Öffentlichkeit ist der wichtigste Begriff der Moderne

Veröffentlicht am 8. Dezember 2017

Kurt Imhof war einer der profiliertesten Fachvertreter – als Theoretiker, als Medienqualitätsforscher, als öffentliche Figur. Fast drei Jahre nach seinem Tod dokumentiert BLexKom ein Interview, das Nathalie Huber am 12. Juli 2006 mit ihm in München für ihre Dissertation geführt hat (vgl. Huber 2010).

Stationen

Geboren am 17. Januar 1956 in Romanshorn. Lehre als Bauzeichner, 1981 Matura auf dem zweiten Bildungsweg und Studium von Geschichte, Soziologie und Philosophie an der Universität Zürich. 1989 Promotion in Geschichte, 1992 Oberassistent am Soziologischen Institut der Universität Zürich, Dozent an Berufsschulen und Fachhochschulen, 1994 Lancierung des Mediensymposiums Luzern. 1995 Habilitation in Soziologie. 1997 Errichtung des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög). 1998 Assistenzprofessor für Soziologie an der Universität Zürich. 2000 Professor für Publizistikwissenschaft und Soziologie an die Universität Zürich. Am 1. März 2015 Tod nach kurzer Krankheit (vgl. Blum 2015).

Sie sind für eine Disputation nach München gekommen. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre eigene Zeit als Doktorand?

Eine ganz schwierige. Ich habe in Geschichte dissertiert. Die Auseinandersetzungen mit meinem Professor waren schwierig. Er fühlte sich von mir gleichzeitig bedroht und inspiriert. Er befürchtete, dass die Dinge, die er selbst schreiben mochte, von mir geschrieben würden, und dass ich mit Dingen, die für ihn wichtig waren, reüssieren würde. Ein ganz schwieriges Verhältnis. Jedenfalls kein Lehrer-Schüler-Verhältnis. Ich habe ihn bewundert und er hat mich von sich weggestoßen. Das war eine ganz schwierige Zeit für mich.

Auf dem Deckblatt der Dissertation stehen zwei Namen (vgl. Imhof/Romano 1996). Wie kam es dazu?

Gute Frage. Wir waren beide aus einer Minderheit. Gaetano Romano ist ein Secondo. So nennt man in der Schweiz Kinder von Migranten. Für seine Eltern war es ausgeschlossen, dass er an einer Universität studiert. Seine Jugend war durch Ausgrenzung gekennzeichnet. Er war vom Land, und seine Eltern arbeiteten in Fabriken. Ich bin auf dem zweiten Bildungsweg an die Universität gekommen. Der einzige Akademiker in meiner Familie. Wir haben hier also eine Allianz von zwei Menschen, für die eine Universitätskarriere ziemlich unwahrscheinlich war. Und jetzt sind beide Professoren.

Wissen Sie noch, warum Sie ausgerechnet Geschichte, Soziologie und Philosophie studiert haben?

Ich wollte schon mit 13, 14 Geschichte studieren. In einem Alter, in dem andere Jungs Pilot werden wollen oder Autorennfahrer. Das hängt sicherlich mit meiner Biografie zusammen. Wir lebten damals in Zürich, und ich wurde in die soziale Bewegung hineingezogen. Schon damals wurde die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Entwicklungen und sozialem Wandel zu meinem ganz großen Wunsch.

Wann wussten Sie, dass Sie Professor werden wollen?

Sehr früh, aber ich habe mir das nie zugetraut. Ich habe eine bildungs- oder akademieferne Primärsozialisation. Meine Eltern hielten mich für verrückt. Ich bekam auch keinerlei Unterstützung. Die haben mich als Linken abgestempelt, der dann auf die Idee kommt, an die Universität zu gehen. Die dachten, dass das vorübergeht. Sie wollten mich auf dem zweiten Bildungsweg auflaufen lassen (lacht). Ich traute mir erst nicht zu, die Matura zu machen. Ich dachte, dass ich in der Prüfung scheitern werde. Und das Universitätsstudium traute ich mir erst auch nicht zu. Der Wunsch war da, aber zwischen Wunsch und Realisation sah ich eine riesige, furchterregende Schlucht.

