Ulrich Saxer (Foto: privat)
Ulrich Saxer (Foto: privat)

Ich habe dieses Fach erfunden

Veröffentlicht am 21. August 2014

Ulrich Saxer ist der Vater der Publizistikwissenschaft in Zürich. Rund zwei Jahre nach seinem Tod veröffentlicht BLexKom ein Gespräch, das Michael Meyen und Maria Löblich 2006 in München geführt haben (vgl. Meyen/Löblich 2007: 59-75).

Stationen

Geboren in Küsnacht (Zürich). Vater Professor für Mathematik. Ab 1949 Studium in Zürich (Germanistik, Anglistik). 1957 Promotion in Germanistik (Doktorvater: Emil Staiger). Gesangsausbildung. Gymnasiallehrer. Mitarbeit bei Radio Zürich, der Neuen Zürcher Zeitung undCommunicatio Socialis. Selbststudium der Publizistikwissenschaft. 1965 Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds. 1966 Lehrauftrag am Journalistischen Seminar der Universität Zürich. 1969 bis 1970 Gastdozentur für Kunstsoziologie in Uppsala. 1970 Habilitation an der Philosophischen Fakultät I in Zürich (Publizistische Strategien und soziokultureller Wandel). 1973 Assistenzprofessor für Publizistik mit Berücksichtigung der Kunstsoziologie an der Universität Zürich. 1975 Leiter des dortigen Publizistischen Seminars (1977 Extraordinarius, 1983 Ordinarius für Publizistikwissenschaft). 1974 Mitbegründer der Schweizerischen Gesellschaft für Kommunikations- und Medienwissenschaft (Präsident bis 1984). 1978 Mitglied der Eidgenössischen Expertenkommission für eine Medien-Gesamtkonzeption (bis 1981) und Mitglied einer Arbeitsgruppe zur Vorbereitung des Radio- und Fernsehgesetzes. 1983 Nationale Begleitforschung zu den lokalen Rundfunkversuchen in der Schweiz (bis 1988). 1985 Leiter des Beirats Medienerziehung und Medienforschung der Bertelsmann-Stiftung (bis 1995, ab 1992 als Vorstandsmitglied) und Mitherausgeber der Publizistik (bis 2000). 1996 Ordinarius für Kommunikationssoziologie an der Università della Svizzera Italiana in Lugano (bis 2001). 1997 Honorarprofessor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. 2000 Gründung der Ulrich Saxer-Stiftung. Verheiratet mit Miriam Saxer, ein Sohn.

Vielleicht könnten Sie zu Beginn etwas über Ihr Elternhaus erzählen.

Mein Vater war Professor für Mathematik. In der Familie haben wir später immer über die beiden Professoren gescherzt. Mein Vater hatte ein solides Fach, zwei Söhne und zwei Frauen, eine Ehefrau und ein Dienstmädchen. Ich habe einen Sohn und eine Frau. Von meinem Fach gar nicht zu reden. Als Kind hatte ich es gut. Ich war glücklich, ich konnte mich entwickeln und hatte eine ungestörte Kindheit. Wie es in der Schweiz eben zugeht. Ich bin an der sogenannten Goldküste aufgewachsen. An dem Ort, an dem die anderen reichen Leute wohnen. In einem schönen Haus am rechten Seeufer, in dem ich jetzt noch wohne. Ich wurde früh ermuntert, mich akademisch zu bewähren.

Was heißt das?

Man musste ein guter Schüler sein, damit der Familienfrieden erhalten bleibt.

Haben Sie in Zürich etwas gemerkt von den Auswirkungen des Weltkrieges?

Die Bedrohung war sehr spürbar. Diese Riesenarmee gleich an der Grenze. Die Schweiz war eingekesselt, und das Klima war antinationalsozialistisch und deutschfeindlich. Wir kannten den Reim „Die Schweiz, das kleine Stachelschwein, das nehmen wir im Rückweg ein“. Das hat uns nicht gefallen. Es gab üble Witze über die Deutschen. Sonst sind wir natürlich verschont geblieben, auch wenn es Rationierungen und all diese Dinge gab.

Haben Religion oder Parteipolitik in Ihrem Elternhaus eine Rolle gespielt?

Nein. Mein Vater war als Mathematiker eher Agnostiker. Für den gläubigen Teil war die Mutter zuständig. Es spielte aber keine große Rolle. Mein Vater war bei den Freisinnigen, aber auch nicht leidenschaftlich. Ich war nie in meinem Leben in irgendeiner Partei.

Sie haben Germanistik studiert und über Gottfried Keller promoviert (Saxer 1957), Sie haben eine Gesangsausbildung absolviert und im Gymnasium gearbeitet (Jarren 2005: 477). Wollten Sie Lehrer werden?

Meine Berufswahl war kompliziert. Als guter Schüler konnte man natürlich alles machen. Ich habe mit Jura begonnen, auch weil das in der Familie so üblich war. Nach zwei Jahren ist mir der Sinn für die Gerechtigkeit etwas abhandengekommen. Ich hatte immer eine starke künstlerische Neigung und kam dadurch auf die merkwürdige Idee, Germanistik und Anglistik zu studieren. Lehrer war nie mein Traumberuf, aber es war klar, dass man entweder in die Medien gehen konnte, weil das ja immer geht, oder dass man Lehrer wurde. Ich hatte eine Familie zu versorgen und bin Gymnasiallehrer geworden. Eigentlich habe ich das gern gemacht. Heute habe ich dadurch alle Zitate parat. Ich kann immer ein Zitat bringen und damit manchmal die Studenten erschrecken. Wenn jemand ein unmögliches Dissertationsthema vorschlägt, dann greift man einfach zum zweiten Faust und ruft mit Manto: „Den lieb ich, der Unmögliches begehrt“.

Und die Musik?

