Herrmann Haarmann (Foto: Ansgar Koch)
Herrmann Haarmann (Foto: Ansgar Koch)

Ich habe einen langen Atem gebraucht, um Professor zu werden

Veröffentlicht am 9. September 2013

Hermann Haarmann lehrt seit 1990 am Berliner Fachinstitut und ist trotzdem nicht in der DGPuK. Michael Meyen hat ihn am 29. August 2013 gefragt, wie man mit dem Schwerpunkt Exilliteratur im Fach überleben kann.

Stationen

Geboren am 18. September 1946 in Vehrte. 1966 Abitur in Münster. Studium in Münster und Berlin (Germanistik, Theaterwissenschaft, Politikwissenschaft und Publizistik). 1974 Promotion an der FU Berlin. 1989 Habilitation an der Universität Gesamthochschule Essen. 1990 Professur für Kommunikationsgeschichte mit dem Schwerpunkt Exil an der FU Berlin. Direktor des Instituts für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften. 1996 zusätzliche Professur für Kulturtheorie der Moderne an der Hochschule für Musik Hanns Eisler. 1999 bis 2001 Direktor des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Verheiratet, drei Kinder.

Könnten Sie zu Beginn etwas über Ihr Elternhaus erzählen?

In der Familie meiner Mutter gab es fast nur Philologen. Mein Großvater hatte die älteste Handelsschule der Welt, in Osnabrück. Er war auch Toussaint-Langenscheidt-Herausgeber, Englisch-Deutsch, Deutsch-Englisch.

Und die Familie Ihres Vaters?

Ganz kaufmännisch. Aus Vehrte, einem Dorf in der Nähe von Osnabrück. Mit Auto, Kohlenhandlung und einer Kneipe. Ich habe meinen Vater aber nicht mehr kennengelernt. Er ist kurz vor meiner Geburt tödlich verunglückt. In die Grundschule bin ich dann schon in Münster gegangen.

Hat Ihre Mutter auch Philologie studiert?

Meine Mutter war Pianistin mit Staatsexamen. Als mein Vater starb, hat sie auch als Klavierlehrerin gearbeitet. Sie hatte drei Schwestern und einen Bruder. Der Junge sollte eigentlich die Handelsschule übernehmen. Meine Großmutter wurde aber enteignet, weil sie sich unter Hitler weigerte, Juden von der Schule zu nehmen. Meine Tante Thea hat in Paris studiert und dort George Gershwin kennengelernt. Davon hat sie mir oft erzählt.

Hat Ihre Mutter noch einmal geheiratet?

Nein. Sie hatte vier Kinder und verschiedene Partner, was ich schön fand. Es war ein fröhliches Elternhaus. Ich war Nachkömmling. Mein ältester Bruder ist 13 Jahre älter als ich. Auch ein Philologe.

Dann lag Ihr Hauptfach Germanistik sozusagen in der Familiengeschichte.

Ja. In der Realität war es komplizierter. Ich hatte einen Wettbewerb in freier Malerei gewonnen. Ich hätte nach Berlin gehen können und dort auch ein Atelier gehabt. Ich bin dann aber erst nach Amerika gefahren, um vom Newport Jazz Festival zu berichten.

Für wen?

Für eine Studentenzeitschrift in Münster. Ich habe die Arbeiten von Andy Warhol gesehen und gedacht, das ist die Moderne. Das kannst du nicht, also lässt du es. Ich habe mit Jura angefangen. Das war es aber auch nicht.

Also doch Germanistik in Münster.

Ja. Ich bin dann aber sehr schnell nach Berlin gegangen, weil ich eigentlich Theaterwissenschaft studieren wollte. Das war damals gar nicht so einfach. Köln war mir zu nah und München zu fröhlich. In Berlin stand damals noch im Studienführer, dass sich das Fach als Höhere-Töchter-Studium verstehe. Ich habe dann auch Germanistik, Publizistik und Politik studiert.

Am Otto-Suhr-Institut?