Waren Ihre Eltern irgendwann stolz auf Sie?

Ja, irgendwann schon.

Können Sie Ihren Eltern heute erklären, was Sie als Soziologe machen?

Ja. Mein Vater war effizienzorientiert und in der Erziehung streng. Als er gesehen hat, dass ich es geschafft habe, war er sehr, sehr stolz. Er hat dann sogar meine Bücher gelesen.

Wann hatten Sie denn das Gefühl, dass Sie es geschafft hatten? Mit dem Doktortitel?

Die gesellschaftliche Akzeptanz war für meinen Vater ein Beleg dafür, dass er das eigene Kind nicht gänzlich falsch erzogen hat.

Nathalie Huber hat für ihre Dissertation 26 Professorinnen und Professoren zu ihrem Werdegang, zu ihrem Arbeitsalltag und zu ihrem Selbstverständnis befragt (Huber 2010).

Ziemlich außergewöhnlich fand ich, dass Sie schon während Ihrer Studienzeit mit dem Unterrichten angefangen haben. Wollten Sie so schnell wie möglich Lehr-Erfahrung sammeln?

Ich habe alles Mögliche gemacht, habe auch als Bauzeichner gearbeitet. Die Lehrtätigkeiten waren relativ gut bezahlt und erlaubten mir das zu tun, wovor ich mich schrecklich fürchtete: zu unterrichten. Ich hatte Angst, mich vor Leute zu stellen. Die Lehrtätigkeiten haben mir geholfen, damit umzugehen. Es hatte also auch etwas Selbsttherapeutisches, und die Entlohnung war besser als beim Taxifahren.

Sie haben Ihre gesamte akademische Karriere in der Schweiz durchlaufen. Hatten Sie nie den Wunsch, für längere Zeit ins Ausland zu gehen?

Ich war ein Jahr in Freiburg, 1999/2000. Sonst ist der Grund einfach: Mein Ziel war es, teamorientiert zu forschen. Wir haben sehr früh eine Forschergruppe aufgebaut – ich hatte gerade den Doktortitel, aber das war es auch schon. Die Mitforscher waren noch am doktorieren. Wir haben aber wie verrückt im Forschungswettbewerb mitgemacht und Forschungsbereiche eingerichtet. Das hat mich zwangsläufig in der Schweiz gehalten.

Was genau sind Ihre Aufgaben als Professor?

Lehre, Forschung und Selbstverwaltung. Daneben ist die Finanzbeschaffung für die Forschung sicherlich die wichtigste Tätigkeit. Man muss wie verrückt Drittmittel akquirieren. Dazu muss man Vorträge halten und alle möglichen Akteure mit Daten bedienen, damit das Geld wieder neu kommt und die Forschungsziele erfüllt werden können. Wir sind 50 Mitarbeiter, davon 33 fortgeschrittene Studierende. Deshalb ist die Geldfrage eine beständige Sorge.

Können Sie Forschen, Lehren und Verwalten grob prozentual gewichten?

Ich bin ein Lehrer geworden, der für die Lehre sehr wenig Zeit braucht. 20 Prozent vielleicht. Selbstverwaltung zehn Prozent und Forschungsakquisition sicherlich 25 Prozent. Der Rest ist Forschung.

Würden Sie an diesem Verhältnis gerne etwas ändern?

Klar! Forschungsakquisition und Selbstverwaltung weg und nur noch Forschen. Lehren möchte ich weiterhin. Ich habe ja eine Doppelprofessur. Das ist manchmal schon recht schwierig.

Trifft die Gewichtung der Tätigkeiten auf beide Professuren gleichermaßen zu?

Ich vermeide es, diese Doppelprofessur als zwei Professuren zu sehen. Ich betrachte sie als Einheit. Meine primäre akademische Ausbildung ist die Historiografie. Dann kamen Soziologie und Philosophie und später noch die KW hinzu. Das kommunikationswissenschaftliche Denken hat mit meinen Forschungsinteressen zu tun. Die öffentliche Kommunikation ist der wichtigste Gegenstand, um den sozialen Wandel moderner Gesellschaften erfassen zu können. Ich bin also von außen in das Fach hineingewachsen.