Ich habe tatsächlich sehr viel Musik gemacht. Gesungen vor allem. Außerdem habe ich für die NZZ geschrieben, Radio gemacht und ein bisschen Fernsehen. Eigentlich habe ich immer zu den Medien geschielt. In der Germanistik war ich eher Außenseiter. In meiner Dissertation habe ich mit Adorno um mich geworfen. Das war mutig und wurde auch akzeptiert, für eine germanistische Karriere war es aber sicher nicht sehr hilfreich. So bin ich dann auf die Idee gekommen, den Journalismus zu hinterfragen, das Feld, dem ich ohnehin nahe stand.

Wie kommt man auf eine solche Idee? Warum sind Sie nicht einfach aus der Schule in den Journalismus gewechselt?

Ich wollte nicht einfach Tagesjournalismus machen. Ehrlich gesagt, das war mir zu unsolide. Ich wollte theoretisch arbeiten. Ich bin nach Zürich gegangen und habe begonnen, mir dieses Fach zu erschließen. Ich habe es nie bereut.

Otfried Jarren hat zu Ihrem 75. Geburtstag geschrieben, dass Sie sich am Journalistischen Seminar „mit sozialwissenschaftlichem Denken vertraut“ gemacht haben (Jarren 2005: 477). Was bedeutet das genau? Haben Sie Seminare und Vorlesungen besucht?

Bücher gelesen. Ich bin absoluter Autodidakt. Viele Leute sagen, dass man das merkt. Ich bin der Professor, der nie eine Vorlesung in seinem Fach gehört hat. Ich habe dieses Fach sozusagen erfunden. In Zürich gab es ja so gut wie nichts, bis Padrutt und ich dort etwas gemacht haben. Er als Historiker und ich von der sozialwissenschaftlichen Seite. Ich kam ursprünglich von der Kritischen Theorie, habe dann aber rasch die Amerikaner studiert. Parsons, Lazarsfeld und diese Dinge. Das hat mich fasziniert. Ich hatte auch Beziehungen zu den Züricher Soziologen, die stark durch Köln beeinflusst waren.

Wie haben Sie sich finanziert? Haben Sie weiter parallel als Lehrer gearbeitet?

Ja. Ich habe ein Habilitationsstipendium bekommen und konnte meine Stelle so halbieren. 1966 hatte ich meinen ersten Lehrauftrag. Soziologische Aspekte der Massenmedien, sehr bezeichnend. Da das recht gut bezahlt wurde, habe ich allmählich den Übergang geschafft. Man suchte Leute, die so etwas machen, und da ich mich für das Gebiet interessiert habe, hatte ich Chancen.

Wie erklären Sie, dass aus dem promovierten Germanisten Saxer ein Sozialwissenschaftler wurde?

Ich fand die Geisteswissenschaften unbefriedigend. Sie waren mir zu willkürlich und zu subjektivistisch. Wenn schon Kunst, dann habe ich lieber gesungen. Gedichte einfach auszulegen, fand ich nicht sehr lustig. Die Sozialwissenschaft hat mich interessiert und sie war willkommen. Ich kannte zum Beispiel bald die Münchner Schule sehr gut und sah die Defizite dort. Also habe ich mir meine eigene Publizistikwissenschaft zusammengeschustert.

Welches Verhältnis hatten Sie zu Christian Padrutt?

Ein sehr gutes. Wir waren befreundet. Es gab eigentlich auch keine Rivalität. Wir mussten uns gemeinsam nach außen verteidigen. Wir waren ja weder beliebt noch angesehen. Als ich gekommen bin, hat mich Padrutt sofort eingeladen.

Wie kam man darauf, an einem so „marginalen Seminar“ eine akademische Karriere anzustreben (Saxer 2005: 84)?

Abenteuerlust? Es ging jedenfalls nicht darum, Professor zu werden. Diese Idee wurde mir mehr oder weniger aufs Auge gedrückt. Man hat gesagt: Habilitieren Sie sich doch! Der Rest hat sich dann von selbst ergeben. Die institutionelle Anbindung war wichtig, aber ich war nicht sehr karrierebewusst.

Hätten Sie sich damals vorstellen können, nach Deutschland oder Österreich zu gehen?

Günter Kieslich (Foto: privat)

Günter Kieslich (Foto: privat)

Das war familiär ein bisschen schwierig. Es gab später schon solche Anfragen. Beworben habe ich mich in Salzburg, um die Kieslich-Nachfolge. Dort wäre ich sicher hingegangen.

In Zürich hatten Sie Mitte der 1970er-Jahre „zermürbende“ und „verletzende“ Auseinandersetzungen mit der Studentenschaft (Jarren 2005: 478). Warum gab es Streit mit dem Assistenzprofessor?

Das ist die 68er-Geschichte. Die Schweiz macht so etwas immer ein wenig später und meint es nicht ganz so ernst. Wir hatten deutsche Sendboten, die uns die Demokratie beibringen wollten. Es gab eine starke, sehr linke marxistische Bewegung, die alles andere als bürgerlich ablehnte. Warum ich der Buhmann wurde, weiß ich auch nicht. Padrutt hätte eigentlich eine viel größere Angriffsfläche geboten. Er war parteimäßig viel stärker engagiert, für die Liberalen. Vielleicht war er netter. Ich wurde wirklich angepinkelt. Auf manches bin ich eingegangen. Zum Beispiel habe ich ein Seminar zur Wissenschaftstheorie angeboten. Die das immer gefordert haben, sind dann gar nicht erst gekommen. Daraus lernt man, dass der Professor sich nicht hineinreden lassen darf. Später gab es dann noch einmal Theater. Bei meiner Wahl. Wussten Sie das?

Nein.

Eigentlich war Wolfgang Langenbucher vorgeschlagen worden, und ich war auf Position zwei. Das wurde dann gedreht. Die Regierung hat gesagt, es sei vielleicht besser, wenn ich gewählt werde. Zwischen Langenbucher und mir lief das problemlos. Wir sind seit Jahrzehnten befreundet. In der Presse gab es aber eine Kampagne. Der damalige Chefredakteur vom Tages-Anzeiger hat bei meinem 75. Geburtstag gesagt, die Linken in der Redaktion hätten den Saxer unbedingt abschießen wollen. Dort wurden üble Dinge geschrieben. Sicher politisch motiviert.

