Hans Wagner

11. Januar 1937

Lexikoneintrag von Philomen Schönhagen am 26. Februar 2016

Anlässlich seiner Emeritierung im Jahr 2002 zitierte Hans Wagner ein chinesisches Sprichwort, wonach derjenige, der nicht gegen den Strom schwimmt, niemals an die Quelle kommt. Große Teile seines wissenschaftlichen Wirkens hat er damit selbst treffend charakterisiert.

Stationen

Geboren in Nesselwang (Allgäu) als ältestes von sieben Kindern; Vater Braumeister. Volksschule in Nesselwang, katholisches Internat, humanistisches Gymnasium in Dillingen. 1954 Studium der Philosophie und Theologie an der Hochschule in Dillingen, 1955 Wechsel an die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Dort nach einem Intermezzo in Zahnmedizin ab 1957 Studium der Philosophie, Psychologie und Zeitungswissenschaft, Nebentätigkeit als freier Journalist. 1965 Promotion (Die faktische Ordnung der sozialen Kommunikation. Versuch einer Systematisierung der Zeitungswissenschaft) bei Hanns Braun und Otto B. Roegele. 1962 bis 1966 Aufbau und Leitung der Presse- und Informationsstelle des Erzbischöflichen Ordinariats München. Ab 1966 wissenschaftlicher Assistent am Münchner Institut für Kommunikationswissenschaft (Zeitungswissenschaft). 1967/68 Lehrstuhlvertretung an der Universität Salzburg. Seit 1971 Mitglied des Lehrkörpers der Hochschule für Politik in München. 1975 Habilitation (Die Partner der Massenkommunikation. Zeitungswissenschaftliche Theorie der Massenkommunikation, 2 Bände) an der Philosophischen Fakultät I der LMU. 1975 Privatdozent und Wissenschaftlicher Rat, 1980 Professor am Münchner Institut. 1990 bis 1996 Prodekan, 1996 bis 2001 Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der LMU. 2002 Emeritierung. Seit 1993 und bis heute Herausgeber der Klassiker-Reihe „ex libris kommunikation“ im Nomos-Verlag mit inzwischen 17 Bänden.

Publikationen

  • Das Ende der katholischen Presse. 3 Bde. Aschaffenburg: Paul Pattloch 1974.
  • Vermittlungsverfassung in der Massenkommunikation. In: Publizistik 22 Jg. (1977), S. 5-13.
  • Kommunikation und Gesellschaft. 2 Bde. München: Olzog 1978.
  • Das Pharmabild in Printmedien. Eine VIA-Studie. München: Deutsche Zeitungswissenschaftliche Vereinigung 1984.
  • KommunikationsWissenschaft (ZeitungsWissenschaft). Das Fach, das Studium, die Methoden. München/Mühlheim: Publicom 1987 (mit Heinz Starkulla jr., 2. Aufl. 1989).
  • Enzyklopädie der Bayerischen Tagespresse. München: Franz Rehm 1990 (herausgegeben mit Ursula E. Koch und Patricia Schmidt-Fischbach).
  • Medien-Tabus und Kommunikationsverbote. Die manipulierbare Wirklichkeit. München: Olzog 1991.
  • Von der Lust, in andere Welten zu wandern. Unterhaltung – Sozialer Unterhalt. In: Louis Bosshart/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.): Medienlust und Mediennutz: Unterhaltung als öffentliche Kommunikation. München: Ölschläger 1994, S. 126-143.
  • Journalismus I: Auftrag. Gesammelte Beiträge zur Journalismustheorie. Erlangen: Junge & Sohn 1995.
  • Erfolgreich Kommunikationswissenschaft (Zeitungswissenschaft) studieren. Einführung in das Fach und das Studium. München: Reinhard Fischer 1997.
  • Verstehende Methoden in der Kommunikationswissenschaft. München: Reinhard Fischer 1999. (mit Ute Nawratil, Philomen Schönhagen und Heinz Starkulla jr., letzte Neuauflage 2009 im Nomos-Verlag).
  • Journalismus mit beschränkter Haftung? Gesammelte Beiträge zur Journalismus- und Medienkritik. München: Reinhard Fischer 2003.

