Roger Blum. Quelle: privat.

Den Journalismus trage ich im Herzen

Veröffentlicht am 7. Juli 2015

Roger Blum ist 1989 aus der Chefredaktion des Tages-Anzeigers nach Bern berufen worden und hat das Fach dort institutionalisiert. Thomas Wiedemann und Michael Meyen haben ihn am 17. Juni 2015 interviewt – kurz vor einer Vorlesung über sein Buch zum Vergleich von Mediensystemen (vgl. Blum 2014).

 Stationen

Geboren am 6. Januar 1945. Aufgewachsen in Liestal (Kanton Basel-Landschaft). Vater Buchhalter. Studium an der Universität Basel (Geschichte und Staatsrecht). 1971 Lizenziat. Assistent bei dem Historiker Herbert Lüthy in Basel. 1976 Promotion. 1978 Innenpolitikchef der Luzerner Neusten Nachrichten, 1981 Redakteur beim Tages-Anzeiger, 1985 dort Mitglied der Chefredaktion. 1989 bis 2010 Professor für Medienwissenschaft an der Universität Bern (zunächst 50 Prozent, 2001 75 Prozent und ab 2005 dann 100 Prozent). 1999 bis 2005 Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kommunikations- und Medienwissenschaft (SGKM). 2007 dort Ehrenmitglied. 1971 bis 1978 Parlamentsabgeordneter im Kanton Baselland (Freisinnig-Demokratische Partei). 1991 bis 2001 Präsident des Schweizer Presserates. 2008 Präsident der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen in der Schweiz (bis Ende 2015). Verheiratet mit der Journalistikprofessorin und Journalistin Marlis Prinzing, zwei Kinder.

Könnten Sie zu Beginn etwas über Ihr Elternhaus erzählen, Ihre Kindheit, Ihre Jugend?

Meine Eltern waren Mittelstand, bürgerlicher Mittelstand. Mein Vater war Buchhalter. Er hat zuerst in einem Treuhandbüro gearbeitet und dann in verschiedenen Fabriken, auch als Prokurist. Er hatte nebenher bald noch ein eigenes Treuhandbüro. Meine Mutter war eine Arbeitslehrerin. Sie hat Stricken unterrichtet.

An einer Haushaltsschule?

In Basel hieß das Berufs- und Frauenfachschule. Sie war vorher Modistin und hatte dabei auch meinen Vater kennengelernt. Er ist im Kanton Luzern aufgewachsen, in einem politisch sehr polarisierten Gebiet. Liberale und katholisch Konservative. Meine Mutter kam aus Basel (vgl. Blum 2016).

Wie ist die Familie nach Baselland geraten?

Seine erste Stelle hatte mein Vater in Liestal.

Wie haben Sie das Elternhaus erlebt?

Vieles war relativ streng.

Streng?

Ich durfte keine Tarzanheftchen lesen. Keine Mickey Mouse. Das habe ich nur bei anderen Kindern gesehen. Letztlich war das aber doch eine liberale Erziehung, in einem strengen Format.

Gab es Geschwister?

Ich habe zwei Schwestern, beide jünger als ich. Liestal ist sehr ländlich. Man ist schnell im Wald. Ich saß natürlich sehr früh hinter Büchern und Zeitschriften.

Warum sagen Sie natürlich?

Ich wurde über Geschichten und Geschichte sozialisiert. Eine der prägenden Figuren dabei war mein Großvater mütterlicherseits. Er war Stadtgeometer in Basel. Er hat Straßen vermessen und Brücken und war ein wandelndes Lexikon.

Waren Ihr Großvater oder Ihr Vater politisch aktiv?

Mein Großvater nicht. Vater ja, aber nicht sehr erfolgreich. Zuerst bei den Jungliberalen und dann bei der FDP. Er war im Stadtvorstand und hat auch für das Kantonsparlament kandidiert. Später gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen ihm und mir.

Aber Sie waren in der gleichen Partei.

Ich am linken Flügel und er in der Mitte oder eher rechts. Ich habe diese Partei oft links überholt, vor allem in der Gesellschafts- und in der Bildungspolitik. Ich war ein – leicht verspäteter – 68er. Ich war gegen den Vietnamkrieg und habe gejubelt, als Johnson zurücktrat.