Ja. Ich hatte das große Glück, hier die Rückkehrer der Kritischen Theorie zu hören. Herbert Marcuse, Paul Mattick. Auch vor Fritz Eberhard hatte ich damals große Hochachtung, obwohl ich noch gar nicht wusste, dass er im Exil in England war (vgl. Sösemann 2001). Mit Harry Pross kam dann nicht nur frischer Wind, sondern auch eine andere Form der Lehre. Er machte zum Beispiel ein Seminar zu Materialismus und Empiriokritizismus, zu Lenins Kritik an Mach. Das war ein Hauptseminar in der Publizistik. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.

Helmut Gollwitzer (1976: 481) hat geschrieben, dass die Jugend in den 1960ern und 1970ern nicht wegen der Professoren an die FU kam, sondern wegen der Stadt.

Einige kamen auch, weil sie nicht zur Bundeswehr wollten.

Sie auch?

Nein. Ich bin fast blind und brauchte gar nicht zur Bundeswehr. Für mich war Berlin damals die kulturelle Metropole. Berlin, das war die Schaubühne. Ich habe bei Peter Stein Dramaturgieassistenz gemacht. In Berlin war die Avantgarde, selbst wenn Stein heute sagt, das sei alles Kinderkram gewesen. Für mich nicht. Peter Zadek machte am Schillertheater Gerettet von Edward Bond. Sensationell.

Und die Universität?

Ich habe am Otto-Suhr-Institut bei Hans-Dieter Bahr ein Seminar besucht, in dem es um die Methode der Kritik der Politischen Ökonomie von Marx ging. Die Grundrisse nicht als Vorläufer für Das Kapital, sondern gelesen mit der Frage, ob man hier die Hegelsche Dialektik wiederfindet. Von solchen Seminaren zehre ich heute noch. Damals habe ich nichts verstanden, als ich dann aber irgendwann wieder in die Aufzeichnungen geschaut habe, machte es klick. In der Publizistik habe ich Gerhard Maletzke erlebt. Ein sehr interessanter Mann. Bei Schonauer haben wir die Arbeiterkorrespondentenbewegung in den 1920er- und 1930er-Jahren untersucht.

Fritz Eberhard (links, neben Dirk Sager), in den 1960er-Jahren Leiter des Berliner Instituts für Publizistik (Foto: Privatarchiv Hans Bohrmann)

Fritz Eberhard (links, neben Dirk Sager), in den 1960er Jahren Leiter des Berliner Instituts für Publizistik (Foto: Hans-Jürgen Bolle)

Dann waren Sie ja damals schon nah am Kern des Fachs.

Ich sehe mich trotzdem als Quereinsteiger. Das wurde mir hin und wieder auch unter die Nase gerieben. Nach dem Motto: Holt euch ja keinen Geisteswissenschaftler ans Institut, das ist die Pest. Ich bin Hermeneutiker und stehe auch dazu.

Wie haben Sie die Studentenbewegung erlebt?

Mittendrin. Rudi Dutschke habe ich ziemlich gut gekannt. Im Rückblick ist faszinierend, wie er es verstanden hat, größere Zusammenhänge agitatorisch darzustellen. Er konnte Studenten mobilisieren.

Waren die Anliegen der Demonstranten ein Thema für Sie?

Vietnam war zentral. Die Maoisten fand ich etwas kurzatmig. Erst bekam jeder diese rote Bibel in die Hand und dann tauchte eine Mütze auf, die Mao getragen haben sollte. Die haben sich wirklich darum geschlagen, wer diese Mütze für einen Tag haben darf. Da waren die Trotzkisten interessanter. Vor allem Ernest Mandel mit seiner Theorie des Spätkapitalismus (Mandel 1972). Das war nicht so lokal begrenzt wie das, was hier in Berlin die Atzen und andere gemacht haben.

Das klingt nach Distanz.

Denken war für mich wichtiger. Hegel, die Auseinandersetzung mit Marx, die ganz anders lief, als man sich das so vorstellt. Es gab zum Beispiel ein Seminar zu der Frage, ob Brecht in der Mutter den Klassenkampf richtig dargestellt hat.

Und: Hat er?

Es hieß: nein. Das war damals Methode. Was nicht im Einklang mit der Realgeschichte stand, galt als Renegatentum. Dabei blieb natürlich die Kunst auf der Strecke. Das ist der Tod jedes Denkens. Deshalb war ich immer auf Distanz.