Hans Wagner, gezeichnet auf einer Exkursion nach Frankreich von dem französischen Karikaturisten Pereira (Quelle: Privatarchiv Philomen Schönhagen)

Hans Wagner ist sicher das, was man einen Wissenschaftler „mit Herz und Seele“ nennen kann (Nawratil/Schönhagen 2002: 222), und ein „streitbarer“ (Glotz 1997: 230) dazu. Bekannt geworden ist er vor allem mit einem Theorieansatz zu gesellschaftlicher Kommunikation und Journalismus, meist als „zeitungswissenschaftlicher Ansatz“ (Pürer 2014: 41), „Münchner Schule“ (Burkart 1998: 169, Glotz 1990: 252) oder auch „Theorie der sozialen Zeitkommunikation“ (Beck 2015: 139) bezeichnet. Mit diesem stellte sich Hans Wagner in Opposition zum wissenschaftlichen Mainstream der Zeit, was zu zahlreichen Auseinandersetzungen und Anfeindungen, bis hin zu juristischen Scharmützeln führte (vgl. Wagner 2007: 183). Aus heutiger Sicht ist dies nur noch bedingt nachvollziehbar, zumal der damals stark kritisierte Begriff der Vermittlung, der für diesen Ansatz zentral ist, mittlerweile auch von anderen Autoren wieder ganz selbstverständlich verwendet wird (vgl. etwa Jarren 2000; Neuberger 2008, 2014). Peter Glotz war bereits früh (1990: 254) der Ansicht, dass sich der Wagner’sche Ansatz „als überaus praktisch“ erweise – und das sei „das Beste, was man über eine wissenschaftliche Perspektive sagen kann“, da hier der gesamte gesellschaftliche Kommunikationsprozess verfolgt werde.

Kommunikation und Gesellschaft, Bd. 1 (Wagner 1978)

Wagners theoretische Grundlagenarbeit wird in jüngster Zeit sachlich präziser als „Vermittlungstheoretischer Ansatz“ (VTA) bzw. „Mediated Social Communication Approach“ (MSC) erneut aufgegriffen (vgl. Fürst et al. 2014, 2015). Zentral ist darin der Gedanke, dass Massenkommunikation im Wesentlichen den vom Journalismus vermittelten gesellschaftlichen Diskurs darstellt. Dieser vollzieht sich zwischen gesellschaftlichen Kommunikationspartnern, die zumeist Kollektive repräsentieren. Die Massenmedien bieten diesem Austausch ein Forum bzw. diverse Foren, wobei die journalistische Vermittlung keineswegs als passiver Transport zu verstehen ist – eines der vielen Missverständnisse, die sich häufig in der Rezeption des Ansatzes finden (vgl. Eichhorn 2004: 147). Vielmehr greifen die Journalisten mit der Selektion der von ihnen vermittelten Kommunikationspartner und deren Aussagen, ebenso wie mit der je mediengerechten Transformation der letzteren, erheblich in den Diskurs ein und bestimmen so dessen Verlauf wesentlich mit. Wie dies genau geschieht, also welche gesellschaftlichen „Aussageträger“ (Wagner 2012: 186) in diesem journalistisch vermittelten Diskurs wie zu Wort und mit wem ins Gespräch kommen, das war und ist eine der zentralen Fragen in Hans Wagners wissenschaftlichem Werk. Seine theoretischen Beiträge stehen dabei in engem Zusammenhang mit Überlegungen und Analysen zur Kommunikationsgeschichte und sie sind geprägt durch Vorarbeiten von Otto Groth, Karl d’Ester und Bernd Maria Aswerus sowie von soziologischen Klassikern wie Albert E. F. Schäffle und Alfred Schütz.

Hans Wagner, 1996 bis 2001 Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der LMU München (Quelle: Privatarchiv Philomen Schönhagen)

Zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat Hans Wagner auch eine eigene inhaltsanalytische Herangehensweise entwickelt, dazu aber leider kaum veröffentlicht (vgl. Wagner 2007: 179; 1984). Ähnliches gilt auch für andere seiner Arbeiten – eine durchdachte Publikationsstrategie war eines der wenigen Dinge, mit denen er sich als Wissenschaftler nicht beschäftigt hat (vgl. Wagner 2007: 179). In der Sache dagegen weist sein Werk ein außerordentlich breites thematisches Spektrum auf, das von Fernkursen für Pfarrblattredakteure (vgl. Nawratil/Schönhagen 2002: 223) über die heute sogenannte Gesundheitskommunikation (vgl. exemplarisch Wagner 1984) bis hin zu Medienunterhaltung (Wagner 1994) und Moderationsstilen im Hörfunk (Schröter/Wagner 1992) reicht. Bemerkenswert ist auch, dass sich Wagner als Lehrer über das übliche Maß hinaus engagiert hat. Bei starkem Andrang auf seine Seminare bot er kurzerhand zusätzliche an. Er war für ausgiebige Sprechstunden bekannt, in denen er sich so viel Zeit nahm, bis wirklich alle Fragen geklärt waren. Zudem sorgte er mit zahlreichen Exkursionen für die Verbindung von Theorie und Praxis im Studium (vgl. Nawratil/Schönhagen 2002: 224).