Opposition gegen den Vater?

Vielleicht auch. Wichtiger waren Einsichten. Im Jugendparlament haben wir über das Bodenrecht diskutiert. Ich fand, man müsste da viel stärker verstaatlichen, und habe auch eine Bodeninitiative der Sozialdemokraten unterstützt. Das ist mir oft so gegangen.

Immerhin hat die FDP das toleriert.

Schwierig wurde es nur, wenn es ans Geld ging. Bei der Initiative für kleinere Schulklassen zum Beispiel. Diese kam von ganz links, und dass ich sie unterstützte, hat mir viele Angriffe eingebracht.

Sie waren sehr früh politisch und journalistisch aktiv.

Ich habe gern geschrieben und mich auch für Geschichte interessiert. Mein allererster Artikel, als 15-Jähriger, hat sich mit dem Kommunismus beschäftigt.

Hat Religion in Ihrem Elternhaus eine Rolle gespielt?

Nicht so stark. Meine Mutter ging alle Vierteljahr in die Kirche. Eher aus Pflichtgefühl. Wir sind alle evangelisch getauft. Als meine Religionslehrerin meinte, ich solle Pfarrer werden, habe ich das schroff abgelehnt.

Wissen Sie noch, warum Sie nach Basel gegangen sind, um dort Geschichte und Staatsrecht zu studieren?

Ich habe die Fächer ausgesucht, bei denen ich in der Schule nicht schlecht war. Geschichte und Deutsch. Ich wollte nicht zu weit weg vom Baselland, auch wegen der Politik.

War das eine Berufsoption?

Ich habe das damals nicht ausgeschlossen. Eigentlich wollte ich aber Journalist werden. In der Schweiz gibt es ja nur relativ wenige politische Vollämter. Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein und dann auch noch in der richtigen Partei. Als Abgeordneter braucht man noch einen bürgerlichen Beruf.

Sie waren sieben Jahre im Kantonsparlament.

In dieser Zeit gab es die Möglichkeit, politisch zu gestalten. Kurz vorher war die Fusion von Baselland und Basel-Stadt abgelehnt worden. Das war eine alte Initiative, die die ganzen 1960er-Jahre dominiert hatte. Man hat deswegen alle großen Reformprojekte aufgeschoben. Es gab einen richtigen Stau, den wir dann auflösen konnten.

Aber auch nur in Teilzeit.

Ja. Mich hat das 20 Stunden in der Woche gekostet. Bezahlt wurden nur die Sitzungen im Plenum und in den Kommissionen. Das war relativ bescheiden.

Haben Sie damals überlegt, die FDP zu verlassen?

Da noch nicht. Ich wollte meine Ideen in die Partei hineintragen und dort etwas bewirken. Das ist auch gelungen. Baselland galt als linke FDP. 1972 haben wir Jüngeren ein Forum für liberale Politik gegründet, mit einem Manifest.

Gibt es jemanden, den Sie als Ihren akademischen Lehrer bezeichnen würden?

Ein paar. Die Lehrer in der Schule fand ich schrecklich. Einzige Ausnahme war Fritz Klaus, mein Klassenlehrer im Progymnasium. In der Uni hatte ich dann Glück. Max Imboden, der Staatsrechtler. Eine überragende Figur. Schon, wie er unterrichtet hat. Dann Kurt Eichenberger, auch ein Staatsrechtler. Auch Markus Mattmüller hat mich sehr geprägt.

Ihr Doktorvater.

Er hat Geschichte der Arbeiterparteien gelesen, Geschichte des Ersten Weltkriegs, Sozialgeschichte. Mattmüller war ein Anhänger der École des Annales. Er hat selbst eine Schule gegründet, mit vielen Dissertationen zur Bevölkerungsgeschichte der Schweiz im 18. Jahrhundert.

Sie haben über etwas anderes geschrieben (vgl. Blum 1977).

Ja, ich war nicht dabei.

Sie waren Assistent von Herbert Lüthy.

Einer der wenigen Universalhistoriker, ja. Ich hatte immer Angst, dass ich gar nicht verstehe, was er sagt. Lüthy hatte in fünf Minuten tausend Assoziationen. Ich wurde dann trotzdem zu seinem Übersetzer: Nach seiner Sprechstunde kamen die Studierenden zu mir, und ich habe ihnen gesagt, was er wahrscheinlich gemeint hat.