Warum haben die Linken Sie als Feindbild gesehen, wenn Sie politisch gar nicht engagiert waren?

Das ist eines der großen Rätsel. Ich habe mich nie politisch geäußert. Ich wusste genau, warum. Vielleicht hat es mit meiner wissenschaftlichen Arbeit zu tun. Das Buch über Objektivität (Saxer 1973, 1974) hat unter linken Journalisten sehr böses Blut gemacht. Ich hatte den Begriff ja nicht erfunden, sondern einfach nur ausgedeutet. Wenn man gesagt hat, Objektivität sei eine rechtliche Norm, galt man als Rechter. Damals, in der grauen Vorzeit. Ich habe hier bei Roegele in München eine Vorlesung über Objektivität gemacht und sofort die übliche Frage gehört: „Herr Saxer, Sie scheinen auch noch nicht gemerkt zu haben, dass …“. Als später der Radikale Konstruktivismus aufkam, habe ich das gleiche erlebt. Ich habe mich ganz klar dagegen ausgesprochen und gesagt, dass man Willkür nicht zum Prinzip erheben könne.

Franz Dröge hat 1974 in Zürich eine programmatische Gastvorlesung zur kritischen Kommunikationsforschung gehalten. Wie kam es zu dieser Veranstaltung?

Auf Wunsch der Studenten. Wir wollten die Atmosphäre nicht stärker anheizen. Wir waren nicht grundsätzlich gegen die Kritische Theorie, wohl aber gegen die Idee, dass diese Theorie die einzig wahre ist. Für mich war die Institution immer das Wichtigste. Die Institution muss sich in verschiedenen Umwelten bewähren. Wenn das Institut als linker Laden gegolten hätte, wäre es geschlossen worden. Meine institutionelle Philosophie war Mainstream. Mainstream, und dann ein bisschen originell sein. Das ist auch nicht verboten.

Bewerten Sie die Studentenbewegung im Rückblick eher positiv oder eher negativ?

Theodor W. Adorno (Foto: Ilse Mayer-Gehrken, Suhrkamp)

Theodor W. Adorno (Foto: Ilse Mayer-Gehrken, Suhrkamp)

Ich hatte lange die These, dass das gar keine Bewegung war, sondern dass diese Bewegung nur von den Medien herbeigeredet worden ist. In der Schweiz waren die Verhältnisse ohnehin anders. Es war alles eine Nummer kleiner, und es gab keine Gewaltherrschaft der Ordinarien. Der ganze Aufstand war eher lächerlich. Dass man Adorno diskutiert hat, fand ich anregend und wichtig. Wenn die Studenten gefragt haben, ob das Soziologie ist, habe ich natürlich Nein gesagt. Das ist Sozialphilosophie. Als Kunstsoziologe haben Sie besondere Schwierigkeiten mit Adorno. Er hat einfach aus seinen persönlichen Vorlieben ein Dogma gemacht. Noch schlimmer waren die Adorniten, die das in den Funkhäusern und im Fach nachgebetet haben. Was da alles geschrieben worden ist, als die Konjunktur günstig war, das finde ich unverzeihlich. Das hat dem Fach geschadet. Da trifft die Studenten aber keine Schuld.

Welche Position hatte die Publizistikwissenschaft Mitte der 1970er-Jahre in Zürich?

Wir waren die Paria der Fakultät. Wir hatten eine schlechte Presse. Es war unklar, ob das Fach überhaupt an eine Universität gehört. Viele sagen ja noch heute, es gehöre an die Fachhochschule. Nach dem Tod von Padrutt kamen Leichenfledderer, die das Seminar kassieren wollten.

Warum ist daraus nichts geworden?

Weil ich einfach da war und nicht wegdiskutiert werden konnte. Außerdem gab es viele Studenten, und der zuständige Minister hat immer gesagt, das Fach sei wichtig. Der Ausbau ist immer mit dem Segen des Ministers gelaufen.

Sie haben das Fach in Zürich zu einer empirischen Sozialwissenschaft gemacht und auch Auftragsforschung akzeptiert. War das Seminar nur mit dieser Ausrichtung zu halten und auszubauen?

Wenn ich Mainstream gesagt habe, dann heißt das für die 1970er- und 1980er-Jahre ganz eindeutig empirische Forschung. Anders hätte man die Probleme gar nicht lösen können, die die Praxis hatte. In der Kommunikatorforschung musste man zum Beispiel erst einmal eine Berufsstatistik erstellen (Saxer/Schanne 1981). Bei Bertelsmann haben wir Leseforschung gemacht (Saxer et al. 1989). Daneben hatte ich aber 15 Jahre lang ein Projekt über die Kunstberichterstattung im Kanton Zürich laufen, zusammen mit Heinz Bonfadelli (Saxer 1995). So ein Projekt gibt es auf der ganzen Welt nicht noch einmal. Ich hätte das Institut aber nie mit meinen privaten Vorlieben belastet. Für mich war ganz klar, dass wir Mainstream sind und gut sein wollen. Folglich müssen wir Empirie machen.

Empirie war der Mainstream in Deutschland und vielleicht in den USA. Sie hätten ja auch nach Italien oder nach Frankreich schauen können.

