Harry Pross (Foto: Rüdiger Scheidges)
Harry Pross (Foto: Rüdiger Scheidges)

Harry Pross

2. September 1923 bis 11. März 2010

Lexikoneintrag von Wolfgang R. Langenbucher am 29. Oktober 2014

Harry Pross wurde als Seiteneinsteiger nach einer Karriere als Journalist und Schriftsteller 1968 nach Berlin berufen. Seine Wirkung resultierte nicht aus Beiträgen zur damals entstehenden empirischen Forschung, sondern aus dem Reichtum eines der geistes- und sozialwissenschaftlichen Tradition verpflichteten öffentlichen Intellektuellen.

Stationen

Geboren in Karlsruhe. Vater Fabrikdirektor. Im September 1939 Freiwilliger für die Wehrmacht, aber erst 1942 eingezogen. Verwundungen und Lazarettaufenthalte, 1945 Entlassung nach Heidelberg. Dort Studium (Soziologie, Staatslehre, Psychologie, Neueste Geschichte). 1949 Promotion bei Alfred Weber. Karriere im Journalismus (Ost-Probleme, Haagse Post, Deutsche Rundschau, Neue Rundschau) und als Publizist. 1963 Chefredakteur von Radio Bremen. 1968 Lehrstuhl für Publizistik an der Freien Universität Berlin. 1983 Emeritierung. Gestorben in Weiler im Allgäu. Viermal verheiratet, keine Kinder.

Publikationen

  • Nationale und soziale Prinzipien der Bündischen Jugend. Heidelberg 1949 (Dissertation).
  • Literatur und Politik. Geschichte und Programme der politisch-literarischen Zeitschriften im deutschen Sprachgebiet seit 1870. Olten: Walter 1963.
  • Moral der Massenmedien. Prolegomena zu einer Theorie der Publizistik. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1967.
  • Die meisten Nachrichten sind falsch. Stuttgart: Kohlhammer 1971.
  • Rituale der Massenkommunikation. Gänge durch den Medienalltag. Berlin: Guttandin & Hoppe 1983. Mit Claus-Dieter Rath.
  • Memoiren eines Inländers. 1923-1993. München: Artemis & Winkler.
  • Zeitungsreport. Deutsche Presse im 20. Jahrhundert. Weimar: Böhlau 2000.
Harry Pross zu Beginn des Studiums in Heidelberg 1946 (Quelle: Nachlass Harry Pross)

Harry Pross zu Beginn des Studiums in Heidelberg 1946 (Quelle: Nachlass Harry Pross)

Harry Pross wurde am 2. September 1923 als erster Sohn des Direktors Fritz Pross der Tubenfabrik Richter im Karlsruher Rheinhafen und seiner Frau Ella geboren. Als Vorname steht in den amtlichen Papieren Harald, da der Standesbeamte Harry als undeutsch ablehnte. Wegen eines kindlichen Bronchialleidens wuchs der Junge in einer ländlichen Umgebung in der Nähe auf und kam erst mit dem Besuch des Gymnasiums nach Karlsruhe zurück. Als die Nationalsozialisten die Macht ergriffen, war er zehn Jahre alt, meldete sich als 18-Jähriger freiwillig zur Wehrmacht und wurde im Januar 1942 eingezogen. Die Kriegsereignisse führten ihn durch halb Europa, schwer verwundet in mehrere Lazarette und mit Kriegsende nach Heidelberg. Dort begann er im November 1945 ein Studium der Sozialwissenschaften; seine Lehrer waren das an dieser traditionsreichen Universität versammelte, bemerkenswerte Ensemble einer deutschen Gelehrtengeneration, die alle Barbarei überstanden hatte und nun für einen Neubeginn aus den Trümmern standen: Alfred Weber (1868 bis 1958), Gustav Radbruch (1887 bis 1949), Viktor von Weizsäcker (1886 bis 1957) Walter Jellinek (1885 bis 1955) und Hans von Eckhardt (1890 bis 1957, 1933 aus seinem Institut für Zeitungswesen entfernt und 1946 zurückgekehrt). Einer jüngeren Generation gehörten Alexander Mitscherlich (1908 bis 1982) und Dolf Sternberger (1907 bis 1989) an.

