohne Komma. Leidenschaft, die Wissen schafft, das Leiden schafft. Ja, das Leiden schafft, denn es war enorm herausfordernd, Deinen Ansprüchen zu genügen. Dein Ziel bei den Methodenvorlesungen und bei der Methodenberatung war immer: Die Studierenden sollten statistische Verfahren nicht nur anwenden können, sie sollten sie verstehen, begreifen. Sie sollten den Motor nicht nur an- und ausschalten können, sie sollten ihn auseinandernehmen und wieder zusammensetzen können. Sie sollten durchdringen, was bei einer Regressionsanalyse oder einer Zeitreihenanalyse geschieht. Sie sollten die mathematische Herleitung nachvollziehen können. Nur dann erkennen sie die Probleme und werden vorsichtig – und zugleich kreativ. Deine methodische Leitfrage war das Warum, nicht das Wie oder das Wofür. Diesen Anspruch haben viele nicht erfüllen wollen oder können. Aber einige hast Du damit geprägt. Sie haben Deine Begründungen nicht gepaukt, sondern zumindest im Ansatz verstanden und dadurch methodisches Denken gelernt. Du hast ihnen nachdrücklich vermittelt, dass Methoden der Datenanalyse einen Eigenwert haben, nicht nur Werkzeuge sind zur Prüfung von Hypothesen oder gar nur Funktionen eines Statistikprogramms.
Etliche von Deinen Schölern sind selbst akademische Lehrende geworden, nicht allein durch Dich, aber sicher nicht ohne Dich oder gar gegen Dich. Sie geben diesen Geist weiter an die nächste Generation, werden dabei vielleicht sogar noch ab und zu Deinen Vornamen und Deinen Nachnamen nennen. Die Enkel aber werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit dann nicht mehr so richtig an Deinen Namen erinnern, denn sie verbinden mit dem Namen kein Gesicht und keine Stimme und keinen Habitus. Mit dieser Kränkung muss jeder von uns leben. Aber unser individuelles und unser kollektives Gedächtnis sind nun mal sehr effizient, sie hatten ja ein paar Millionen Jahre Zeit, evolutionäre Vorteile auszubilden. Dennoch: In dem Wirken wiederum dieser Nach-Nach-Folgenden, in ihrem Tun, da wirst Du weiterwirken. Und das ist ja ein wenig tröstlich.
Begonnen habe ich mit unserer ersten Begegnung. Genauso deutlich erinnere ich mich an unsere letzte Begegnung, Lutz, auch schon wieder fast ein Jahr her. Wir saßen zu dritt auf dem schmalen ebenerdigen Balkon am Bayerischen Platz in Schöneberg. Dein Blick war offen wie immer, die Stimme fest, die Hände beredt. Und Du erzähltest über Dich selbst. Und immer reflektiertest Du Deine nicht mehr ganz so realitätstüchtigen Annahmen. Du protokolliertest laufend Deine Wahrnehmungen und berichtetest uns Deine Beobachtungen von Dir selbst. Und als ich dann einwarf, der verhasste Konstruktivismus habe Dich ja wohl doch noch in seine Fänge gezogen, da amüsierten wir uns beide. Schön war’s! Und unvergesslich.
Empfohlene Zitierweise
- Gerhard Vowe: Lutz Erbring: Eine Würdigung. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2022. http://blexkom.halemverlag.de/lutz-erbring-eine-würdigung/(Datum des Zugriffs).