Als Außenstehender könnte man denken, dass Sie erstens Professor für Publizistikwissenschaft, zweitens Professor für Soziologie und drittens fög-Chef sind.

Ja, aber das ist alles derselbe Hut!

Was unterscheidet den fög-Chef vom Professor?

Die Mitarbeiterbetreuung. Der Prozentsatz, den ich gerade für die Forschung genannt habe, ist ja sehr hoch. Mir ist auch wichtig, dass er hoch ist. In diesem Prozentsatz steckt aber natürlich auch die ganze Mitarbeiterbetreuung. Ich empfinde das als Bestandteil der Forschung: die Motivation, das Ausgestalten von Konzepten und die diversen menschlichen Probleme gehören zur Kommunikation des forschenden Lebens dazu.

Haben Sie einen Jour fixe?

Nein, die Tür ist immer offen.

Wie oft sind Sie im Büro?

Ich bemühe mich, dass ich vormittags zu Hause arbeiten kann. Nachmittags und abends bin ich im Institut.

Was heißt das konkret? Wann fangen Sie morgens an und wie lange arbeiten Sie durchschnittlich?

Lange. Ich bin ein Workaholic! Ich beginne mit dem Zeitungslesen um 7.30 Uhr. Das geht relativ lange, bis 8.30 oder 9 Uhr. Wir KW-Fritzen müssen ja Zeitung lesen (lacht). Dann beginne ich zu arbeiten. Mittags habe ich meistens eine Sitzung, bei der ich auch etwas essen kann. Gegen 12.15 Uhr gehe ich ins Institut, dann läuft der Nachmittag, und abends sind wieder Sitzungen oder Besprechungen. Das geht meistens bis 22 Uhr.

Und wie sieht es am Wochenende aus?

Da arbeite ich auch.

Urlaub?

Da arbeite ich auch.

Gibt es überhaupt Urlaub bei Ihnen?

Ja, das gibt es schon. Ich gehe weg, um meine Sprachkenntnisse zu verbessern, nehme aber immer Arbeit mit.

Haben Sie Familie?

Nein.

Kommen Sie manchmal an den Punkt, wo Sie nicht mehr arbeiten wollen?

Ja, doch. Wenn ich gegen 22.30 Uhr nach Hause komme, gucke ich einfach nur fern. Da bin ich erschöpft und möchte nicht unbedingt ein Buch lesen.

Sind Sie in Zürich „angekommen” oder gibt es ein nächstes großes Ziel?

Ich mache jetzt zuerst ein Sabbatical, und dann habe ich eine Einladung ans Wissenschaftskolleg. Da bin ich ein ganzes Jahr weg, was mir ein wenig Kummer bereitet. Aber ich wollte das. Ich halte es für richtig, mich auszuklinken. Ich möchte Dingen nachgehen, für die ich bisher keine Zeit hatte. Gleichzeitig mache ich mir aber Sorgen, ob das wirklich geht. Das ist typisch für einen Workaholic. Der Kerl hat das Gefühl, dass ohne ihn nichts mehr funktioniert. Ich sage meinen Mitarbeitern auch immer: Wenn ich mal 14 Tage weg bin, kann ich danach das Institut zusammenwischen! (lacht)

Was möchten Sie in dieser Zeit erforschen?

Zuerst werde ich an der Europäischen Universität in Florenz über Identitäts-Konstitutionen in der Moderne arbeiten. Das ist mir schon immer wichtig gewesen: Wie lässt sich die Ordnungseinheit der Moderne, der Nationalstaat, über die Zeit hinweg über Kommunikation beschreiben? Wie wird also über den Nationalstaat kommuniziert?

Und danach?

In Wien werde ich mich dann mit europäischen Öffentlichkeiten beschäftigen. Das hängt natürlich eng mit den Identitäts-Konstitutionen zusammen. Und am Wissenschaftskolleg werde ich mich mit der Figur des Intellektuellen in der Moderne beschäftigen. Unter anderem wird es um die Frage gehen, ob die Sozialfigur des Intellektuellen am Aussterben ist. Für die Moderne war diese Figur ja als moralische Kategorie sehr bedeutsam.

Was bedeuten Ihnen Ämter und Mitgliedschaften?