Auch ohne eingehendere Analysen des intellektuellen Weges, den Harry Pross mit seinem reichen Werk dann nach dem Abschluss seines Studiums über Jahrzehnte gegangen ist, lässt sich konstatieren, dass er zu einem der inspiriertesten Vermittler zwischen diesem alteuropäischen Geist Heidelbergs und der langsam heranreifenden und sich in Jahrzehnten endlich konsolidierenden Demokratie Nachkriegsdeutschlands geworden ist. Zu seiner Biografie gehört deshalb auch, dass er studentischer Beobachter bei den Nürnberger Prozessen war, an dem berühmten „Kongress für kulturelle Freiheit“ in Berlin teil nahm, sich gewerkschaftlich engagierte und 1952 zu einem einjährigen Fellowship for Advanced Studies in die USA eingeladen wurde. Noch während des Studiums begann er in Zeitungen und vor allem beim Hörfunk zu publizieren, der bei so ziemlich allen Landesrundfunkanstalten der späteren ARD über ein halbes Jahrhundert seine journalistische Heimat wurde (davon zeugt auch eine bei diesem flüchtigen Medium kaum erstellbare, 70-seitige Radio-Bibliografie Harry Pross).

Schon der Amerikaaufenthalt war eine Rückkehr in die akademische Welt. 1954 wurde Pross Assistent in Wilhelmshaven bei dem Soziologen Max Graf zu Solms-Rödelheim, aber schon nach zwei Jahren gab er diese Stelle wieder auf und wurde Redakteur der Deutschen Rundschau, die in Stuttgart von Rudolf Pechel (1882 bis 1961) herausgegeben wurde. In dieser Zeit begann mit der Herausgabe des Bandes Außenpolitik in der Reihe Das Fischer-Lexikon (vgl. Mann/Pross 1958) auch die eindrucksvolle Buchproduktion, die Harry Pross zu einem der führenden Publizisten der Epoche machten. Immer wieder stellte er dabei die Frage nach den Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte; einflussreich und bestsellerträchtig waren etwa zwei Fischer Taschenbücher mit kommentierten Dokumenten zur deutschen Politik (vgl. Pross 1959, 1963). Ohne einen – damals noch gar nicht zur Debatte stehenden – methodischen Anspruch zu erheben, lesen sich diese Dokumentationen heute wie Materialsammlungen zu einer Geschichte der gesellschaftlichen Kommunikation.

Harry Pross (links) mit Hans Abich in Prag 1964 (Quelle: Nachlass Harry Pross)

Harry Pross (links) mit Hans Abich in Prag 1964 (Quelle: Nachlass Harry Pross)

Seine akademische Laufbahn nimmt er 1961 wieder auf mit einer Dozentur für Information und Politik an der Hochschule für Gestaltung (Ulm) und einer Einladung an die Freie Universität Berlin. Eines der Vorlesungsthemen lautet „Kultursoziologie der Massenmedien“ und deutet damit voraus auf seine spätere, nun im Kern kommunikationswissenschaftliche Karriere. Vorher aber war er noch fünf Jahre Chefredakteur von Radio Bremen. Von dort aus nahm er 1968 den Ruf auf den Lehrstuhl für Publizistik der Freien Universität Berlin an, den er bis zum Sommersemester 1983 inne hatte. Für einen weltläufigen Intellektuellen waren gerade diese Jahre alles andere als einfach: „Auf den Institutsstühlen klebte eine geschlossene Gesellschaft ernsthafter Inländer“ (Pross 1993: 324). Von Pross konzipierte Studienreformen scheiterten am Dogmatismus der organisierten, zerstrittenen studentischen Vertreter und an der Ignoranz der Politik. Gasttätigkeiten führten ihn in dieser Zeit unter anderem an Universitäten in Spanien. An seinem Wohnort Weiler im Allgäu begründete er als Emeritus die Internationalen Kornhaus-Seminare und leitete sie zehn Jahre. Viele der Themen waren fachnah und brachten prominente Gäste in diese Allgäuer Idylle. Schließlich beteiligte er sich noch einige Jahre an der privaten Journalistenschule St. Gallen und betrieb ansonsten weiter eine – wie er zu sagen pflegte – gut gehende kleine Schreibwerkstatt auf dem von Büchern überquellenden Dachboden das Bauernhauses, das er 1960 erworben hatte. Dort entstanden auch seine Memoiren eines Inländers 1923–1993 (Pross 1993); das Kapitel Lehren 1968–1983 ist erhellende Einsicht in die Geschichte des Faches Publizistik- und Kommunikationswissenschaft.