Sie haben 1974 in Berlin promoviert und sind sehr viel später als Professor an die FU berufen worden. Wovon haben Sie in den anderthalb Jahrzehnten dazwischen gelebt?

Ich habe mich immer irgendwie über Wasser halten müssen. Über Stipendien, über Forschungsaufträge. 1981 habe ich es sogar noch einmal am Theater versucht und in Bern Molière inszeniert. Danach wusste ich, dass das doch nicht mein Ding ist.

In Ihrem Lebenslauf steht auch die Universität Gesamthochschule Essen.

Dort waren viele Studenten, die über den zweiten Bildungsweg kamen und Lehrer werden wollten. Mir wurden in Essen Lehrvertretungen in der Germanistik angeboten. Literatur des Nationalsozialismus und Exilliteratur.

Das hat sicher nicht zum Überleben gereicht.

Ein Standbein waren Ausstellungen. Damit habe ich schon in der Essener Zeit angefangen. 1983 bekam ich von der Akademie der Künste in Berlin den Auftrag zum 50. Jahrestag der Bücherverbrennung. Vom Außenministerium gab es einen Riesenetat. Fast zwei Millionen Mark. Wir sind in die USA gefahren und nach Moskau und haben Material zusammengetragen. Das passte gut zu meinem Interesse für jüdische und kommunistische Emigranten.

Wie kommt man zu solchen Großaufträgen?

Ich hatte schon in der Endphase meiner Promotion Walter Huder kennengelernt, den Archivleiter der Akademie. Huder machte schon 1973 eine große Ausstellung über Theater im Exil. Ich habe mich damals auf die Sowjetunion spezialisiert. Als Studentenvertreter habe ich später bei den Theaterwissenschaftlern mitgeholfen, Huder zum Honorarprofessor zu machen. Damit waren die Archive für die Studenten offen.

Was heißt das?

Sie konnten an den Originalen arbeiten. Ich habe alle Briefe noch in der Hand gehabt. Piscator, Alfred Wolfenstein, Carl Einstein. Heute gibt es das nur noch digital.

Macht das einen Unterschied?

Einen großen. Alfred Kerr hat seinem Sohn zum Abschied geschrieben: „Ich habe das Leben geliebt und es beendet, als es zur Qual wurde.“ Wenn man das aus dem Kuvert nimmt, in dem auch die Veronal drin war, hat Geschichte plötzlich eine ganz andere Präsenz. Das wurde bei mir noch verstärkt durch die Freundschaft mit Leo Löwenthal. Er konnte authentisch über Walter Benjamin erzählen.

Wo haben Sie Löwenthal kennengelernt?

Hier in Berlin. Er sprach 1983 auf einem Symposium anlässlich der Ausstellung zur Bücherverbrennung. Von da an kam er zwei- oder dreimal im Jahr. Als die Grenze offen war, musste ich ihn mit dem Auto durch das Brandenburger Tor fahren. Ich habe ihn gefragt, wie er sich fühlt.

Was hat er geantwortet?

Wie soll ich mich fühlen? Ich war für den Schornstein bestimmt. Das hat mich in meiner Arbeit bestärkt.

Wie meinen Sie das?

Ich habe eine Verantwortung gefühlt, die ich durch Editionen erfüllt habe, durch Kongresse, aber auch in der Lehre. Unbekannte Quellen ans Licht holen, die Studenten mit in die Archive nehmen. Ich habe mehrere Ausstellungen mit Studenten gemacht, bei denen es einen Etat gab und eine Deadline. Das war sehr produktiv.

Woher kommt Ihr Interesse für jüdische und kommunistische Schriftsteller?

Vielleicht über meine Großmutter. Sie hatte viele jüdische Freunde. Nicht nur durch die Schule, sondern auch durch ihren Salon. Zum Haus gehörten jüdische Pianisten, die dort Konzerte gaben. Wir sind außerdem mit den Klemperers verwandt, mit Otto, dem Dirigenten, und Victor. Meine Familie hat dann auch allergisch reagiert, als es in den 1950ern plötzlich wieder Witze über Juden gab.