Ich bin ein Fan von Aufklärungssozietäten. Die Aufklärung selbst hat mich tief beeindruckt und damit auch die Aufklärungsgesellschaften und die Freimaurerei. Die Partizipation an wissenschaftlichen Gesellschaften ist einfach lehrreich. Es gibt natürlich auch die lästige Seite des Organisierens, aber man bleibt mit unterschiedlichen Expertenkulturen in Kontakt.

Wie unterscheiden sich die Schweizer und die deutsche Fachgesellschaft für Kommunikationswissenschaft?

In der Schweiz ist natürlich die Kleinheit förderlich, wobei das auch Probleme schafft. Bei der DGPuK lerne ich auch Leute kennen, die ich vorher noch nie gesehen habe, und ich lerne sehr viel über das komplexe Fach. In der Schweiz hat man natürlich seine Kästchen, in die man die Leute einordnet. Das ist komplexitätsreduzierend. Man weiß, wer Rezeptions-, Handyforschung und dergleichen betreibt.

Wie war Ihr erster Kontakt mit dem Fach?

In Zürich mochten mich die KWler nicht. Für sie war ich ein Soziologe, der in ihrem Gegenstandsbereich räubert. Es kam zu großen Spannungen. Die ließen mich nicht an sich ran. Ich habe dann das Mediensymposium in Luzern gemacht, weil ich fand, dass die Schweizer KWler viel zu wenig gute Kongresse machten. Zu der Zeit gab es nur von der Industrie bezahlte Kongresse mit Praktikern. Für mich war das eine mangelhafte Ausdifferenzierung einer Expertenkultur.

Hat Luzern geholfen?

Am Anfang nicht. Das Mediensymposium hat erstmal keinen Frieden gestiftet. Mit der Zeit wurde das aber akzeptiert und in die Schweizer Kommunikationswissenschaft einbezogen. Ich war lange Zeit skeptisch, weil die Fokussierung auf Medien eine unzulässige Begrenzung ist, wenn doch der Öffentlichkeits-Begriff auf der Straße liegt. Der Öffentlichkeits-Begriff ist der wichtigste Begriff der Moderne. Durch ihn kann man analysieren, wie sich Aufmerksamkeit konzentriert. Die Öffentlichkeit ist der Entdeckungszusammenhang moderner Gesellschaften.

Und heute? Fühlen Sie sich als Kommunikationswissenschaftler oder als Soziologe im KW-Gewand?

Mittlerweile bin ich da entspannt. Für mich ist die KW die innovativste Wissenschaft, weil sie eben keine klare Identität hat. Sie ist wie ein trockener Schwamm, der aus anderen Wissenschaften etwas aufsaugt. Gleichzeitig ist das natürlich ihre große Schwäche, da es kaum Standards für die Binnenkommunikation gibt. Die wechselseitige Kenntnisnahme ist relativ gering. Man nimmt eher Kenntnis von Forschungsergebnissen anderer Fächer. Das führt zu einer wenig ertragreichen Diskussionskultur. Es gibt zwei Seiten: die innovative Seite und die mangelhafte Ausbildung einer Expertenkultur. Irgendwie fühle ich mich dazu berufen, Standards zu vertreten. Ausgerechnet als Außenstehender, der erst spät dazu gestoßen ist.

Wen bilden Sie denn in Zürich aus, wenn Sie KW unterrichten?

Endlich mal die richtigen KWler! (lacht) KWler mit einem gesellschaftstheoretischen Grundlagenverständnis und einem historischen Überblick über die Moderne, wofür der Vergleich und die Zeitreihe als Forschungsinstrument eine wichtige Rolle spielen. Ich bilde also Sozialwissenschaftler aus.

Merken Sie sofort, ob ein Kommunikationswissenschaftler auch KW studiert hat?

Was schon sehr deutlich ist: Das Fach beschäftigt sich zu wenig mit den Klassikern der Sozialwissenschaften.

Dazu habe ich Ihren Vortrag in Erfurt im Oktober 2004 gehört.