Wir haben gelesen, dass Lüthy im Krieg auch Journalist war.

Er hatte eine Kolumne im St. Galler Tagblatt, hat für den Monat geschrieben und war von Paris aus Korrespondent für die Tat in Zürich. Sein Buch Frankreichs Uhren gehen anders hat einen starken journalistischen Einschlag (vgl. Lüthy 1954). Seine anderen Werke waren dann rein wissenschaftlich. Es gab bei ihm beide Seiten. Lüthy hat sich auch politisch eingemischt.

Das hat also gepasst.

Ja. Ich wäre aber nicht auf die Idee gekommen, bei ihm Assistent sein zu wollen. Markus Mattmüller hat gesagt, Lüthy brauche jemanden, der Sinn für das Praktische hat. Es gab aber noch mehr Lehrer, die mich beeindruckt haben.

Wollen Sie die noch nennen?

Adolf Gasser zum Beispiel, der antifaschistische Leitartikler der Basler National-Zeitung zur Nazi-Zeit, mit Vorlesungen zur Verfassungsgeschichte. Mit ihm habe ich ein Seminar gemacht zur Fischer-These, zur Entfesselung des Ersten Weltkriegs (vgl. Fischer 1961). Dann Walter Muschg, der Germanist. Er starb früh in meinem Studium.

Wie sind Sie zu Ihrem Promotionsthema gekommen?

Das war lustig. Der Politologe Erich Gruner aus Bern hat ein Parlamentarier-Lexikon gemacht, 1848 bis 1918 (vgl. Gruner 1966). Für Baselland hat ihm Fritz Klaus zugearbeitet, mein alter Klassenlehrer. Als Gruner dann auf gleiche Weise eine Parteiengeschichte schreiben wollte (vgl. Gruner 1969), hatte Klaus genug und schlug mich als Mitarbeiter vor. Ich sagte zu und wollte dann mit einer Parteiengeschichte von Baselland promovieren, merkte aber rasch, dass der Parteienbegriff im 19. Jahrhundert nicht taugt. Es wurde dann eine Geschichte der Demokratie – und zugleich eine Pressegeschichte (vgl. Blum 1977).

Nach der Promotion hatten Sie drei Karriereoptionen. Wann haben Sie gewusst, dass Sie zunächst im Journalismus weitermachen und nicht in der Politik oder an der Universität?

Dass der Weg in die Politik geschlossen ist, war schon 1974/75 klar. In der Kantonsregierung war ein Mitglied zu ersetzen. Gewählt wurde ein Parteikollege, der nur ein paar Jahre älter war als ich. Und an die Uni wollte ich nicht.

Warum nicht?

Ich habe einfach gesehen, wie gescheit meine Kollegen dort alle waren. Es hat mich auch nicht gereizt. Ich habe mich als Journalist zunächst erfolglos bei der NZZ beworben, und dann kam die Anfrage aus Luzern.

Wenn es damals schon Untersuchungen zum journalistischen Selbstverständnis gegeben hätte: Wo hätte sich der Innenpolitikredakteur Roger Blum eingeordnet?

Ich war nie ein investigativer Journalist. Nachrichten, Recherche, Aufklärung und Interpretation waren mir wichtig. Kommentare habe ich immer geschrieben, auch schon für den Pressedienst der Freisinnigen, den ich im Baselland einige Jahre gemacht habe.

Hat der aufklärende Journalist Roger Blum in den 1970er-Jahren beobachtet, was die Publizistikwissenschaft in Zürich gemacht hat, vielleicht auch in Fribourg oder Bern?

Wenig. Man hat das Fach kaum wahrgenommen. Ich wusste, dass es in Zürich so etwas gibt, und hatte gehört, dass Christian Padrutt jetzt dort sei. Ich kannte ihn aus der FDP. Im Studium habe ich nebenbei die Bändchen von Dovifat gelesen (vgl. Dovifat 1931, 1937) und mir auch sonst alles angeschaut, was zum Journalismus gepasst hat. Die Wirren um die Berufung von Ulrich Saxer in Zürich habe ich aber damals nicht mitbekommen.

