Marianne Lunzer-Lindhausen zum 100.

Beitrag von Wolfgang R. Langenbucher am 5. Oktober 2021

Marianne Lunzer-Lindhausen, Pionierin in der Wissenschaft und jahrzehntelang prägende Figur am Wiener Fachinstitut, ist am 29. Juli 2021 im Alter von 102 Jahren gestorben. Statt eines Nachrufs veröffentlicht BLexKom eine Laudatio von Wolfgang R. Langenbucher anlässlich der Feier zum runden Geburtstag vor zwei Jahren.

Dieser Text ist die überarbeitete Fassung meines Vortrags, den ich bei einer Feier zu Ehren der Jubilarin am 24.10.2019 in Wien hielt.

Welch ein Ereignis: im hundertsten Lebensjahr die eindrucksvolle Bilanz einer Biografie zu ziehen, die erkennen lässt, dass Marianne Lunzer-Lindhausen eine singuläre Figur unseres Fachs und der – leidvollen – Geschichte von Frauen an der (Wiener) Universität war.

In fünf Merksätzen sei dieser Sachverhalt eingangs resümiert:

  • Sie wurde nach dem Eintritt in jungen Jahren in die akademische Laufbahn durch die Jahrzehnte zu einer Wissenschaftlerin, ohne die es dieses Institut nach dem Krieg nicht wieder gegeben hätte.
  • Als leidenschaftlich lehrende Forscherin hat sie mehreren Generationen von Kommunikationsberuflern ihre wissenschaftliche Vorbildung verpasst; eine eindrucksvolle Galerie von Absolventinnen und Absolventen zeugt davon.
  • Was heute endlich (fast) selbstverständlich ist, Frauen als Universitätsangehörige, hat sie sich erkämpft, und sie gehört so zu den bewundernswerten Pionierinnen dieser Karrieren.
  • Von anderen Studienfächern kommend wurde sie eine Kommunikationshistorikerin, die – auf dem Umweg über die Zeitungswissenschaft – die Kommunikationsgeschichte zu einem grundlegenden Fach, einer Teildisziplin der modernen Kommunikationswissenschaft machte.
  • Was einige Zeit wie ein abgeschlossenes Thema schien – die mit ihren und ihrer Dissertanten – systematischen Forschungen zur Parteipresse – erweist sich heute, noch kaum richtig erkannt, als eine erstaunliche Modernität. Nicht auf Papier, aber im Netz hat die parteiische Kommunikation – eine teilweise verhängnisvolle – Renaissance erfahren.
Marianne Lunzer-Lindhausen auf der Weihnachtsfeier des Wiener Instituts 1976 (Foto: Roland Burkart)

Marianne Lunzer-Lindhausen auf der Weihnachtsfeier des Wiener Instituts 1976 (Foto: Roland Burkart)

Zwei Festschriften haben diese Lebensleistung gewürdigt: 1985, anlässlich ihrer Emeritierung (vgl. Duchkowitsch 1985), dann 1991 zu ihrem 70. Geburtstag (vgl. Duchkowitsch et al. 1991; bei Festschriften eine nicht unübliche Verspätung!); auch das internationale Symposium „Wege zur Kommunikationsgeschichte“ 1986 war als eine Hommage an sie konzipiert (vgl. Bobrowsky/Langenbucher 1987). Und zuletzt fand ihre Rolle im Fach eine einfühlsame Würdigung im Biografischen Lexikon Kommunikationswissenschaft  (vgl. Thiele 2015).

Ist damit nicht alles über unsere Kollegin gesagt?

Wohl nein: Je mehr Zeit seit ihren Jahren am Wiener Institut vergeht, umso deutlicher werden die historischen Konturen, die lebensgeschichtlichen Gewichte und Bedeutungen, der lange wissenschaftsgeschichtliche Atem dieses Lebens.

Das Überleben des Instituts

Der Weiterbestand des im Nationalsozialismus gegründeten Instituts war nach Kriegsende verständlicherweise extrem gefährdet. Unbelastet war nur die junge Assistentin, die sich resolut und einfallsreich für das Weiterbestehen des Wiener Instituts einsetzte, die Leitung aber ging an Männer, ausschließlich fachfremde (vgl. Thiele 2015).

Lange stand das Institut so unter kommissarischer Leitung. Erst Ende der 1960er Jahre nahm diese jahrzehntelange kommissarische Verwaltung durch fachfremde Wissenschafter ein Ende. Es war in dieser ganzen Zeit sie, die die Verwaltungsgeschäfte in diesem anhaltenden Provisorium leitete und auch sonst für Kontinuität sorgte.

Als dieser prekäre Zustand endete und sie selbstständig arbeiten konnte, betreute die Publizistikprofessorin 230 Dissertationen (bis in die 1980er Jahre der normale akademische Abschluss) und leistete so einen wesentlichen Beitrag zur Akademisierung des österreichischen Journalismus. Um es genauer zu sagen: Ihre herausragende Leistung war ein früher Beitrag an die berufliche Emanzipation junger Frauen: Die Zahl – zum Teil prominent gewordener – Journalistinnen, die sich als ihre Schülerinnen bekannt haben, ist bemerkenswert groß. Dies war für die Generation der noch nicht sehr zahlreichen weiblichen Studierenden der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein Projekt, das es gegen die damals noch brutal männliche Kultur der Universität erst durchzusetzen galt.