Wie ist es zu Ihrer Berufung nach Berlin gekommen?

Ich habe immer hier gelebt, egal ob ich gerade in Essen gearbeitet habe, in Los Angeles, in Frankfurt oder in Hamburg. Spätestens nach 14 Tagen war ich wieder für ein Wochenende hier. Zur 750-Jahr-Feier haben Klaus Siebenhaar, Bernd Sösemann und der Verleger des Tagesspiegel, Lothar C. Poll, überlegt, was man der FU schenken könnte. So wurde das Institut für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften (IKK) gegründet. Im Rahmen dieses Instituts wurde eine Erik-Reger-Stiftungsprofessur ausgeschrieben.

Ihre Stelle?

Ich habe mich gar nicht erst beworben. Berufen wurde Erhard Schütz, ein Kollege aus Essen. Mich hat damals die Stiftung Tagesspiegel beauftragt, eine Alfred-Kerr-Edition zu machen. So kam ich in Kontakt mit der Universität. Ich habe mich dann auf eine Fiebiger-Professur beworben, mit der das IKK gestärkt werden sollte.

Wie für Sie geschaffen.

Die Bewerberzahl war groß. Exil war gerade Forschungsschwerpunkt bei der DFG. Das vergleichende Gutachten hat Leo Löwenthal geschrieben. Ich war dann nicht nur Mitglied im IKK, sondern auch im Institut für Publizistik. Eine eigentümliche Konstruktion. Ein Institut im Institut. Später wurden wir dann ein Institut am Fachbereich. Wir hatten immer ziemlich viel Forschungsgeld direkt vom Präsidium, für Editionen und Ausstellungen.

Kannten Sie damals die Situation am Berliner Institut für Publizistik?

Ja. Als es sehr brenzlig wurde, waren nur noch Hans-Jürgen Weiß und ich da. Als Gernot Wersig 2006 starb, hieß es schon, ich mache das Licht aus. Es ist uns dann aber gelungen, das Institut zu stabilisieren und wieder vollwertig zu besetzen. Ich hoffe, dass der Bereich Kommunikationsgeschichte erhalten bleibt. Wir brauchen nicht noch eine Empirie-Stelle.

Wo sehen Sie Ihre Position im Fach?

Mein Verständnis von Kommunikation unterscheidet sich von dem gängigen. Deshalb bin ich auch nicht in der DGPuK. Meine neue Schriftenreihe kommunikation & kultur startet jetzt im Herbst mit drei Bänden. Ein Konferenzband zum 100. Geburtstag von Jean Améry, ein Konferenzband über Vilém Flusser und eine exzellente Dissertation über den frühen Walter Benjamin. Das wird ein richtiger Hammer.

Machen die Berliner Studenten diese Ausrichtung mit?

Ja. Die Evaluierungen stehen ja im Netz. Die Studenten sagen, es sei schade, wenn ich weggehe. Ich sei der Einzige, der mal etwas anderes anbietet. Im Master war der Zuspruch zum Beispiel sehr groß, als es um Theorien des Faschismus ging, von Georgi Dimitroff bis zum sowjetischen Spielfilm Professor Mamlock von 1938.

Lutz Erbring mit Hans-Bernd Brosius, Günter Bentele und Romy Fröhlich (von links) auf der DGPuK-Jahrestagung 2002 in Dresden (Foto: Michael Meyen)

Lutz Erbring mit Hans-Bernd Brosius, Günter Bentele und Romy Fröhlich (von links) auf der DGPuK-Jahrestagung 2002 in Dresden (Foto: DGPuK)

Lutz Erbring (2007: 257) hat mir erzählt, dass es in den späten 1980ern und frühen 1990ern im Haus gegen die Empirie gegangen sei.

Es ging nicht gegen die Empirie. Die Empirie hat aber geblockt. Ich kam aus der Ecke Sösemann. Er war Historiker und im Institut der Ansprechpartner für die Pressestiftung Tagesspiegel. Es gab also Verknüpfungen. Axel Zerdick hat das Potential meiner Stelle gesehen. Er sagte, das sei eine zusätzliche Komponente, die wir bedienen sollten. Mit Erbring, Weiß, Wersig und mir hat es lange gedauert.