Sie haben bei den Luzerner Neusten Nachrichten gekündigt, als Chefredakteur Jürg Tobler von Ringier entlassen wurde, und waren eine Zeit arbeitslos (vgl. Blum 1992: 96).

Die Konstellation hat uns keine Wahl gelassen. Sechs von etwa 50 Redakteuren haben fristlos gekündigt und rund 30 mit Frist.

Was war passiert?

Die Luzerner Neusten Nachrichten gehörten seit 1974 zu Ringier. Jürg Tobler hat dort eine sehr anspruchsvolle Idee von Journalismus vertreten und realisiert. Manchmal mit der Peitsche. Die Zeitung hatte Vorbildcharakter in der Schweiz. Deshalb bin ich dort auch ohne zu zögern hingegangen. Ende 1979 wollte der CEO von Ringier dann aber, dass mehr Geld verdient wird. Regionalisieren, boulevardisieren.

Das Aus für Tobler.

Nicht sofort. Tobler hat das auf seine Art umgesetzt, mit einer regionalen Frontseite und aktuellen Themen. Im Februar 1980 gab es Entwarnung. Wir haben das gefeiert, aber wir waren misstrauisch, und ich habe ein Komitee mit drei Redakteuren gebildet, um rasch handeln zu können. Als Tobler im Oktober entlassen wurde, haben wir noch in der gleichen Nacht ein Flugblatt gemacht. Die Stadtbevölkerung war auf unserer Seite. Wir haben einen Verein gegründet und versucht, eine neue Zeitung zu machen. Das war eine Prinzipienfrage.

Prinzipien vs. Karriere und Versorgung der Familie.

Es gab Leute, die gesagt haben, ich kann mir das nicht leisten. Viele wussten aber, dass sie Angebote bekommen. Bei mir gab es vorher schon Abwerbungsversuche vom Tages-Anzeiger.

Als Mitglied der Chefredaktion waren Sie dort ab Mitte der 1980er-Jahre fast auf dem journalistischen Olymp. Warum steigt man von da auf einen halben Lehrstuhl herab?

Das weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich hatte ich schon immer beide Seiten. Als ich 1958 wegen meines Asthmas in den Sommerferien in Graubünden war, haben mich die anderen Kinder Professor genannt. Auch Hans Tschäni, mein Vorgänger in der innenpolitischen Redaktion, hat immer gesagt, dass ich eigentlich an die Uni gehöre.

Sie müssen sich ja beworben haben.

Jörg Paul Müller, der Berner Grundrechtler, hat mich angerufen und gesagt, er habe gerade eine Stellenanzeige aufgegeben, die genau auf mich passe. Medienwissenschaft in Bern. Ich dachte erst, er spinnt, habe mir das dann aber angehört und eine Bewerbung losgeschickt.

Hat Sie nicht abgeschreckt, dass es nur eine halbe Stelle war?

Ich kannte ja die Zustände in Bern nicht. Ich wusste nur, dass Printmedienerfahrung vorausgesetzt wurde und dass man zur Hälfte im Journalismus bleiben sollte. Viktor Schlumpf, der Chefredakteur, war einverstanden, dass ich als Teilzeit-Korrespondent ins Bundeshaus gehe. An der Uni habe ich gemerkt, dass ich nicht einfach aus der Praxis erzählen konnte. Da wurde mehr erwartet. Das hat mich dann schon ziemlich gefordert.

War es für die Kolleginnen und Kollegen an der Universität und damit vielleicht auch für die Position des Fachs ein Problem, dass Sie in den anderthalb Jahrzehnten nach der Promotion nur lose mit der akademischen Forschung verbunden waren?

Schon. In der Berufungskommission gab es ein paar Leute, die unbedingt mich wollten, aber wirkliche Argumente hatten sie nicht. Sie konnten höchstens sagen, dass ich eine klare Haltung habe. Wissenschaftlich gab es von mir außer ein paar historischen und politologischen Aufsätzen nichts. In der Fakultät wurde lange diskutiert. Es gab auch Vorbehalte gegen das Fach. Ein Nebenfach, das lange nur durch zwei nebenamtliche Professoren gestützt wurde und weder Fisch noch Vogel war.