Elisabeth Noelle-Neumann auf dem Titel des Spiegel (Quelle: Der Spiegel, 21. August 1957)

Elisabeth Noelle-Neumann auf dem Titel des Spiegel (Quelle: Der Spiegel, 21. August 1957)

Mein Blick ist immer nach Deutschland gegangen und in die USA. Diese Sachen habe ich in den Quellen gelesen. Mainz war mir sehr nahe, auch wenn mir das Institut dort zu sozialpsychologisch war und zu wenig soziologisch. Im Sommer 1980 habe ich Frau Noelle-Neumann vertreten. Die italienische Tradition war für mich nie interessant, außer vielleicht Eco. Als er noch nicht so viel verdient hat, wollte ich ihn einmal einladen, und habe dann ja auch selbst etwas zur Semiotik gemacht (vgl. Saxer 1981). Ich war jetzt aber vier Jahre im Tessin und muss leider sagen, dass die italienische Kommunikationswissenschaft provinziell ist. Die Franzosen haben sich auch sehr isoliert, mit ihrem Antiamerikanismus. Ich habe Foucault angeschaut, auch Virilio. Ich halte das für Geschwätz. Ich habe einmal ein Seminar angeboten mit französischer Literatur. Es ist keiner gekommen, obwohl die Studenten immer so etwas gefordert haben.

Gab es in der Philosophischen Fakultät Widerstand gegen die Neuausrichtung?

Nein. Wir konnten machen, was wir wollten. So gut wie ich wird es nie wieder jemand haben. Ich konnte anreißen, was ich wollte. Auch die Makrolinie, die in Deutschland nur von den Linken verfolgt wurde. Ich habe von Anfang an auch auf die Soziologie der Massenmedien geschaut und nicht nur auf die Mikroebene.

Nach Ihrer Emeritierung ist die Publizistikwissenschaft in Zürich Hauptfach geworden, und der Personalbestand des Instituts hat sich in knapp zehn Jahren verdreifacht (vgl. Schade 2005). War ein solcher Ausbau in Ihrer aktiven Zeit nicht möglich?

Er hat sich nicht aufgedrängt, und ich war zurückhaltend. Als Nebenfach hat man den Vorteil, dass nur die Motivierten da sind und nicht auch die Krethi und Plethi. Am Ende ist der Druck natürlich größer geworden. Genau wie in Deutschland wurde das Fach Mode. Ich hatte am Schluss 450 Studenten. Das war schon sehr viel. Das Hauptfach habe ich mit null Gegenstimmen in der Fakultät durchgebracht. 1995, als ich gegangen bin.

Vielleicht ging es Ihnen ja gerade deshalb so gut, weil Sie keine Professoren neben sich hatten.

Ich hoffe nicht, dass man mir das unterstellt. Es gab einfach keinen Nachwuchs. Deshalb habe ich ja auch meine Stiftung gegründet. Ich habe Christian Doelker gefördert und Heinz Bonfadelli. Mehr war dort noch nicht. Das Fach musste erst einmal strukturiert werden. Das habe ich wirklich im Alleingang machen müssen, weil es einfach keine weitere Professur gab. Ich habe auch schon sehr früh PR angeboten. Das kann man nachlesen in meinen Skripten (vgl. Saxer 1977). Damals galten Sie deshalb als Kapitalistenknecht. Jetzt gehen die meisten Absolventen in die PR. Ich habe immer gefragt, was zum Fach gehört und was man sinnvoller Weise berücksichtigen muss. Das gleiche ist jetzt mit der Kultur passiert. Ich halte es für einen Fehler, dieses Thema in die Medienwissenschaft abzudrängen. Deshalb habe ich das Publizistik-Sonderheft gemacht (Saxer 1998). Ich war erstaunt, wie wenige Leute aus der Zunft dort etwas schreiben konnten oder wollten. Es ist lächerlich, wenn wir große Theorien über den Hörfunk machen und noch nicht gemerkt haben, dass der Hörfunk zu 70 Prozent Musik ist.

Welchen Einfluss hatte der Publizistikwissenschaftler Ulrich Saxer in der Schweizer Medienpolitik?

Wenn man das so personalisieren könnte. Für mich war es selbstverständlich, dort mitzumachen, ich habe mich aber nicht aufgedrängt. Ein gutes Beispiel ist die berühmte Medien-Gesamtkonzeption. Ich halte es auch heute noch für eine gute Idee, alle Medienprobleme unter einem gemeinsamen Dach zu sammeln. Dort hatte ich schon einen gewissen Einfluss. Das Sollkapitel habe ich geschrieben (vgl. Saxer 1982a, 1982b).

Wie groß war die Kommission?

Etwa 30 Leute. Wie in der Schweiz üblich, waren alle vertreten, die eine Rolle spielen. Ein Rechter und ein Linker, die Journalisten und die Verleger, die Katholiken und natürlich zu wenig Frauen. Ein wunderbar gemischter Verein. Der Regierung haben wir einen Bericht von über 600 Seiten geliefert. Den wird niemand ganz gelesen haben. Ich musste das eigentliche Konzept machen.

In Deutschland sind die Kollegen in solchen Kommissionen außen vor geblieben.

Christian Padrutt (Quelle: Archiv des Instituts für Publizistikwissenschaft und Medienforschung Zürich)

Christian Padrutt (Quelle: Archiv des Instituts für Publizistikwissenschaft und Medienforschung Zürich)

Die Schweiz ist ein kleines Land. Es gibt wenig Spezialisten, und ich hatte den Ruf, etwas von der Sache zu verstehen. Ich habe viele Vorträge gehalten. Auch Christian Padrutt hatte das gemacht, zum Beispiel zur Pressekonzentration (vgl. Padrutt 1975). Die Politik wusste also, dass es uns gibt. Die nächste Frage ist dann, ob man sich einsetzt oder nicht. Mein Prinzip war immer, dass wir kein originelles Medienkonzept brauchen, sondern eins, dass umgesetzt werden kann. Meine Mitarbeiter haben mir das vorgeworfen. Die Medien-Gesamtkonzeption ist von meinen Leuten scharf kritisiert worden. Ich habe nur gelacht. Politik ist die Kunst des Möglichen. Es ist immer leicht, Idealforderungen zu stellen. Mir war wichtig, dass die Politiker anders zu argumentieren lernen.