Harry Pross war viermal verheiratet: mit Helge Nyssen (1927 bis 1984), Heddy Weerth (1917 bis 2004), Dr. Christa Dericum (Jahrgang 1932) und Marianne Katz. Er hatte keine eigenen Kinder, nennt aber in einer Buchwidmung „der Zukunft unserer Kinder“ folgende Namen: Warja, Nikolaus, Steffen, Detlev, Roland, Michael, Caroline (Pross 1993: 5).

Harry Pross am Schreibtisch in Weissen, Winter 1978/79 (Foto: privat)

Harry Pross am Schreibtisch in Weissen, Winter 1978/79 (Foto: privat)

Harry Pross hat durch seine vielfältigen, unterschiedlichen Tätigkeiten eine – man darf wohl sagen – beispiellose Fülle von journalistischen, editorischen, schriftstellerischen und wissenschaftlichen Arbeiten hinterlassen. Dank der Arbeiten an seinem Nachlass durch Marianne Pross und Christian Weischer ist dieses Material schon jetzt vorbildlich erschossen und auf einer – übrigens ungewöhnlich originellen, sachadäquaten – Webseite öffentlich zugänglich. Nur ein Teil dieser Veröffentlichungen gehört in den Kanon des Faches Kommunikationswissenschaft. Wie wichtig Harry Pross diese Zugehörigkeit aber war, kann man in seinem Beitrag für das erste Sonderheft der Publizistik nachlesen (Kommunikationswissenschaft – autobiographisch). Einerseits sah er darin eher einen Zufall, weil es auch Interesse der Fächer Sozialpsychologie und Politologie gab, letztlich dann aber der Praxisbezug entschied: „Schreiben war mein Beruf“ (Pross 1997: 120) Dabei mögen auch Einflüsse aus seinem Amerikaaufenthalt mitgewirkt haben, wo er der amerikanischen Propagandaforschung begegnete. Auch erinnert er sich an das Studium bei Hans von Eckardt, der ihm „Student und Journalist zu sein“ zur aufregenden Sache machte (Pross 1993: 155). Das Erscheinen seines Buches Moral der Massenmedien 1967 wurde so – obwohl ausdrücklich für eine „breite Leserschaft“ gedacht und ediert in dem Publikumsverlag Kiepenheuer & Witsch – zur vielversprechenden Eintrittskarte in das Fach (vgl. Pross 1967). Der Untertitel ließ an diesem Anspruch auch keinen Zweifel: „Prolegomena zu einer Theorie der Publizistik“. Was dem einschlägig schon vorausgegangen war und nun mit der Berliner Professur folgte, dokumentiert – „in Entwicklungssträngen geordnet“ – ein achtseitiger bibliographische Anhang zu dem autobiografischen Text (Pross 1997).

Dort resümiert er seine Berliner Zeit einerseits resigniert, weil es ihn „unersetzliche Lebenszeit gekostet“ habe, unter den „ideologisch verzerrten Arbeitsbedingungen“ der FU den Praxisbezug des Studiums zu stärken, aber andererseits doch zufrieden über viele seiner Absolventen und mit der Überzeugung, „einiges für den Zeichenbegriff in der deutschen Publizistikwissenschaft … und etliches für die Medienfreiheit getan“ zu haben (Pross 1997: 129).

