Bernd Blöbaum: Rückblicke und Ausblicke

Beitrag von Gerhard Vowe am 18. August 2022

Bernd Blöbaum, seit 2001 Inhaber eines Lehrstuhls für Medientheorie und Medienpraxis an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, ist im April 2022 in den Ruhestand verabschiedet worden. BLexKom veröffentlicht eine Würdigung von Gerhard Vowe.

Dieser Text ist die Schriftfassung eines Vortrags, gehalten auf einer Veranstaltung zur Verabschiedung von Bernd Blöbaum am 8. April 2022 an der Universität Münster.

Bernd Blöbaum: Rückblicke und Ausblicke

Eine Würdigung zur Verabschiedung eines Kollegen hat viel gemein mit einer Rede am offenen Grab, unterscheidet sich aber in einem gewichtigen Punkt: Der Besungene ist zumeist noch hellwach und spitzt die Ohren, ob da ein falscher Ton mitschwingt und ob das Material, das er selbstlos zur Verfügung gestellt hat, auch gründlich durchgearbeitet wurde, vor allem, ob die Titel von Magisterarbeit und Dissertation korrekt und vollständig und mit der nötigen Inbrunst wiedergegeben werden. Sie sehen mich hier also auf sehr dünnem Eis schliddern, aber es sind ja etliche Ersthelfer anwesend, die mich notfalls aus dem Loch ziehen.

Bernd Blöbaum

Also dann mal los. Rückblicke und Ausblicke. Was zeigt uns der Blick zurück? Unser Gedächtnis ist ein guter Ratgeber bei der Auswahl, was sich letztlich zu erinnern lohnt: Was hat sich mir als Begegnung mit Bernd eingeprägt? Ich sehe, wie Bernd rubriziert: „Szenischer Einstieg. Mal sehen…!“ Also: Es ist weit über 20 Jahre her, da saßen wir beide am Berliner Gendarmenmarkt in einer Lokalität, einer eigentümlichen Mischung aus Vor-Wende-Budike und Nach-Wende-Boutique – und das betraf nicht nur die Einrichtung, sondern auch die Wirtin. Es ging wie so oft in dieser Zeit um eine Berufung, Bernd war im Rennen und bog auf die Zielgerade ein, und ich betrieb, man würde heute sagen: „Erwartungsmanagement“. Ich machte also die enormen Schwierigkeiten deutlich, die seiner Berufung entgegenstünden. Und da sagte Bernd irgendwann: „Wenn es nicht klappt, dann klappt es eben nicht“. Da war ich verblüfft. Über dieses Ausmaß an Gelassenheit, und die war authentisch, nicht vorgegaukelt, wie mir nonverbale Zeichen verlässlich signalisierten. So etwas wird nicht antrainiert, so etwas ist elementarer Teil von Persönlichkeit. Und damit sind wir in Herford, dem Geburtsort von Bernd, und das liegt in? Richtig: in Westfalen, genauer in Ostwestfalen.

Bernd ist aufgewachsen in Herford, hat in Löhne, ebenfalls Ostwestfalen, die Schule besucht. Wofür ist das wichtig? Die Antwort hat der diesjährige Oscar-Favorit Kenneth Branagh so formuliert: „Wir alle haben eine Geschichte. Sie unterscheidet sich von anderen nicht dadurch, wie sie endet, sondern durch den Ort, an dem sie beginnt.“ Und Bernds Geschichte beginnt in Herford. Das prägt und das trägt jemanden auch durch das Studium Anfang der 80er in Berlin, dem absoluten Gegenpol zu Gelassenheit. Und wo hat er volontiert? Bei der Neuen Westfälischen. Und wo hat er dann promoviert und sich habilitiert? In Dortmund, in Hörweite des Westfalenstadions. Und ist dann schließlich nach Irrfahrten im Hanseatischen und Fränkischen wieder nach Hause zurückgekehrt, nach Münster, an die Westfälische Wilhelms-Universität. Und er wohnt bis heute in Bielefeld, dem Inbegriff des Westfälischen. Damit will ich nicht insinuieren, dass er provinziell oder borniert wäre. Bernd hat viel im Ausland gewirkt, beispielsweise in Salzburg, in Lissabon, ja: in Moskau. Aber ein Westfale hat seinen eigenen Blick auf die Welt. Bernd ist der Prototyp des westfälischen Kommunikationswissenschaftlers, so wie es auch den Prototypen des wienerischen oder des pfälzischen oder des rheinpreußischen Kommunikationswissenschaftlers gibt. Ihn zeichnet Beharrlichkeit aus, positiv konnotiert als Zuverlässigkeit und Besonnenheit. Bernd überlegt. Bernd wägt ab. Bernd gleicht aus.