Matthias Steinmann auf der Tagung zum zehnjährigen Jubiläums des Berner Instituts 2002 (Quelle: Blum 2010)

Matthias Steinmann auf der Tagung zum zehnjährigen Jubiläums des Berner Instituts 2002 (Quelle: Blum 2010)

Matthias Steinmann ist im Nebenamt geblieben.

Er hat mir das Leben schwer gemacht. Er wollte gleichberechtigt sein und war erstaunt, dass ich in der Fakultät war und er nicht.

Walter Hagemann wurde in Münster von den Etablierten nicht ernst genommen, weil er ein profilierter Journalist war und kein klassischer Akademiker (vgl. Wiedemann 2012).

Das habe ich so nicht erlebt. Die Sozialwissenschaftler haben mich immer gestützt. Es hat sicher eine Rolle gespielt, wie ich mich in der Fakultät verhalten habe. Ich habe immer versucht, nicht opportunistisch zu sein. In Berufungsverfahren zum Beispiel. Die Universitätsleitung hat dem Fach aber nie richtig Rückhalt gegeben.

Woran machen Sie das fest?

Wenn ich in der Vorlesung einen Minister zu Gast hatte und die Universitätsleitung gefragt habe, ob man ihn begrüßen wolle, gab es nicht einmal eine Antwort. In Basel, wo ich eine Zeit lang auch einen Lehrauftrag hatte, war es selbstverständlich, dass in einem solchen Fall der Rektor kam.

In dem Rechenschaftsbericht, den Sie nach Ihrem Abschied in Bern geschrieben haben, ist viel vom Kampf um Ressourcen die Rede, auch von einer Rücktrittsdrohung (vgl. Blum 2010). Warum sind Sie geblieben?

Der Dekan hat geschickt reagiert. Walter Kälin, der Völkerrechtler. Er hat eine Strukturkommission eingesetzt und dafür gesorgt, dass es mehr Mittel gibt.

Der Rechenschaftsbericht trägt den Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis im Titel. Bedauern Sie, dass die Praxisorientierung der „Berner Schule“ mit Ihnen verabschiedet wurde?

Die Journalisten Ursula Hürzeler (Radio DRS) und Werner Bossardt (Tages-Anzeiger) 2004 in Berlin mit Roger Blum (Quelle: Blum 2010)

Die Journalisten Ursula Hürzeler (Radio DRS) und Werner Bossardt (Tages-Anzeiger) 2004 in Berlin mit Roger Blum (Quelle: Blum 2010)

Es hätte ja mit der Fokussierung auf politische Kommunikation weitergehen können als Brücke zur Politikpraxis in der Bundesstadt Bern. Das ist genauso attraktiv wie in Berlin. Silke Adam macht das aber einfach nicht.

Die Brücke zur journalistischen Praxis wurde gekappt.

Ja. Diese Highlights, von denen die Studierenden noch jahrelang geredet haben. Die Reportagewochen in Hamburg, Wien und Berlin zum Beispiel. Das gab es schon bei mir am Ende nicht mehr. Das war die Konsequenz eines politischen Handels. Wir haben unter den Sozialwissenschaftlern das Departement gestärkt, um die Soziologie in Bern zu halten. Gleichzeitig konnte ich dadurch mein Fach fest etablieren – mit dem Schwerpunkt politische Kommunikation.

Den Lehrstuhl sichern.

Zum ersten Mal unbefristet im Vollamt, ja.

Warum haben Sie diesen Rechenschaftsbericht überhaupt geschrieben (vgl. Blum 2010)?

Nach 20 Jahren muss man einfach sagen, was passiert ist in dieser Zeit. Was waren eigentlich die Intentionen und was ist vielleicht auch nicht gelungen.

Sie haben sich in der SGKM engagiert und waren dort sechs Jahre Vorsitzender. Brauchen die Schweizer eine eigene Fachgesellschaft oder würde nicht auch die DGPuK reichen?

Das hat mit der Viersprachigkeit des Landes zu tun. Die DGPuK allein wäre ein falsches Signal. Die SGKM ist als Klammer zwischen den Sprachregionen wichtig.

Gibt es eine eigenständige Schweizer Fachkultur?

Wir haben die übliche Provinzverspätung. Die DGPuK war schon länger auf einem rein wissenschaftlichen Weg. Als die SGKM 1974 gegründet wurde, saßen auch Journalisten mit im Vorstand. Lange gab es zwei Tagungen im Jahr. Eine eher akademische und eine eher praxisorientierte, was immer auch Forschungspraxis hieß. Marktforschung zum Beispiel. Als ich Präsident wurde, haben wir die konsequente Akademisierung eingeleitet.