Darin war Marianne Lunzer als Universitätsangehörige eine bewundernswerte Pionierin. Wenn Frauen damals schon diesen akademischen Weg wagten, so wurden ihnen häufig genug alle nur denkbaren Aufstiegsbarrieren in den Weg gelegt. So auch ihr, als sie sich nach ihrer Habilitation 1954 Ende der 60er Jahre um die endlich eingerichtete Wiener Lehrkanzel für Zeitungswissenschaft bewarb; berufen wurde ein Kollege, an dessen – gar besseren – Eignung erhebliche Zweifel bestanden, die sich schon in seinem holprigen, sechs Jahre dauernden Weg zur Habilitation zeigten. Aber: Er war ein Mann. Beworben hatte sich auch noch der frühere Institutsvorstand; beide hatten der NSDAP angehört.

Von dieser Blockade der ihr eigentlich zustehenden Karriere ließ sich Frau Lunzer aber nicht in die Resignation treiben, sondern wurde unbestritten zum professoralen Mittelpunkt des langsam größer werdenden Instituts und schließlich für einige Jahre zur einflussreichen Vorständin, die damit die Grundlagen für ein beispielloses Wachstum des Instituts in den vergangenen Jahrzehnten schuf, bis zu einem der größten im Fach.

Was das universitätsgeschichtlich bedeutet, mag an der Geschichte der Universität deutlich werden: Forschende und lehrende Frauen sind bis tief ins 20. Jahrhundert eine rare Ausnahme. Ihren Platz in den Wissenschaften mussten Frauen sich erst mühsam erobern, um den damaligen Talibanen zu beweisen, dass es Männern zumutbar sei, von einer Frau unterrichtet zu werden.

In Stichworten: Die erste Habilitation erfolgte 1907, durch die Romanistin Elise Richter; bis 1938 folgten zwölf weitere Habilitationen von Wissenschaftlerinnen. Nach dem Anschluss 1938 endete diese Epoche – für Elise Richter mit der Ermordung in Theresienstadt, andere gingen in die Emigration oder mussten die Universität verlassen.

Zurück nach diesem traurigen Exkurs zu Notizen über die Arbeitsgebiete von Marianne Lunzer. Sie wurde durch das Fach zur Historikerin und wählte als einen ihrer Schwerpunkte die Parteipresse, und machte das Thema mit ihren Dissertantinnen und Dissertanten zum Gegenstand systematischer Forschungen.

Eine Überblicksdarstellung aus diesem Material würde sich gerade heute lohnen. Obwohl dieses Phänomen nach 1945 sukzessive vom Markt verschwand, weil eine ganz andere Idee von „Zeitung“, an den Idealen der Universalität und Objektivität orientiert, sich auch in Österreich durchsetzte, aber sich nun in der Internetwelt eine Renaissance anbahnte, und Lunzer so – gewiss ohne es zu ahnen – einer erstaunlichen Modernität auf der Spur war. Wie ihre Forschungen über die Erste Republik lehren, war die parteigebundene Presse der Demokratie nicht eben förderlich. Was sich heute im Netz abspielt, gilt – entgegen dem anfänglichen Glauben an ein völlig neues Demokratiepotenzial – in der immer vernehmlicher werdenden Kulturkritik als essenzielle Gefahr für die Demokratie. Die Präsidentschaft von Trump war dafür das furchterregende Ereignis. International bedienen sich der nationalistische Rechtsradikalismus und der antidemokratische Populismus besonders intensiv dieser neuen Kommunikationstechniken, um den klassischen Journalismus durch Fake, Lüge und Propaganda zu ersetzen.

„100“ Jahre – welch eine Zeitspanne. Hoffentlich war sie so wenig wie möglich beschwerlich, fürsorglich begleitet von Angehörigen, nicht zuletzt der Enkelin Katja Orter, die ja auch an „ihrem“ Institut studiert und promoviert hat. Uns allen bleibt, zu danken, dass wir die Weggefährten einer bewundernswerten Kollegin sein durften.

Literaturangaben

  • Manfred Bobrowsky/Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Wege zur Kommunikationsgeschichte. München: Ölschläger 1987.
  • Wolfgang Duchkowitsch (Hrsg.): Mediengeschichte. Forschung und Praxis. Festgabe für Marianne Lunzer-Lindhausen zum 65. Geburtstag. Wien: Böhlau 1985.
  • Wolfgang Duchkowitsch/Hannes Haas/Klaus Loika (Hrsg.): Kreativität aus der Krise. Konzepte zur gesellschaftlichen Kommunikation in der Ersten Republik. Festschrift für Marianne Lunzer-Lindhausen. Wien: Literas-Universitätsverlag 1991.
  • Martina Thiele: Marianne Lunzer-Lindhausen. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.

Empfohlene Zitierweise

    Wolfgang R. Langenbucher: Marianne Lunzer-Lindhausen zum 100. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2021. http://blexkom.halemverlag.de/lunzer-lindhausen-zum-100/(Datum des Zugriffs).