Bernd bringt das Westfälische in die Kommunikationswissenschaft ein, und das zeigt sich an vielen Facetten seines Wirkens, beispielsweise an seinen Themen. Bernd ist ganz sicher nicht jemand, der als erster in Deutschland eine Lehrveranstaltung zu TikTok anbietet oder hybride Protestformen der Querdenkerszene untersucht, in teilnehmender Beobachtung. Nein, denn er ist jemand, der weiterhin den professionellen Journalismus ins Zentrum rückt – da, wo der hingehört, in analoger und in digitaler Form. Denn dafür bildet er vor allem aus, für einen Journalismus, der sich unter enormen Herausforderungen rapide wandelt.

Eine zweite Facette des Westfälischen in seinem Wirken: Bernd ist jemand, auf den sich Promovierende und Studierende verlassen können. 15 Promotionen hat er betreut, 159 Magisterarbeiten, 53 Masterarbeiten und 96 Bachelorarbeiten – insgesamt 323 Menschen (und deren Angehörige) haben sich auf ihn angesichts einer existenziellen Herausforderung verlassen können – von der ersten Idee bis zur letzten Note. Bernd hat ihnen Sicherheit in einer Situation gegeben, in der sehr viele höchst verunsichert sind – etliche zum ersten Mal wirklich auf sich allein gestellt, mit offenem Ende, mit hohen Risiken. Dafür wünscht man sich einen Westfalen.

Blöbaum 2021

Und, dritte Facette des Westfälischen: Bernd ist jemand, dem es als einem der wenigen Kommunikationswissenschaftler in Deutschland gelungen ist, sehr eigenständige und sehr unterschiedliche Forscherinnen und Forscher dazu zu bringen, fast zehn Jahre miteinander zu kooperieren. Von 2012 bis 2021 war er Sprecher des Graduiertenkollegs „Vertrauen und Kommunikation in einer digitalisierten Welt“. Vertrauen war sein zentrales Thema. Vertrauen in Wissenschaft, Vertrauen in und im Journalismus, Vertrauen in Organisationen, Vertrauen in Politik. Das schöne an Vertrauen ist: Man kann es erforschen, aber man kann es auch erleben! Das ist bei Themen wie Korruption, Desinformation oder Inzivilität weniger möglich und wenn, dann nicht sonderlich angenehm. Anders bei Vertrauen: Bernd hat man vertraut, und zwar die Gutachter, die Entscheider in den DFG-Gremien und nicht zuletzt die beteiligten PIs. Und auch in der Uni hat man Bernd vertraut und Bernd mit Ämtern betraut. Und die Fachgemeinschaft hat Bernd vertraut und ihn zum Fachgruppensprecher und in ihre Ethikkommission gewählt. Und Bernd hat dieses Vertrauen nicht enttäuscht.

Bernd: In Forschung, Lehre und Management hast Du die Chancen genutzt, die man Dir mit der Position eines Universitätsprofessors eröffnet hat. Und damit hast Du wiederum sehr vielen Menschen Chancen eröffnet, Türen geöffnet – Türen zur Wissenschaft, zu Forschung und Lehre. Und etliche sind durch diese Türen gegangen.