Sie haben sich nicht nur für eine Medien-Gesamtkonzeption eingesetzt, sondern auch die Begleitforschung für den lokalen Rundfunk übernommen (vgl. Saxer 1989). Wie kam ein so kleines Institut an so ein Großprojekt?

Ich galt in der Kommission als zentrale Figur. Die logische Folge war, dass man gesagt hat, ich müsse die Begleitforschung machen. Es gab sonst einfach niemanden. Marktforscher hätten das nicht machen können. Das wäre politisch nicht durchsetzbar gewesen. Ich hatte den Bonus der Institution und war bekannt. Es ist leicht, in der Schweiz bekannt sein. Ich war auch in keiner Partei. Sonst hätte man sagen können, jetzt habt ihr den bösen Rechten oder den bösen Linken. Ich hatte einen technischen Zugang zu den Dingen. Außerdem hatte ich gute Leute. Heinz Bonfadelli, Michael Schanne und all die anderen. Der Rest ist eine Frage der Organisation. Die sieben Jahre waren trotzdem eine anstrengende Übung.

Hat das Projekt etwas bewegt oder hat es eher der Reputation der Züricher Publizistikwissenschaft genützt und hier vor allem der Reputation des Seminarleiters Ulrich Saxer?

Ich liebe dieses Auseinanderklamüsern. Der Kollege Jarren hat das doch sehr deutlich gemacht (vgl. Jarren 2005). Die Reputation des Seminars hing natürlich stark von mir ab, aber mindestens genauso stark von meinen Mitarbeitern. Ich hatte Glück und immer gute Mitarbeiter. Die konnten machen, was sie wollten, auch weil sie teilweise mehr wussten als ich. Ob das Projekt etwas bewegt hat? Wir haben die Diskussionen in der Verwaltung versachlicht. Außerdem gab es interessante Resultate. Die Österreicher sind zum Beispiel später zu mir gekommen, als dort Lokalradios gemacht werden sollten. Man konnte mit der Begleitforschung schon etwas verändern. Manche wollten ja die ganze Übung Privatfunk wieder abbrechen. Furchtbar. Wir konnten zum Beispiel zeigen, dass die technische Beschränkung der Verbreitungsgebiete nichts bringt. Manch unsinnige Forderungen sind auf diese Weise verschwunden.

Soll die Kommunikationswissenschaft die Medienpolitik beraten?

Sie soll, wenn sie gefragt wird und wenn sie das mithilfe geprüfter Theorien und mit fachlichem Wissen machen kann. Sonst soll sie die Klappe halten. Ich glaube, dass heute zu viel und zu rasch Stellung genommen wird. Ich habe viele Interviews abgebrochen und gesagt, davon verstehe ich zu wenig und davon weiß auch meine Wissenschaft zu wenig. Einfach zu meinen, das ist nicht mein Job.

Können Sie sich vorstellen, Ihr Know-how für ein bestimmtes Ziel einzusetzen, etwa für die Etablierung privater Lokalradios?

Die Frage ist einigermaßen abenteuerlich. Ich habe mit meiner Firma auch schon Lokalradios beraten. Wie lassen sich Sendungen optimieren, wie lassen sich Verbreitungsräume optimieren. Das ist eine sachliche Leistung. Ich habe aber immer gesagt, dass ich nicht für die Mafia arbeiten würde.

Sie haben angewandter Forschung nur eine „bescheidene wissenschaftliche  Qualität“ zugesprochen (Saxer 1993: 328) und trotzdem jahrelang Begleitforschung gemacht, eine Firma mitgegründet und zehn Jahre für die Bertelsmann-Stiftung gearbeitet. Wie passt das zusammen?

Es gibt bessere angewandte Forschung und schlechtere. Ich habe meine wichtigste Aufgabe immer darin gesehen, den Praktikern oder den Politikern zu sagen, was wissenschaftlich möglich ist und was nicht. Die Praxis verlangt von der Wissenschaft immer zu viel oder zu wenig, aber nie das, was sie wirklich leisten kann. Das ist meine Erfahrung. Meine Aufgabe war, wissenschaftsfähige Fragen zu entwickeln. Wenn ihr uns Geld gebt und unsere Leute beschäftigt, dann können wir das und das untersuchen und ihr bekommt gute Unterlagen.

Sie haben sich als Schüler von Franz Ronneberger bezeichnet (Saxer 1999: 224). Welches Verhältnis hatten Sie zu Ronneberger und was haben Sie von ihm gelernt?

Habe ich Schüler gesagt? Das würde meinem Selbstverständnis widersprechen.

„In vielem als sein Schüler“.

Das schon. Ich habe sehr von ihm profitiert. Ronneberger war ein sagenhaft netter Mann. Ich hatte jahrelang mit Manfred Rühl zu tun. Ich kannte Ronnebergers Skripte und habe von ihm diesen integralen Funktionalismus gelernt. Er war außerdem sehr vielseitig und für mich der breiteste Anreger.

Auch Vorbild?

Ich habe keine Vorbilder. Ich lebe nach dem Prinzip des „spieltheoretischen Obligats“. Das schreibe ich in jedem Artikel: Wissenschaft als ingeniöses Spiel auch gegen sperrige Gegenstände. Vorbilder kann man so nur fallweise haben. Ich sehe Wissenschaft grundsätzlich pragmatisch.

Franz Ronneberger hat Ihre Arbeiten sehr positiv rezensiert und Sie offenbar auch sonst sehr geschätzt (vgl. Ronneberger 1980, 1990a, 1990b; Ronneberger 1991). Sind Sie durch sein Lob zum „Mr. Publizistik“ geworden (Rühl 1996: 76)?

Das weiß ich nicht. Den „Mr. Publizistik“ dürfen Sie auch nicht so ernst nehmen. Das ist ein freundlicher Kollegenscherz. Eigentlich hätte sich Rühl selbst als „Mr. Publizistik“ bezeichnen müssen.