Ich finde das erstaunlich, weil ja eigentlich jede Wissenschaft über ein gewisses Grundlagenverständnis verfügt. Das hat man normalerweise über die Klassiker. In anderen Fächern sind sich selbst zerstrittene Kollegen über die bedeutendsten Fachfiguren einig. Das schafft ein Grundlagenverständnis. In der KW gibt es das nicht. Das kann man natürlich historisch erklären: Das Fach wurde in den 1950er-Jahren amerikanisiert. Dadurch konnte man nicht mehr richtig an die Tradition der Zeitungswissenschaft anschließen. Wenn man genau hinblickt, geht die Zeitungswissenschaft ja auf Max Weber zurück (vgl. Kutsch 1988, Meyen/Löblich 2006: 145-159). Es ist fatal, dass man die wichtigsten Begrifflichkeiten nicht für sich erobert hat.

Jetzt gibt es immerhin „Die Klassiker der Kommunikationswissenschaft“ von Michael Meyen und Maria Löblich (2006).

Ja, genau. Das ist wirklich sehr löblich, im wahrsten Sinne des Wortes.

Wie ist es für Sie als Schweizer in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft?

Die Deutschen interessieren sich für die Schweiz, haben aber keine Ahnung von der Schweiz. Das ist das Problem. Während wir sehr gut über das politische System Deutschlands Bescheid wissen. Das ist auch ein Problem bei Vorträgen: Man muss als Vortragender aus der Schweiz sehr viel einbauen, was man nicht voraussetzen kann. Die Schweiz hat in Deutschland einfach nach wie vor einen exotischen Touch. Es ist natürlich historisch gewachsen, dass sich Deutschland sehr viel stärker als die Schweiz mit sich selbst beschäftigt.

Wie war es für Sie als Soziologe, mit den Methoden der Kommunikationswissenschaft umzugehen? Mussten Sie sich erst einmal einarbeiten?

Die Soziologie versteht sich ja als Mutter der Sozialwissenschaften. Zum Fachhabitus gehört ein großzügiger, paternalistischer Umgang mit den später geborenen Fächern wie der Politikwissenschaft oder der KW.

Haben Sie denn während des Studiums sozialwissenschaftliche Methoden erlernt?

Darum habe ich mich gedrückt. Mein Problem war immer, nicht akzeptiert zu werden. Für die Soziologen war ich Historiker. Ein dahergelaufener Historiker, der noch nicht einmal Statistik konnte. Aber ich habe Soziologie ja nur im Nebenfach studiert. Dafür musste man die ganzen quantitativen Methoden nicht lernen. Als Historiker habe ich aber natürlich die qualitativen Methoden gelernt. Dort fühle ich mich auch zu Hause.

Und die quantitativen Methoden?

Das war für mich eine Hilfswissenschaft und ist es auch immer geblieben. Meine große Rache war, dass ich die Klassiker der Soziologie besser kannte als die Soziologen. Im Übrigen hielt ich die Debatte über qualitative und quantitative Forschung schon immer für idiotisch. Die phänomenologisch-konstruktivistische Kritik an der positivistischen Forschung ist natürlich vollkommen berechtigt. Aber im Endeffekt braucht man beides: Damit man überhaupt zum Quantifizieren kommen kann, ist der qualitative Forschungszugang unausweichlich. Es darf nicht zur Verdummung von Teilbereichen des Fachs kommen. Man darf zum Beispiel die Cultural Studies nicht als rotes Tuch begreifen und sich in den Positivismus hineinflüchten, der auf der Resultatsebene oftmals gar nichts mehr hergibt. Bei der qualitativen Forschung muss man aufpassen, dass man nicht alles als qualitativen Zugang verkauft, was nicht quantitativ ist.

Ihre Dissertation war in der Soziologie angesiedelt.

Ja. Und meine Habilitation in Soziologie war eine historische KW-Arbeit. Und in Freiburg war ich Professor für Politikwissenschaft!

Wie kam es zu dieser Gastprofessur?

Die Freiburger haben mich bei einem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie entdeckt. Für mich war das spannend, weil die Politikwissenschaft in Freiburg sehr konservativ ist und sich stark an Carl Schmitt anlehnt. Damals war gerade die sozialwissenschaftliche Öffnung im Gange, und ich kam genau zur richtigen Zeit. Für mich war das auch persönlich wichtig, weil man in der Schweiz keine Karriere machen kann, bevor man vom Ausland entdeckt wurde.