Literaturangaben

  • Klaus Beck: Kommunikationswissenschaft. 4. Aufl. Konstanz: UVK 2015.
  • Roland Burkart: Von verständigungsorientierter Öffentlichkeitsarbeit zum diskursiven Journalismus. In: Wolfgang Duchkowitsch/Fritz Hausjell/Walter Hömberg/Arnulf Kutsch/Irene Neverla (Hrsg.): Journalismus als Kultur: Analysen und Essays. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 163-172.
  • Wolfgang Eichhorn: Vermittlung sozialer Kommunikation. Anmerkungen zur Theorie der Zeitungswissenschaft. In: Michael Meyen/Maria Löblich (Hrsg.): 80 Jahre Zeitungs- und Kommunikationswissenschaft in München. Bausteine zu einer Institutsgeschichte. Köln: Herbert von Halem 2004, S. 141-154.
  • Silke Fürst/Stefan Bosshart/Philomen Schönhagen: Journalismus & Demokratie: Eine unzertrennbare Allianz? In: European Journalism Observatory (EJO), 17.9.2014.
  • Silke Fürst/Philomen Schönhagen/Stefan Bosshart: Mass Communication Is More Than A One-Way Street: On the Persistent Function and Relevance of Journalism. In: Javnost – The Public 22. Jg. (2015), S. 328-344.
  • Peter Glotz: Von der Zeitungs- über die Publizistik- zur Kommunikationswissenschaft. In: Publizistik 35. Jg. (1990), S. 249-256.
  • Peter Glotz: Hans Wagner sechzig. In: Publizistik 42. Jg. (1997), S. 230-231.
  • Otfried Jarren: Gesellschaftliche Integration durch Medien? Zur Begründung normativer Anforderungen an Medien. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 48. Jg. (2000), S. 22-41.
  • Ute Nawratil/Philomen Schönhagen: Die „Lokomotive d’Ester“ qualmt unermüdlich … Zum 65. Geburtstag von Hans Wagner. In: Publizistik 47. Jg. (2002), S. 222-224.
  • Christoph Neuberger: Internet und Journalismusforschung. Theoretische Neujustierung und Forschungsagenda. In: Thorsten Quandt/Wolfgang Schweiger (Hrsg.): Journalismus online – Partizipation oder Profession? Wiesbaden: VS Verlag 2008, S. 17-42.
  • Christoph Neuberger: Konflikt, Konkurrenz und Kooperation. Interaktionsmodi in einer Theorie der dynamischen Netzwerköffentlichkeit. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 62. Jg. (2014), S. 567-587.
  • Heinz Pürer: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. 2. Aufl. München: UVK 2014.
  • Detlef Schröter/Hans Wagner: Hörfunkmoderation: Muster und Stile. Werkstattbericht aus der Programmanalyse von fünf privaten Münchner Hörfunksendern. In: Rundfunk und Fernsehen 40. Jg. (1992), S. 107-131.
  • Hans Wagner: Kommunikation und Gesellschaft 1: Einführung in die Zeitungswissenschaft. München: Olzog 1978.
  • Hans Wagner: Minderheit ohne Minderwertigkeit. In: Michael Meyen/Maria Löblich: „Ich habe dieses Fach erfunden“. Wie die Kommunikationswissenschaft an die deutschsprachigen Universitäten kam. 19 biografische Interviews. Köln: Herbert von Halem 2007, S. 167-192.
  • Hans Wagner: Das Fachstichwort: Objektivität im Journalismus. In: Ders. (Hrsg.): Objektivität im Journalismus. Mit Beiträgen von Ulrich Saxer, Philomen Schönhagen, Detlef Schröter. Baden-Baden: Nomos 2012, S. 175-354.

Weiterführende Literatur

  • Stefanie Averbeck-Lietz: Kommunikationstheorien in Frankreich. Der epistemologische Diskurs der Sciences de l’information et de la communication (SIC) 1975 – 2005. Berlin: Avinus 2010 (Kap. 2. F.d.: Exkurs: Soziale Kommunikation in der Münchner Zeitungswissenschaft, S. 325ff.).
  • Ute Nawratil/Philomen Schönhagen/Heinz Starkulla jr. (Hrsg.): Medien und Mittler sozialer Kommunikation. Beiträge zu Theorie, Geschichte und Kritik von Journalismus und Publizistik. Festschrift für Hans Wagner. Leipzig: Universitätsverlag 2002.
  • Philomen Schönhagen: Soziale Kommunikation im Internet. Zur Theorie und Systematik computervermittelter Kommunikation vor dem Hintergrund der Kommunikationsgeschichte. Bern: Peter Lang 2004 (Kap. 4: Die Münchner Theorie der sozialen Zeit-Kommunikation, S. 109ff.).

Weblinks

Hans Wagner, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, LMU München
Wikipedia-Eintrag

Empfohlene Zitierweise

Philomen Schönhagen: Hans Wagner. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2016. http://blexkom.halemverlag.de/hans-wagner/ (Datum des Zugriffs).