Er hat das mit Ihren Auftritten als „Key Speaker“ begründet, als Verfasser von „State-of-the-Art-Reports“ und als „Schweizer vom Dienst“ in Berufungsverfahren (Rühl 1996: 76).

Das hing einfach mit der Zeit zusammen. Es gab noch wenig Publizistik in der Schweiz, und ich war dort der Bekannteste. Sie wissen ja, wie das läuft, wenn einen jemand kennt. Bei mir wusste man, dass ich meine Gutachten pünktlich abliefere, dass sie einigermaßen vernünftig und sachlich sind und dass ich nicht irgendwelche Leute reindrücken wollte.

War Manfred Rühl für Sie ein Verbündeter oder ein Konkurrent?

Kein Konkurrent. Für Konkurrenzdenken hatte ich gar keine Zeit. Ich habe ihn einmal als Wegkumpan bezeichnet. Respekt: So war unser Verhältnis.

1985 sind Sie Mitherausgeber der Publizistik geworden. Welchen Einfluss hatten Sie auf das, was dort gedruckt wurde?

Das ist im Konsens gelaufen. Sicherlich habe ich meinen Senf dazugegeben. Es gab keine Probleme. Vielleicht hat sich Frau Holtz-Bacha stärker mit der Methodologie beschäftigt, ich mit der Soziologie und Kutsch mit der Geschichte. Und Langenbucher war der Generalherrscher.

Wie haben Sie das Ausscheiden des Redakteurs Walter J. Schütz erlebt (vgl. Schütz 2006: 24)?

Ich fand das sehr bedauerlich. Als neutraler Schweizer habe ich mich dabei sehr zurückgehalten. Schütz hat unendlich viele Verdienste. Die Publizistik war wirklich sein Kind.

Hat sich mit dem Wechsel in der Redaktion etwas geändert?

Ich glaube nicht. Zum Schluss hatten ja immer die Herausgeber das Sagen, schon weil sie verantwortlich waren. Sicher hatte der neue Redakteur, Joachim Pöhls, nicht die gleiche Position wie Schütz. Mit ihm ging es aber auch hervorragend.

Otfried Jarren hat von „blühenden Instituten und florierenden Lehrstühlen“ gesprochen, die Ulrich Saxer mit etabliert habe (Jarren 2005: 479). Welche Orte fallen Ihnen bei dieser Textstelle zuerst ein?

Eigentlich keine. Ich habe mich nicht als Gärtner gefühlt. Ich war Mitte der 1980er-Jahre in Berlin dabei. Über diese Blüte kann man streiten. Ich war in Hannover. Eine blühende Geschichte. Ich war an sehr vielen Verfahren beteiligt. In Eichstätt, in Göttingen, fast überall. Manchmal wurden die Leute gewählt, die ich vorgeschlagen habe, und manchmal nicht. Solche Gutachten sind eine Gelegenheit, sich Todfeinde zu schaffen. Es bleibt ja doch nie geheim. Der absolute Hammer sind die vergleichenden Gutachten. Wenn mich heute einer schief ansieht, dann könnte es sein, dass ich ihn auf Position drei gesetzt habe.

Welchen Prinzipien sind Sie bei dieser Arbeit gefolgt?

Zuerst habe ich das Institut angeguckt und dann die Kollegen. Wie sind die Bedingungen, welche Schwerpunkte gibt es? Dann die Figur, die sich beworben hat. Zentral war die wissenschaftliche Leistung. Welches Profil hat die Person, was hat sie veröffentlicht? Habe ich sie je auf einem Kongress etwas sagen hören? Und was für mich noch wichtig ist: Verspricht jemand Innovation, ohne ein Narr zu sein?

Hat Parteipolitik je eine Rolle gespielt? Zum Beispiel in Berlin, Mitte der 1980er-Jahre?

Es wurde nie thematisiert. So schlimm wie in Italien war es jedenfalls nicht. Vielleicht hinten herum, ich habe es aber nicht gemerkt. Mich interessieren die politischen Gebetsbücher nicht. Wenn ich natürlich drei Kilometer gegen den Wind merke, dass das ein eingefleischtes CSU-Mitglied ist oder ein Linkssozialist, dann sage ich, dass ich von einem Wissenschaftler etwas anderes erwarte. Wenn es penetrant wird, bin ich feinfühlig. Entscheidendes Kriterium für C4 ist Vielseitigkeit.

Hans Bohrmann hat gesagt, dass seine Bewerbung in Berlin mit dem Regierungswechsel von der SPD zur CDU aussichtslos geworden wäre.

Das weiß ich nicht. Ich habe mich bei der Praktiker-Professur stark gemacht. Diese Stellen waren immer schwierig. Ruß-Mohl war eine gute Wahl und Erbring sicher auch. Sösemann hat wenig für das Fach gemacht. Man hat auch nicht geschaut, ob die drei miteinander können. Das Schlimmste ist, wenn zwei Professoren an einem Institut nicht miteinander auskommen. Dann können Sie das Institut abmelden.

Berufungskommissionen stellen die Weichen für das Fach. Hatten Sie eine Vision, wie die Kommunikationswissenschaft auszusehen hat?

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Ich hatte Ideen, wie man es machen könnte. Meine Generalidee ist ein sehr offenes Fach, das aber seine Grenzen kennt. Über dieses Problem habe ich einen bösen Artikel geschrieben. „Grenzen der Publizistikwissenschaft“ (Saxer 1980). Das hat mir nicht nur Freunde eingebracht. Das Fach sollte offen sein und etwas bringen, was es anderswo nicht gibt. Dazu kommt eine gewisse Praxisdienlichkeit. Das Fach sollte nicht nur uns Professoren nützen. Darüber habe ich auch schon geschrieben (vgl. Saxer 2004).

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Sie so oft als Gutachter oder als Mitglied von Berufungskommissionen nach Deutschland geholt worden sind?