Harry Pross (Foto: Stefan Kresin)

Harry Pross (Foto: Stefan Kresin)

Wie elementar seine Stellung im Fach gleichwohl geworden ist, mag man daran ablesen, dass die von ihm eingeführte Terminologie von den „primären, sekundären, tertiären“ Medien so gängig geworden ist, dass sie seit langem meist ohne Quellenangabe verwendet wird. In der Rückschau erscheint sein Werk, zu dem auch das wissenschaftliche gehört, nicht zuletzt als ein Teil der mühsamen Lerngeschichte des Journalismus von der autoritären Deklamation zur demokratischen Dialogbereitschaft mit dem Gegenüber. Auch war damals seine realitätsnahe Sicht der Populärkultur noch keineswegs gängig, sondern eher pharisäerhafte und elitäre Verachtung. Aus seiner dichten Folge von – oft essayistisch verknappten – Fachveröffentlichungen lässt sich auch Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen noch lernen, wie wissenschaftliches Denken und Schreiben einer esoterischen Einengung zu entgehen vermag. So bleibt jede Lektüre seiner Texte ein bleibender Gewinn ob der stupenden Bildung, die in sie Eingang fand; Pross war kein gelernter Historiker, aber es gibt kein Thema, das er nicht auch kommunikationshistorisch zu kontextualisieren verstand. Allein seine Kunst der Titelfindung ist bewundernswert: Die meisten Nachrichten sind falsch (Pross 1971a), Söhne der Kassandra (Pross 1971b), Rituale der Massenkommunikation (Pross/Rath 1983). Wer sich Jahre nach seinem Tod wieder einmal in sein Werk vertieft, gerade auch in seine späten Bücher wie den Zeitungsreport (Pross 2000) oder seine Memoiren (Pross 1993), der begegnet dem Lebenswerk eines Intellektuellen, Schriftstellers und Wissenschaftlers, dessen Anregungspotential für eine Kommunikationswissenschaft, die nicht nur in Fachzeitschriften stattfindet, noch lange nicht ausgeschöpft ist. Dieses, sein ganz besonderes Vermächtnis an die in den letzten Jahr so groß gewordene – und von so ganz anderer Herkunft als er – jüngere Kollegenschaft lautete lapidar: „Die weitverbreitete Freude an Fachterminologien konnte ich nicht teilen. Sie schätzt den Kode höher als die bezeichneten Inhalte“ (Pross 1997: 125).

Literaturangaben

  • Golo Mann,Harry Pross: Das Fischer-Lexikon Außenpolitik. Frankfurt/Main: Fischer 1958.
  • Harry Pross (Hrsg.): Die Zerstörung der deutschen Politik. Dokumente 1871–1933. Frankfurt/Main: Fischer 1959.
  • Harry Pross (Hrsg.): Deutsche Politik 1803–1870. Materialien und Dokumente. Frankfurt/Main: Fischer 1963.
  • Harry Pross: Moral der Massenmedien. Prolegomena zu einer Theorie der Publizistik. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1967.
  • Harry Pross: Memoiren eines Inländers. 1923–1993. München: Artemis & Winkler 1993.
  • Harry Pross: Kommunikationstheorie für die Praxis. In: Arnulf Kutsch/Horst Pöttker (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997 (= Publizistik, Sonderheft 1), S. 120–138.
  • Harry Pross: Zeitungsreport. Deutsche Presse im 20. Jahrhundert, Verlag Hermann Böhlau, Weimer 2000

Weiterführende Literatur

  • Hanno Beth (Hg.): Feder-Lese. Publizistik zwischen Distanz und Engagement. Harry Pross zum 60. Geburtstag. Berlin: Clemens Zerling 1983.
  • Christian Weischer (Hrsg.): Dialoge. Zehn Jahre Kornhaus-Seminar. Festschrift für Harry Pross zum 70. München: Lagrev 1993.

Weblinks

Empfohlene Zitierweise

      Wolfgang R. Langenbucher: Harry Pross. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2014. http://blexkom.halemverlag.de/harry-pross/ (Datum des Zugriffs).