Tritt man als Professor für Politikwissenschaft anders auf als ein Professor für KW?

Ja. Die KW gilt als Massenfach. Sie wird als PR-Studiengang wahrgenommen. Beliebig und mit bescheidener Außenreputation.

Man muss also legitimieren, dass die KW eine Wissenschaft ist?

Ja, genau. Das schlägt sich auch im Selbstverständnis der KWler nieder und ist ja zentraler Punkt der aktuellen Fachdiskussion. Die Politikwissenschaft hat sich von der Soziologie emanzipiert und tritt überarrogant auf. Sie versucht nun, sich ihre eigenen Klassiker zu erobern. Thomas Hobbes gehört nicht den Sozialwissenschaften, sondern den Politologen. Zumindest hätten sie das gerne. Natürlich gibt es innerhalb der Politikwissenschaft eine Ausdifferenzierung, aber trotzdem ist das Selbstverständnis relativ klar konturiert. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass das Fach dadurch für mich nicht so spannend war. Die Soziologie leidet an der Bindestrich-Zersplitterung. Sie trägt noch den alten Habitus einer Mutter mit sich und fühlt sich verpflichtet, die Grundlagentheorien zu pflegen. Aber von der Außenreputation steht die Soziologie nach wie vor am besten da.

Was könnte man tun, um das Image der KW zu verbessern?

Exakt die Meyen-Linie fahren (vgl. Meyen/Löblich 2006). Man muss sagen, dass wir eine Fachtradition haben. Oder anders gesagt, und das möchte ich positiv hervorheben: Meyen versucht, eine Fachtradition zu rekonstruieren oder zu konstruieren. Rekonstruieren lässt sich die Fachtradition ja gar nicht. Man muss sie konstruieren. Und das ist der richtige Pfad. Man kann es auch wissenschaftssoziologisch entschuldigen: Wir brauchen eine – wenngleich sekundär konstruierte – Fachtradition, um dem Fach einen Boden zu geben und den Fachvertretern zu Selbstbewusstsein zu verhelfen. Und nebenbei kann man ja noch von den Klassikern lernen. Eine positivistische Engführung des Fachs wäre der vollkommen falsche Pfad, der sich auch nicht durchsetzen würde.

Ich bin gespannt, zu welchen Ergebnissen der DGPuK-Selbstverständnis-Ausschuss kommt.

Nun ja, das ist wohl eher ein Totläufer.

Wird in Zürich versucht, die verschiedenen Ausrichtungen unter ein Dach zu bringen, oder arbeitet jeder als Einzelkämpfer vor sich hin?

Das war mein großer Kampf, aber ich habe ihn verloren. Das muss man ganz klar so hart sagen. Man hat nämlich dann doch unterschiedliche Lehrstühle für unterschiedliche Teilbereiche geschaffen, die jetzt eine Eigendynamik entwickeln und Mikro-Bereiche ihres Forschungsfelds untersuchen. Der Instituts-Begriff ist Schönfärberei! Obwohl wir auch zusammen forschen, aber das ist eine question of time.

Haben Sie Schüler oder Zöglinge?

Mitstreiter. Leute, mit denen ich schon länger zusammenarbeite. Das sind Historiker, Soziologen, Politik- und Publizistikwissenschaftler. Als Zöglinge würden die sich nie bezeichnen lassen.

Sind die Studierenden für Sie eher Last oder Lust?

Das hat sehr viel mit Last zu tun. Und da sich die Medienkommunikation stark expertisiert hat, bin ich in der Schweiz auch von den Medien sehr gefragt. Über die Experten bezieht man Quoten. Ich werde sehr stark durch die Medien belagert. Das hat eindeutig Nachteile. Ich hätte lieber mehr Ruhe.

Was treibt Sie in die Medien?