Mit einem ehemaligen Praktiker an der Spitze.

Das ist komisch, ja. Kurt Imhof hat eine Philippika gehalten gegen die bisherige Arbeit (vgl. Blum 2015). Matthias Steinmann ist wutentbrannt gegangen und hat versucht, eine Gegengesellschaft zu gründen. Es gibt aber einen Unterschied zur DGPuK.

Welchen?

Die SGKM vereint Kommunikations- und Medienwissenschaft. 2004 hatten wir eine internationale Evaluation des Gesamtfachs in der Schweiz. Klaus Schönbach hat die Kommission geleitet und darauf gedrängt, dass man die Leistungen quantifiziert, das Fach internationalisiert und Vielsprachigkeit und Vielgestaltigkeit zum Markenzeichen macht. Außerdem wurde eine Zukunftskommission eingesetzt. Da gab es dann wirklich Krach zwischen den beiden Ausrichtungen, aber Werner Wirth und mir ist es gelungen, das zu befrieden.

Wie wichtig waren und sind Ihnen die Positionen in der Medien-Selbstkontrolle?

Ich habe mich da ein Stück weit selbst verwirklichen können und das auch als Vernetzung zwischen den beiden Welten gesehen. Geplant war das aber nicht.

Wahrscheinlich gab es wieder einen Anruf.

Gab es wirklich, ja. 1991, vom Journalistenverband. Ich kannte die Kollegin vom Tages-Anzeiger. Sie hat gesagt, ich sei Professor und das passe gut zum Presserat. Bei der UBI habe ich mich dann aber selbst gemeldet. Ich fand, dass das eine gute Ergänzung war zu dem, was ich vorher schon gemacht habe. Ich war ja auch stellvertretender Ombudsmann für den SRG-Bereich Deutschschweiz.

Warum haben Sie als Pensionär noch ein Buch gemacht?

Welches? Das über die Mediensysteme (Blum 2014) oder das, was noch kommt?

Es kommt noch eins?

Ein Buch zur Medienregulierung, ja. Ich habe ja nie etwas Größeres publiziert. Ich musste ständig um Ressourcen kämpfen. Eigentlich wollte ich ein Buch veröffentlichen über den politischen Journalismus und habe dafür auch vergleichend recherchiert – in Frankreich, in den USA, in Großbritannien, in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz. Parallel ist der Ansatz zum Vergleich von Mediensystemen entstanden (vgl. Blum 2005). Auf meinem Abschiedssymposium hat Hartmut Wessler gefordert, ich solle daraus endlich ein Buch machen.

Wikipedia beschreibt Sie als „Historiker, Journalist und Medienwissenschaftler“. Gefällt Ihnen diese Reihenfolge?

Zeitlich ist das okay. Medienwissenschaftler bin ich erst zum Schluss geworden. Als Historiker habe ich aber nie richtig Fuß gefasst. Da ist mein Beitrag bescheiden. Journalist bin ich immer noch. Das ist das, was ich im Herzen trage.

Gibt es Wissenschaftler oder Journalisten, die für Sie eine Vorbildfunktion hatten oder haben?

Die Chefredakteurinnen (v.l.) Ursula Fraefel (Thurgauer Zeitung), Colette Gradwohl (Landbote) und Catherine Duttweiler (Bieler Tagblatt) im Interview mit Roger Blum (Quelle: Blum 2010)

Die Chefredakteurinnen (v.l.) Ursula Fraefel (Thurgauer Zeitung), Colette Gradwohl (Landbote) und Catherine Duttweiler (Bieler Tagblatt) im Interview mit Roger Blum (Quelle: Blum 2010)

Jürg Tobler, wenn ich mit einem Journalisten beginnen darf. Auch Oskar Reck, der erster Präsident der UBI war. Ein sehr guter Kommentator. Wir haben ein Buch über ihn gemacht (vgl. Blum 1996, Oppenheim 2003). Ich habe alle seine Artikel durchgeforstet. Bewundert habe ich auch Herbert Riehl-Heyse.