Grund Nummer eins: Ich bin Schweizer. Man brauchte einen Ausländer. Ich glaube, dass man mich außerdem nicht für korrupt hielt. Ich gehörte einfach keiner Partei an. Ich war ein Neutrum. Und dann hatte ich einen relativ großen Überblick. Das gibt es heute so nicht mehr. Ich konnte zu allem substanziell etwas beitragen.

Welches Verhältnis hatten Sie zu Elisabeth Noelle-Neumann?

Ein gutes. Das heißt nicht, dass ich alles gut finde, was sie macht, aber ich finde, sie hat eine große Leistung vollbracht. Auch menschlich ging das mit uns sehr gut. Ich habe viel mit den Mainzern zusammengearbeitet.

Hätte ein Radikaler Konstruktivist heute eine Berufungschance, wenn Sie in der Kommission sitzen würden?

Nein. Ich würde sagen, der Mann ist nicht lernfähig und soll Religion machen oder Psychologie. Der Radikale Konstruktivismus ist eine Sekte, die die Wissenschaft per Definition aufhebt. Mein Eindruck war, dass Leute, die offenbar zu wenig von Naturwissenschaft verstehen, Theorien aus der Naturwissenschaft auf die Sozialwissenschaften übertragen. Ich habe Anfang der 1990er-Jahre sehr empfindlich reagiert, weil das Ganze als Ideologie daherkam. Ich kenne eine nationalsozialistische Ideologie und die marxistische, und jetzt kam auch noch die radikalkonstruktivistische. Für das Fach war das nicht gut.

Warum haben Sie sich nach Ihrer Emeritierung in Zürich das Ordinariat für Kommunikationssoziologie in Lugano angetan?

Das frage ich mich nachträglich auch. Es wäre peinlich, wenn ich als Idealist gelten würde. Ich habe eine rührselige Abschiedsvorlesung gehalten und davon gesprochen, dass jetzt die Eigen-Zeit beginne. Kurz danach habe ich gehört, dass Mauro Wolf in Lugano gestorben ist, und die Regierung hat gesagt, man brauche einen Schweizer in der Fakultät. Sonst gab es dort nur Italiener. Ich habe mir gesagt, du kannst nicht immer nur in Deutschland Geld verdienen, du musst auch in der Schweiz etwas tun. Der erste Schreck kam dann, als ich italienische Vorlesungen halten sollte. Ich bin dann zusammen mit Gaetano Romano aufgetreten. Wie Dick und Doof.

Hat er übersetzt?

Nein, ich musste Italienisch vorlesen. Und die Studenten unterbrechen einen.

Haben Sie den Schritt nach Lugano bereut?

Es war eine Erfahrung. Ich wurde sicher zu spät berufen. Die Fakultät wurde ganz nach italienischem Muster organisiert, ohne einen Schweizer zu fragen. Der rechtskatholische Einfluss war sehr groß. Die haben keine Ahnung von Empirie. Das hat mich alles sehr angestrengt. Ich habe sogar Magenprobleme bekommen. Wenn Sie in einer fremden Sprache reden müssen und die Kollegen in der Fakultät nicht verstehen, dann strengt das schon sehr an. Der Informatiker kam zum Beispiel aus Venedig. Dort wird dann Dialekt gesprochen, und Sie verstehen wenig. Aber ich bereue es nicht. Ich hätte mich geschämt, wenn ich es nicht gemacht hätte.

Sie haben schon die Ulrich Saxer-Stiftung erwähnt, die den wissenschaftlichen Nachwuchs aus der Schweiz fördern soll. Gibt es an den Instituten in Ihrer Heimat zu viele Deutsche?

Nein. Ich hatte immer das Problem, keinen Nachwuchs zu haben. Was ist ein Fach ohne Nachwuchs? Auf die Idee hat mich Langenbucher gebracht. Er hat verkündet, wir seien das Fach mit den meisten Studenten und dem knappsten wissenschaftlichen Nachwuchs.

Vergeben Sie Stipendien?

Dafür reicht es nicht. Wir machen Tagungen, auf denen der Nachwuchs sich aussprechen kann und prominente Leute aus dem Fach trifft. Meine Erfahrung ist, dass die jungen Leute oft völlig isoliert sind.

Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

Ich denke, dass ich eine vernünftige Institutspolitik gemacht habe und die eine oder andere gute Idee hatte. Ein paar originelle Arbeiten zu Medienstrukturen. Das müssen aber die Kollegen beurteilen. Vielleicht bin ich darauf stolz, als erster Publizistikwissenschaftler eine große Delphi-Umfrage gemacht und die Dimension Zukunft immer mit berücksichtigt zu haben (vgl. Saxer et al. 1978).

Gibt es etwas, was Sie heute anders machen würden?

Es fällt mir nichts ein. Das spricht für meine Selbsteingenommenheit.

Was bleibt von Ulrich Saxer in der Kommunikationswissenschaft? Was sollte bleiben, wenn Sie darauf Einfluss hätten?

Ehrlich gesagt: Das ist mir egal. Wissenschaft entwickelt sich ja ohnehin so, dass sie ihre Großväter vergisst. Es ist schade, dass das Gleiche immer wieder erfunden wird. Vielleicht kommt einmal eine Wiederentdeckung.