Natürlich das Geld. Ohne die Medienpräsenz hätte ich den fög finanziell nicht absichern können. Über die Medienpräsenz wurde der foeg sehr bekannt. Um es etwas derb auf den Punkt zu bringen: Das ist eine Prostitution zugunsten der Forschung. Es gibt natürlich noch einen zweiten Punkt: Als politischer Soziologe und KWler interessiert mich die Öffentlichkeit. Als Experte hat man die Möglichkeit, Statements abzugeben. Und der dritte Punkt ist, dass man am eigenen Leib Effekte studieren kann – bis hin zu dem Star-Moment. Teilweise wird versucht, eine Home-Story zu machen, was ich aber immer ablehne.

Die wollten wirklich zu Ihnen kommen?

Jaja! Zu mir, zum Universitätsprofessor, der zu wichtigen politischen Fragen Stellung nimmt und eine Intellektuellen-Funktion innehat.

Haben Sie schon mal schlechte Erfahrungen mit den Medien gemacht?

Ja, mit Porträts habe ich schon ganz schlechte Erfahrungen gemacht. Da ging es ganz klar nach Nachrichtenwerten. Es ist schon beunruhigend, wenn permanent Studierende zu meiner Person befragt werden. Es geht aber auch um Verfehlungen anderen Typus, es geht generell um Skandalisierungseffekte. In Porträts für Wochenzeitschriften wird eigentlich immer nur danach geschaut, wo das Leben des Prominenten nicht regelkonform ist.

Wie gehen die Kollegen mit Ihrer Medienpräsenz um?

Das ist schwierig, weil die über mich befragt werden. Die Universität ist ein unvollständiger Sozialverband: Wenn man Professor ist, kann man nicht mehr weiter aufsteigen. Man kann nur Reputation gewinnen. Folglich ist der Reputationswettstreit unter Professoren überdurchschnittlich groß. Dementsprechend haben die Kollegen ein schwieriges Verhältnis zu meiner Medienpräsenz. Ich entnehme anonymen Statements in Porträts, dass Kollegen sich an mir rächen wollen. Aber ich betrachte das dann wissenschaftssoziologisch. Ja, es hat Schattenseiten, man wird misstrauisch und man traut Freundschaften nicht mehr. Man muss aufpassen, dass man sich nicht zu sehr zurückzieht und sich zu sehr von den Kollegen abschottet.

Haben Sie schon Projekte abgelehnt, weil Sie diese nicht mit Ihrem wissenschaftlichen Ethos vereinbaren konnten?

Ja, das kann ich eindeutig sagen. Dieser Drittmittelfetischismus führt zu einer gefährlichen Nähe zur Wirtschaft. Bei uns haben wir deshalb eine Grundlagenethik entwickelt, die nicht überschritten werden darf.

Was heißt „bei uns“?

Meine Mitarbeiter und ich haben festgelegt, dass wir partikuläre Positionen auf keine Art und Weise unterstützen.

Sie sprechen jetzt vom fög?

Ja. Wir machen kein Marketing und keine Kommunikationsberatung, sondern nur Grundlagenanalysen. Das ist sehr schwierig, weil das für die Mitarbeiter natürlich ein Berufsfeld ist. Sie haben ja beim fög keine feste Position. Es gibt zwei Optionen: Entweder man bleibt in der Wissenschaft oder man geht in die Wirtschaft. Viele ehemalige Mitarbeiter sind jetzt Brückenköpfe in den Firmen, die Grundlagenwissen von uns wollen. Das hat etwas Inzestuöses, aber es ist eine sichere Finanzversorgung.

Habe ich das jetzt richtig verstanden: Die Doktoranden, die am fög arbeiten, dürfen in der freien Wirtschaft nichts dazu verdienen?

Genau, das ist bewilligungspflichtig. Die Reputation des fög hängt daran. Sobald wir uns nicht mehr als Grundlagenforschungsinstitut verstehen würden, sondern als Privatunternehmen, wären wir am falschen Platz. Gerade weil wir viele Mittel aus der Wirtschaft und aus staatlichen Behörden holen, müssen wir ganz besonders darauf achten, dass die wissenschaftlichen Reputationskriterien eingehalten werden. Aber das ist natürlich ein beständiger Kampf, weil die Mitarbeiter Kommunikationsberatung machen wollen, auf Geldsäcke zeigen und sagen: Da könnten wir wunderbar forschen.