Gibt es einen Link zwischen diesen drei Journalisten?

Ich glaube nicht. Sie sind sehr verschieden. Jürg Tobler hat gezeigt, wie man Journalismus macht. Konzeptionell, fast schon theoretisch. Wie bricht man nationale Themen auf das Lokale runter. Oskar Reck war ein Analytiker und Riehl-Heyse hat mit einem lockeren Stil Themen gründlich bearbeitet. Ich würde da auch Hans Leyendecker nennen oder Axel Hacke. Überhaupt die Süddeutsche. Ich habe schon E-Mails geschrieben, wenn mich eine Seite drei begeistert hat.

Und in der Wissenschaft?

Als ich meine erste Vorlesung vorbereiten musste, habe ich Manfred Knoche (1978) gelesen. Das fand ich eindrucksvoll. Auch Siegfried Weischenberg mit seiner Journalistik (vgl. Weischenberg 1992/95) und die Sammelbände, die Wolfgang Langenbucher herausgegeben hat (vgl. exemplarisch Langenbucher 1986). Oder Kuhn/Neveu (2002) zum politischen Journalismus. Und auch Kurt Imhof. Ulrich Saxer war mir immer zu sperrig (vgl. Saxer 2012). Mit ihm habe ich lieber getrunken als ihn zu lesen.

Zu welchen Kollegen hatten oder haben Sie einen besonders guten Draht?

Zu einigen. In der Schweiz zu Heinz Bonfadelli. Wir haben viele Projekte zusammen gemacht. Immer sehr angenehm. Kurt Imhof natürlich. Das ging stark von ihm aus. Er hat gesagt, ich brauche dich hier, ich brauche dich da. Als es darum ging, die SGKM von Matthias Steinmann zu lösen, habe ich ihn gebraucht. Im Vorstand, als Kassierer. Und dann gibt es weitere Leute, zu denen man eine freundschaftliche Beziehung hat: Gabriele Siegert, Hartmut Wessler, Barbara Pfetsch, Otfried Jarren, und Stephan Ruß-Mohl. Ewig kenne ich Michael Haller.

Haller hat auch in Basel studiert.

Er war damals Redakteur der Studierendenzeitschrift. Später hat er bei der Basler National-Zeitung die Parlamentsberichterstattung für Baselland betreut, als ich Abgeordneter war. Mit Walter Hömberg und Heinz Pürer habe ich bei UVK die Reihe Forschungsfeld Kommunikation herausgegeben. Einen recht herzlichen Kontakt habe ich zu Martina Thiele, die mehrmals für Seminare in Bern war.

Gibt es Gegner, Konkurrenten, Feinde?

Matthias Steinmann war ein Gegenspieler. Das eine Mal hat er mir vorgeworfen, ich sei kein richtiger Wissenschaftler, und beim nächsten Mal hieß es, ich hätte kein Verständnis für die Praxis. Wahrscheinlich gibt es Leute, die meine Interpretation des Fachs nicht teilen. Gut verstanden habe ich mich mit denen, die auch versucht haben, Brücken zur Praxis zu bauen.

Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

In der Wissenschaft?

Ja.

Dass dieses Buch noch gelungen ist (vgl. Blum 2014). Das befriedigt mich. Neulich hat mich ein Facebook-Eintrag gerührt. Zwei Absolventinnen, die sich einig waren, dass das Beste in Bern Roger Blum gewesen sei. Ich finde schön, dass dort etwas bleibt. Die Exkursionen, die Übungen in Solothurn. Dinge, die aus dem Alltag herausragen.

Gibt es etwas, was Sie heute anders machen würden?

Vieles. Ich würde anders studieren.

So weit zurück?

Ja. Ich würde ein Jahr ins Ausland gehen. Mein Englisch ist schlechter als mein Französisch und teilweise sogar als mein Italienisch. Ich würde außerdem versuchen, Geschichte und Kommunikationswissenschaft zu kombinieren. Wenn ich noch mal an die Uni käme, würde ich auch anders verhandeln, um das Fach sofort richtig zu etablieren.

In Ihrem Rechenschaftsbericht haben Sie beklagt, dass die Doktoranden zu eigenwillig gewesen seien (Blum 2010: 21).

Auch das, ja. Es ist mir nie gelungen, sie auf die Themen einzuschwören, die mir wichtig waren. Die haben alle etwas anderes gemacht.