Literaturangaben

  • Otfried Jarren: Ulrich Saxer 75 Jahre. In: Publizistik 50. Jg. (2005), S. 477-480.
  • Michael Meyen/Maria Löblich: „Ich habe dieses Fach erfunden”. Wie die Kommunikationswissenschaft an die deutschsprachigen Universitäten kam. 19 biografische Interviews. Köln: Herbert von Halem 2007.
  • Franz Ronneberger: Rezension Ulrich Saxer (unter Mitarbeit von Marie-Therese Guggisberg): Fernsehen unter Anklage. Ein Beitrag zur Theorie publizistischer Institutionen. In: Publizistik 25. Jg. (1980), S. 425-427.
  • Franz Ronneberger: Rezension Ulrich Saxer: Lokalradios in der Schweiz. Schlußbericht über die Ergebnisse der nationalen Begleitforschung zu den lokalen Rundfunkversuchen 1983 bis 1988. In: Publizistik 35. Jg. (1990a), S. 130-132.
  • Franz Ronneberger: Rezension Ulrich Saxer (Hrsg.): Unternehmenskultur und Marketing von Rundfunk-Unternehmen. In: Publizistik 35. Jg. (1990b), S. 366-367.
  • Franz Ronneberger: Ulrich Saxer 60 Jahre alt. In: Publizistik 36 Jg. (1991), S. 98-99.
  • Manfred Rühl: Ulrich Saxer 65 Jahre. In: Publizistik 41. Jg. (1996), S. 76-77.
  • Ulrich Saxer: Gottfried Kellers Bemühungen um das Theater. Ein Beitrag zur Problematik des deutschen Theaters im späteren 19. Jahrhundert. Winterthur: P. G. Keller 1957.
  • Ulrich Saxer (Hrsg.): Fernsehen: Stichwort Objektivität. Basel: Pressestelle des Fernsehens der Deutschen und Rätoromanischen Schweiz 1973.
  • Ulrich Saxer: Zur Objektivität publizistischer Informationen. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Zur Theorie der politischen Kommunikation. München: Piper 1974, S. 206-235.
  • Ulrich Saxer: Publizistik und Gesellschaft. Vorlesung im Wintersemester 1976/77. Manuskript. Universität Zürich: Publizistisches Seminar 1977.
  • Ulrich Saxer: Grenzen der Publizistikwissenschaft. Wissenschaftswissenschaftliche Reflexionen zur Zeitungs-/Publizistik-/Kommunikationswissenschaft seit 1945. In: Publizistik 25. Jg. (1980), S. 525-543.
  • Ulrich Saxer: Thesen zum Verhältnis von Semiotik und Publizistikwissenschaft. In: Günter Bentele (Hrsg.): Semiotik und Massenmedien. München: Ölschläger 1981, S. 39-49.
  • Ulrich Saxer: Eine Medienpolitik für die Schweiz. Zum Expertenbericht der eidgenössischen Expertenkommission für eine Medien-Gesamtkonzeption. In: Media-Perspektiven (1982a), H. 4, S. 285-292.
  • Ulrich Saxer: Unternehmen Medien-Gesamtkonzeption. In: Schweizerische Vereinigung für politische Wissenschaft (Hrsg.): Schweizerisches Jahrbuch für politische Wissenschaft. Bern: Haupt 1982b, S. 121-146.
  • Ulrich Saxer: Lokalradios in der Schweiz: Ergebnisse der nationalen Begleitforschung zu den lokalen Rundfunkversuchen 1983-1988. Bern: Schlußbericht der Arbeitsgruppe RVO-Begleitforschung am Seminar für Publizistikwissenschaft 1989.
  • Ulrich Saxer: Interview mit Ulrich Saxer. Publizistikwissenschaft und Gegenwartsprobleme. In: Heinz Bonfadelli/Werner A. Meier (Hrsg.): Krieg, Aids, Katastrophen …: Gegenwartsprobleme als Herausforderung für die Publizistikwissenschaft. Konstanz: UVK 1993, S. 327-347.
  • Ulrich Saxer: Kunstberichterstattung. Analyse einer publizistischen Struktur. Zürich: Seminar für Publizistikwissenschaft der Universität Zürich 1995 (= Diskussionspunkt 29).
  • Ulrich Saxer (Hrsg.): Medien-Kulturkommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1998 (= Sonderheft Publizistik 2).
  • Ulrich Saxer: Franz Ronneberger (1913 bis 1999). In: Publizistik 44. Jg. (1999), S. 224-225.
  • Ulrich Saxer: Qualifizierte Transdisziplinarität. In: Gabriele Siegert/Frank Lobigs (Hrsg.): Zwischen Marktversagen und Medienvielfalt. Medienmärkte im Fokus neuer ökonomischer Anwendungen. Baden-Baden: Nomos 2004, S. 15-30.
  • Ulrich Saxer: Zur Ausdifferenzierung von Lehre und Forschung der Publizistikwissenschaft: das Beispiel Schweiz. In: Edzard Schade (Hrsg.): Publizistikwissenschaft und öffentliche Kommunikation. Beiträge zur Reflexion der Fachgeschichte. Konstanz: UVK 2005, S. 69-110.
  • Ulrich Saxer/Wolfgang R. Langenbucher/Angela Fritz: Kommunikationsverhalten und Medien. Lesen in der modernen Gesellschaft. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung 1989.
  • Ulrich Saxer/Michael Schanne: Journalismus als Beruf. Eine Untersuchung der Arbeitssituation von Journalisten in den Kantonen Zürich und Waadt. Bern: Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartment 1981.
  • Ulrich Saxer/Matthias F. Steinmann/Walter Hättenschwiler: Materialien zur Zukunft der Massenkommunikation in der Schweiz. Bern Haupt 1978.
  • Edzard Schade (Hrsg.): Publizistikwissenschaft und öffentliche Kommunikation. Beiträge zur Reflexion der Fachgeschichte. Konstanz: UVK 2005.
  • Walter J. Schütz: 38 = 50 minus 12. Geschichte(n) im Rückblick der Publizistik-Redaktion 1956-1993. In: Christina Holtz-Bacha/Arnulf Kutsch/Wolfgang R. Langenbucher/Klaus Schönbach (Hrsg.): Fünfzig Jahre Publizistik. Wiesbaden: VS Verlag 2006 (= Sonderheft Publizistik 5), S. 15-32.

Weiterführende Literatur

  • Ricarda Seitz: Ulrich Saxer. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2014. http://blexkom.halemverlag.de/ulrich-saxer/ (Datum des Zugriffs).

Empfohlene Zitierweise

    Ulrich Saxer: Ich habe dieses Fach erfunden. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2014. http://blexkom.halemverlag.de/erfunden/ (Datum des Zugriffs).