Das klingt nach einem guten Ende.

Der Zufall wollte, dass ich einen Kongress in der Akademie der Künste machte. Abends bei der Feier löste sich das plötzlich und wir haben gemerkt, dass wir miteinander auskommen. Als meine Assistentin plötzlich an Krebs starb, hat Hans-Jürgen Weiß als Institutsdirektor für mich eine Gastprofessur besorgt und zum Teil auch mit Institutsgeldern finanziert. Das war ein Signal für meine Eingemeindung. Wir haben uns dann geschworen, zusammen das Institut zu retten.

Gemeinsam mit Klaus Siebenhaar haben Sie zwei Festschriften für Walter Huder herausgegeben (Siebenhaar/Haarmann 1982, Haarmann/Siebenhaar 2002). Wie viel Walter Huder steckt in der wissenschaftlichen Arbeit von Hermann Haarmann?

Für mich war faszinierend, wie viele Leute er noch aus dem Exil kannte. Er hat das Archiv der Akademie der Künste aufgebaut, als noch niemand darüber nachdachte, diese Sachen zu sammeln. Das Material kam kofferweise von den Witwen. Ich habe dann angefangen, damit zu arbeiten. Am Schreibtisch von Erwin Piscator, der mitten im Archiv stand. Von Walter Huder konnte man lernen, assoziativ zu denken, Verbindungen zu sehen. Wenn ich mich mit dem Exil beschäftige, muss ich seinen garstigen Zwillingsbruder kennen, den Nationalsozialismus. In diesem Sinne bin ich Schüler von Huder.

Ihre Buchreihe akte exil haben Sie nach zehn Bänden beendet und das mit dem Desinteresse für deutsche Künstler erklärt, die vor den Nationalsozialisten geflohen sind. Gab es einen aktuellen Anlass für diese Form der Resignation?

Ja. Für die ersten drei Bände hatte ich Rezensionen, unter anderem in der FAZ. Die Resonanz auf dem Markt war trotzdem ernüchternd. Kein einziges Buch wurde zusätzlich bestellt. Ich habe jedes Mal 5000 Euro eingeworben, und keiner wollte die Bücher kaufen. Anders sieht es nur bei den Grosz-Skizzen aus (Haarmann 2007) und bei zwei Tagungsbänden (Haarmann 2002, 2004). Die sind vergriffen. Zehn Bände sind aber eine schöne Zahl. Ich hatte keine Lust mehr, überall zu betteln.

Im neuen Konzept des Berliner Fachinstituts hat Ihre Stelle die Widmung Kommunikationsgeschichte/Medienkulturen. Was wünschen Sie sich von Ihrer Nachfolgerin oder Ihrem Nachfolger?

Ich wünsche mir, dass diese Kombination erhalten bleibt. Das war übrigens ein Vorschlag von Hans-Jürgen Weiß. Auf der einen Seite historisch arbeiten, von Gutenberg bis zum Internet, und auf der anderen geronnene Kommunikation als Quelle sehen, über die ich auf die kommunikative Verfasstheit einer Gesellschaft schließen kann. Ich hoffe, dass meine Nachfolger in diese Richtung weitermachen und den Begriff Kommunikation breiter fassen als sonst im Fach üblich.

Gibt es Wissenschaftler, die für Sie eine Vorbildfunktion hatten oder haben?

Oskar Negt mit seinem Buch zur Gegenöffentlichkeit (Negt/Kluge 1972).

Haben Sie ihn dann getroffen?

Er war Zweitgutachter bei meiner Dissertation.

Negt war in Hannover.

Ja. Ich hatte einen Theorienentwurf für eine Theaterwissenschaft gemacht, der quer zu allem lag, was es sonst so gab (Haarmann 1974). Eigentlich sollte Friedrich Tomberg das Zweitgutachten machen, ihm hat der Inhalt aber nicht gepasst. Ich habe zwei Kapitel an Oskar Negt geschickt. Er hat das dann gemacht und mir später auch geholfen, als ich alles hinschmeißen wollte. Negt hat mir zwei Sätze gesagt: Herr Haarmann, überwintern Sie. Es lohnt sich wegen der Position, die Sie vertreten, auch wenn die gerade nicht aktuell ist. Ich habe mir das zu Herzen genommen.