Michael Schmolke (2007: 130) hat es als Stärke verkauft, dass er keine Schule gebildet hat und seine vier Habilitanden einfach machen konnten.

Ich fand es schade, Gutachten zu Themen zu schreiben, die mir nicht so am Herzen lagen. Einige der Mitarbeiter sind ja trotzdem Professoren geworden. Jan Otmar Hesse, Jasper Friedrich und Daniel Perrin.

Was soll eines Tages von Roger Blum in der Kommunikationswissenschaft bleiben, wenn Sie Einfluss darauf hätten, was bleibt?

Vielleicht dieses Buch (Blum 2014) als Ausgangspunkt für weitere Forschung.

Literaturangaben

  • Roger Blum: Die politische Beteiligung des Volkes im jungen Kanton Baselland 1832–1875. Liestal: Kantonale Drucksachen- und Materialienzentrale 1977.
  • Roger Blum: Schweizer Medien im Lauf der Geschichte: ein „Bannwald der Demokratie“? In: Michael Haller/Helmut Holzhey (Hrsg.): Medien-Ethik. Beschreibungen, Analysen, Konzepte für den deutschsprachigen Journalismus. Opladen: Westdeutscher Verlag 1992, S. 87-96.
  • Roger Blum (Hrsg.): Oskar Reck (1920-1996). Publizist, Rhetor, „Linienrichter“. Basel: Basler Stadtbuch 1996.
  • Roger Blum: Bausteine zu einer Theorie der Mediensysteme. In: Medienwissenschaft Schweiz 2005 (1-2), S. 5-11.
  • Roger Blum: 20 Jahre Brückenschlag zwischen Medientheorie und Medienpraxis. Ein Rechenschaftsbericht. Bern: Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft 2010.
  • Roger Blum: Lautsprecher und Widersprecher. Ein Ansatz zum Vergleich der Mediensysteme. Köln: Herbert von Halem 2014.
  • Roger Blum: Kurt Imhof. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015.
  • Roger Blum: Meine Verwandtschaft mit Karl Weber. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2016.
  • Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft. Zwei Bände. Berlin: de Gruyter 1931.
  • Emil Dovifat: Zeitungslehre. Zwei Bände. Berlin: de Gruyter 1937.
  • Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf: Droste 1961.
  • Erich Gruner: Die Schweizerische Bundesversammlung 1848-1920. Zwei Bände. Bern: Francke 1966.
  • Erich Gruner: Die Parteien in der Schweiz. Bern: Francke 1969.
  • Manfred Knoche: Einführung in die Pressekonzentrationsforschung. Theoretische und empirische Grundlagen – kommunikationspolitische Voraussetzungen. Berlin: Volker Spiess 1978.
  • Raymond Kuhn/Erik Neveu (Eds.): Political journalism. New challenges, new practices. London: Routledge 2002.
  • Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Textbuch zur Einführung in ihre Teildisziplinen. Wien: Braumüller 1986.
  • Herbert Lüthy: Frankreichs Uhren gehen anders. Zürich: Europa 1954.
  • Roy Oppenheim (Hrsg.): Journalismus aus Leidenschaft: Oskar Reck – Ein Leben für das Wort. Bern: Stämpfli 2003.
  • Ulrich Saxer: Mediengesellschaft. Eine kommunikationssoziologische Perspektive. Wiesbaden: Springer VS 2012.
  • Michael Schmolke: Am Ende war ich selbst ein Großfürst. In: Michael Meyen/Maria Löblich: „Ich habe dieses Fach erfunden“. Wie die Kommunikationswissenschaft an die deutschsprachigen Universitäten kam. 19 biografische Interviews. Köln: Herbert von Halem 2007, S. 116-135.
  • Siegfried Weischenberg: Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medienkommunikation. Zwei Bände. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1992/95.
  • Thomas Wiedemann: Walter Hagemann. Aufstieg und Fall eines politisch ambitionierten Journalisten und Publizistikwissenschaftlers. Köln: Herbert von Halem 2012.

Empfohlene Zitierweise

    Roger Blum: Den Journalismus trage ich im Herzen. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015. http://blexkom.halemverlag.de/blum-interview/ ‎(Datum des Zugriffs).