Nun aber „Augen – gerade aus!“ Den Ton kennt der Zivildienstleistende Bernd Blöbaum nur aus Filmen und Büchern. Zivil gesprochen: Wie geht es weiter? Da interessiert mich jetzt nicht, wie es im Institut ohne Bernd Blöbaum weitergehen soll. Da mache ich mir nicht die geringsten Sorgen. Zumeist rütteln sich die Hinterbliebenen nach einer Schrecksekunde doch rasch zurecht und erörtern alsbald erstaunlich konkrete Pläne, die zeigen, dass sie länger schon über die Zeit ohne denjenigen nachgedacht haben. Wichtiger und brennender ist, wie Du das hinbekommst, wie Du mit dieser Zäsur leben wirst. Sicher: Deine Familie, Dein Verein, Dein Schöffenamt, Deine Neugier auf fremde Länder und andere Sitten, die schönen Künste – alles das fordert gebieterisch mehr Zeit und Einsatz. Aber reicht das? Du wirst einiges vermissen. Eine kleine Vorschau: So wird Dir die Differenz von Gehalt und Pension mehr zu schaffen machen, als Du jetzt noch meinst. Du wirst überlegen, ob du dir das Abonnement der Zeit noch leisten kannst. Vielleicht doch lieber in der Stadtbücherei lesen? Da kommt man auch schneller durch, weil der nächste Rentner bereits wartet, das spart dann auch Zeit. Du wirst in einen pekuniären Abgrund schauen. Abstrakt weißt Du, was das heißt, Ruhegehaltssatz, minus 29,75 Prozent. Aber wenn sich das erst einmal auf dem Abendbrottisch abzeichnet, wenn Du in entgeisterte Augen blicken musst, die die bislang selbstverständliche Vielfalt beim Aufschnitt vermissen. Westfälischer Knochenschinken vom Bentheimer Landschwein? Gibt es erst, wenn die Waschmaschine repariert ist. Dann wird das sehr konkret. Geld ist das eine, der Takt das andere. Bislang ist Dein Leben durchgetimt, nun drohen weite Teile des Tages und der Woche in einem Zeitbrei zu verschwimmen. Und dann Dein Netz: Noch zwingt Dich die vermaledeite Lehre, Dich mit Lebensweisen und Sprachformen und Ansichten auseinanderzusetzen, die ziemlich anders sind als Deine. Aber bald werden die Knoten in Deinem Netz fast alle gleich alt und Dir sehr ähnlich sein. Das unterstützt den alterungsbedingten Hang zur Trägheit, aber macht auch unzufrieden.

Ja, und dann der Sinn! Wir Älteren ziehen Sinn vor allem aus der Arbeit, aus dem Beruf, der bei uns immer auch Berufung ist. Das wird nun anders werden, Bernd. Diese Sinnquelle wird versiegen.

Und da setzt meine als guter Rat getarnte dringende Bitte an. Ich rate nicht dazu, dem Institut erhalten zu bleiben, das führt meist zu Reaktanz bei den Verbliebenen. Aber es könnte Sinn stiften, wenn Du doch dem Fach erhalten bliebest. Wie genau, ist unwichtig, vor allem hier und jetzt. Aber das Fach, unsere Kommunikationswissenschaft, braucht weiter Deine Erfahrung und Dein Engagement. Ich wünsche Dir von Herzen, dass Du Dir vor dem Spiegel zwischen Zahnbürste und Zahnseide sagen kannst: „Meine Pflicht habe ich erfüllt. Die Chancen, die man mir gegeben hat, habe ich genutzt. Und alles, was ich jetzt noch fachlich anpacke, das ist on top, das ist freiwillig.“ Und vor allem, füge ich hinzu: „Es ist sinnvoll!“ Denn Du wirst gebraucht, Bernd! Wir brauchen das Westfälische im Fach, lass mich nicht allein mit dem Bayrischem und dem Hanseatischen. Und damit: Danke für alles und Glück auf!

Empfohlene Zitierweise

    Gerhard Vowe: Bernd Blöbaum: Rückblicke und Ausblicke. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2022. http://blexkom.halemverlag.de/bernd-blöbaum-rückblicke-und-ausblicke/(Datum des Zugriffs).