Zu welchen Kollegen hatten oder haben Sie besondere Verbindungen? Gibt es wichtige Sympathien oder Gegnerschaften?

Man wird im Alter ruhiger. Es gab früher Gegner, aber das ist alles nicht mehr wichtig.

Und Sympathien?

Gestandene Ordinarien. Ich verehre Eberhard Lämmert, den Germanisten. Auch Werner Mittenzwei und Alfred Schmidt.

Wenn Sie auf Ihre akademische Laufbahn zurückblicken: Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

Dass ich es geschafft habe. Ich habe einen langen Atem gebraucht, um Professor zu werden.

Andererseits: Gibt es etwas, was Sie heute anders machen würden?

Ich wäre nicht mehr ganz so apodiktisch wie noch in meiner Dissertation.

Was bleibt vom Wissenschaftler Hermann Haarmann? Was sollte bleiben, wenn Sie darauf Einfluss hätten?

Ich möchte die Reihe kommunikation & kultur weiterführen, so lange es geht. Es gibt ein paar Bücher, von denen ich hoffe, dass meine Kinder sie einmal lesen. Und dass mein Bier mir weiter schmeckt.

Literaturangaben

  • Lutz Erbring: Ausbildung ist eine Pflicht und keine Kür. In: Michael Meyen, Maria Löblich: „Ich habe dieses Fach erfunden“. Wie die Kommunikationswissenschaft an die deutschsprachigen Universitäten kam. 19 biografische Interviews. Köln: Herbert von Halem Verlag 2007, S. 246-261
  • Helmut Gollwitzer: Ein Go-Out der Professoren. In: Manfred Kötterheinrich/Ulrich Neveling/Ulrich Pätzold/Hendrik Schmidt (Hrsg.): Rundfunkpolitische Kontroversen. Zum 80. Geburtstag von Fritz Eberhard. Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1976, S. 479-486.
  • Hermann Haarmann: Theater und Geschichte. Zur Theorie des Theaters als gesellschaftlicher Praxis. Gießen: focus verlag 1974.
  • Hermann Haarmann (Hrsg.): Katastrophen und Utopien. Exil und innere Emigration (1933-1945). Berlin: Bostelmann & Siebenhaar 2002.
  • Hermann Haarmann (Hrsg.): Heimat, liebe Heimat. Exil und innere Emigration (1933-1945). Berlin: Bostelmann & Siebenhaar 2004.
  • Hermann Haarmann (Hrsg.): Georg Grosz. Skizzenbücher. New York 1934. Berlin: B&S Siebenhaar 2007.
  • Hermann Haarmann/Klaus Siebenhaar (Hrsg.): Die Asyle der Kunst. Festschrift zum 80. Geburtstag von Walter Huder. Berlin: Bostelmann & Siebenhaar 2002.
  • Ernest Mandell: Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972.
  • Oskar Negt/Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972
  • Klaus Siebenhaar/Hermann Haarmann (Hrsg.): Preis der Vernunft: Literatur und Kunst zwischen Aufklärung, Widerstand und Anpassung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Walter Huder. Berlin, Wien: Medusa 1982.
  • Bernd Sösemann (Hrsg.): Fritz Eberhard. Rückblicke auf Biographie und Werk. Stuttgart: Franz Steiner 2001.

Weiterführende Literatur

  • Michael Meyen: Hermann Haarmann. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2013. http://blexkom.halemverlag.de/hermann-haarmann/ (Datum des Zugriffs).
  • Klaus Siebenhaar (Hrsg.): Die Sprache der Bilder. Hermann Haarmann zum 60. Geburtstag. Berlin: B&S Siebenhaar 2006.

Empfohlene Zitierweise

    Hermann Haarmann: Ich habe einen langen Atem gebraucht, um Professor zu werden. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2013. http://blexkom.halemverlag.de/langer-atem/ (Datum des Zugriffs).