Gibt es eine wissenschaftliche Arbeit, auf die Sie besonders stolz sind?

Da müsste ich genauer nachdenken. Grundsätzlich finde ich die Dinge, die ich gemacht habe, verbesserungsfähig. Ich habe noch nie etwas gemacht, bei dem ich gedacht habe: Wow, das ist jetzt die runde Kugel. Von daher hält sich der Stolz in Grenzen. Ich bin stolz darauf, dass ich mir grundlagentheoretische Fähigkeiten angeeignet habe. Und ich bin stolz auf den Zugang, Aufmerksamkeit in modernen Gesellschaften über Kommunikationsereignisse zu messen. Dieser Zugang gefällt mir. Daran habe ich Freude.

Was soll die KW mal über Sie sagen?

Das war unser Einstein!

Doch so bescheiden.

Ja, wenn man sich das so wünschen darf!

Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden?

Nein. Ich bin sehr selbstkritisch und nie mit mir zufrieden. Wahrscheinlich bin ich genau deshalb Workaholic. Wenn man so viel arbeitet, sind die Freundschaften im Arbeitsnetzwerk verankert. Es ist ein problematisches Leben, weil eine Komplexitätsreduktion nicht möglich ist – die strikte Trennung von Privatem und Beruf. Eruptionen schlagen deshalb voll durch. Für die Partnerinnen in meinem Leben war es schwierig, mich auszuhalten. Privat ist es eher schwierig. Die Kinderfrage war immer zentral. Lange war ich ökonomisch nicht in der Lage, eine Familie zu gründen. Eigentlich wollte ich das auch gar nicht. Der bürgerlichen Intimsphäre stand ich immer skeptisch gegenüber. Heute finde ich das durchaus erstrebenwert. Ich habe meinen Frieden mit der Familie gefunden.

Was ist Ihnen wichtig im Leben?

Der Austausch mit Leuten, die dieselben Interessen haben, und das Entwickeln von Ideen. Die Leidenschaft der Gefühle sollte mit der Leidenschaft des Denkens deckungsgleich sein. Das ist mein Jungknaben-Traum!

Wenn Sie zum Schluss einen Wunsch frei hätten?

Ich möchte, dass meine Mitarbeiter auch Professoren werden. Das macht mir wirklich Sorgen. Die Forschung ist eine äußerst ungewisse Angelegenheit. Wenn dazu noch die Arbeitsstelle ungewiss ist, ist es natürlich besonders schwer.

Wie viele Doktoranden haben Sie denn?

Zehn. Das Zweite ist: Die Mitarbeiter, die gerade ihren Doktortitel erworben haben, sind jetzt in einem Alter, in dem sie sich ernsthaft Gedanken über ihre Zukunft machen müssen. Und das macht mir auch Sorgen. Wenn ich ein Adliger wäre, würde ich sie zum Ritter schlagen!

Literaturangaben

  • Roger Blum: Kurt Imhof. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.
  • Nathalie Huber: Kommunikationswissenschaft als Beruf. Zum Selbstverständnis von Professoren des Faches im deutschsprachigen Raum. Köln: Herbert von Halem 2010.
  • Kurt Imhof/Gaetano Romano: Diskontinuität der Moderne. Zur Theorie des sozialen Wandels. Frankfurt am Main: Campus 1996.
  • Arnulf Kutsch: Max Webers Anregung zur empirischen Journalismusforschung. Die „Zeitungs-Enquête“ und eine Redakteurs-Umfrage. In: Publizistik 33. Jg. (1988), S. 5-31.
  • Michael Meyen/Maria Löblich: Klassiker der Kommunikationswissenschaft. Fach- und Theoriegeschichte in Deutschland. Konstanz: UVK 2006.

Weiterführende Literatur

  • Roger Blum: Kurt Imhof. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.
  • Edzard Schade (Hrsg.): Publizistikwissenschaft und öffentliche Kommunikation. Beiträge zur Reflexion der Fachgeschichte. Konstanz: UVK 2005.

Empfohlene Zitierweise

    Kurt Imhof: Öffentlichkeit ist der wichtigste Begriff der Moderne. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2017. http://blexkom.halemverlag.de/imhof-interview/ ‎(Datum des Zugriffs).