Die Konstituierung des Fachs in Amsterdam

Im dritten Teil seiner Geschichte des Fachs in den Niederlanden zeigt Joan Hemels, wie sich Amsterdam zu einem weltweit anerkannten Zentrum entwickelte: Nach der Emeritierung von Maarten Rooij konnte Denis McQuail sein Renommee auf die niederländische Kommunikationswissenschaft übertragen.


Maarten Rooij emeritierte 1972. Seine Nachfolge gestaltete sich als schwierig. Die Berufung eines US-amerikanischen Kommunikationswissenschaftlers war naheliegend, aber diejenigen, die angesprochen wurden, zeigten kein Interesse. Der schon genannte Lee Thayer übernahm zwar eine Gastprofessur, aber er blieb nicht. So geriet letztendlich Denis McQuail (Jahrgang 1935) ins Blickfeld, ein Brite mit einem sozialhistorischen und soziologischen Hintergrund, der bereits einen Lehrstuhl an der Universität von Southampton innehatte. Er kam nach eigenen Angaben 1977 nach Amsterdam, weil er sich dort dank des Lehrauftrags für Massenkommunikation mit Medienforschung beschäftigen konnte. Die Berufung McQuails bedeutete eine große Bereicherung für das Studienprogramm der Amsterdamer freien Studienrichtungen der Massenkommunikation (seit 1976) und der Geschichte der Presse, Propaganda und öffentlichen Meinung (seit 1977).

1. Denis McQuails Berufung 1977 als Ordinarius nach Amsterdam

Passend zur akademischen Tradition der niederländischen Universitäten hielt McQuail bereits ein Jahr nach seiner Berufung eine Antrittsvorlesung. Gerade weil sich die Kommunikationswissenschaft in den Niederlanden notgedrungen noch im Wartezimmer der Sozialwissenschaften aufhielt, war sein Thema, die historischen Wurzeln (historicity) einer Wissenschaft der Massenmedien (of a science of mass media) darzulegen, so gut gewählt (vgl. McQuail 1978). McQuails wissenschaftstheoretische Argumentation unterstützte all diejenigen, die schon viele Jahre für eine selbstständige Studienrichtung gekämpft hatten. Seiner Meinung nach wurde Kommunikationswissenschaft zwar inhaltlich von anderen Sozialwissenschaften wie Sozialpsychologie, Soziologie und Politologie genährt, dennoch war sie nicht von ihnen abhängig. McQuails Schlussfolgerung ruft Maletzkes Standpunkt aus dem Jahr 1967 in Erinnerung. Letztgenannter meinte: „Selbst wenn sich die Publizistikwissenschaft ohne Rest aufteilen ließe, ist damit noch nicht das geringste gegen die Existenzberechtigung der Publizistikwissenschaft als selbständige wissenschaftliche Disziplin gesagt. Vielmehr kommt der Publizistikwissenschaft als Lehre von der gezielten öffentlichen Kommunikation aus zwingenden Gründen eine eigenständige Daseinsberechtigung zu“ (vgl. Maletzke 1967: 9).

Denis McQuail im Jahr 1991 (Foto: Henk Thomas, Bijzondere Collecties Universiteit van Amsterdam, Inv.-Nr. 159.909)

McQuail lehrte in den Anfangsjahren seiner Amsterdamer Professur als einziger Ordinarius – in harmonischer Zusammenarbeit mit einem noch relativ kleinen Team. Das Nebenfach Filmkunde war ein Bestandteil der Fachgruppe Massenkommunikation seit 1965. Das Studium der Kinematografie fing in den Niederlanden erst an, als der Filmkritiker und Journalist Janus (A. J. P.) van Domburg (1895 bis 1983) 1959 an der Universität Nijmegen Lektor für die Lehre des Films als kulturelles Ausdrucksmittel wurde. Er lehrte dieses Nebenfach für Studenten verschiedener Studienrichtungen, die es als Wahlfach wählen durften, bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1965 (vgl. Hemels 1972). Jan Marie Lambert Peters (1920 bis 2008) wurde 1964 als Privatdozent für Filmkunde an der Universität Amsterdam zugelassen. Schon zwei Jahre später wurde er außerplanmäßiger Lektor und 1980 außerplanmäßiger Professor für dieses Fachgebiet. Peters war der Gründer und der erste Direktor (1958 bis 1967) der niederländischen Filmakademie (Nederlandse Filmacademie) in Amsterdam und seit 1963 Gastdozent an der KU Leuven. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung 1985 war er an dieser Universität Professor für Literatur und audiovisuelle Kommunikation (vgl. Hesling/Van Poecke 1985).

Als Peters sich 1982 aus Amsterdam zurückzog, übernahm Jan Hes (1925 bis 1991) an der Universität Amsterdam bald die Lehre auf dem Spezialgebiet Filmkunde/audiovisuelle Kommunikation, wenn auch nicht auf einer (außerplanmäßigen) Professur, sondern als Dozent, und zwar bis zu seiner Emeritierung 1990 (vgl. N.N. 1991). Danach entwickelte sich Film- und Fernsehwissenschaft, zusammen mit Theaterwissenschaft, in der Fakultät der Geisteswissenschaften allmählich weiter zu dem Oberstudium Mediastudies, einer Studienrichtung, die man mit Medienwissenschaften in Deutschland vergleichen könnte.

Festschrift für Maarten Schneider zu seinem 80. Geburtstag (Hemels 1993). Links unten der Jubilar (Foto: Theo van Houts).

Der Initiator der freien Studienrichtung Geschichte der Presse, Propaganda und öffentlichen Meinung, Maarten Schneider (1913 bis 1998), verabschiedete sich 1982 nach insgesamt 23 Jahren (vgl. Hemels 1993: 43-45; 1999). In den Fußstapfen von Baschwitz war Schneider 1959 als Privatdozent an der Universität Amsterdam zugelassen worden, um die Fortsetzung der Lehre der Geschichte der Presse, Propaganda und öffentlichen Meinung zu gewährleisten. Der Volkswirtschaftler und Jurist Rooij hatte gerne auf diese Aufgabe verzichtet. Joan Hemels von der Universität Nijmegen wurde Schneiders Nachfolger. Wie seit 1966 für Schneider handelte es sich noch um eine ziemlich einzigartige Sonderdozentur [1]. In diesem Jahr wurde die unbezahlte Privatdozentur in eine bezahlte Sonderdozentur umgesetzt. Bis zur Entwicklung des Oberstudiums Medienstudien lehrte Hemels, wie vorher Schneider, auch in der geisteswissenschaftlichen Fakultät.

Einführung in die Kommunikationswissenschaft (Hemels 1982) mit einem Vorwort von Henk Prakke und einer ausführlichen Bibliografie

Anlässlich des Erscheinens der ersten niederländischen Einführung in die Publizistikwissenschaft vor 25 Jahren – Prakkes De samenspraak in onze samenleving (Das Zwiegespräch in unserer Gesellschaft) – veröffentlichte Hemels 1982 Massamedia als medespelers (Massenmedien als Mitspieler) als ein neues Lehrbuch für Studierende und als Sachbuch für general readers. Prakke betonte im Vorwort dieser Ausgabe, wie er sich während seiner Lehre in Groningen, Münster, Bologna und Iowa City immer am meisten gefreut hat „über den persönlichen Umgang mit angehenden Wissenschaftlern, die mitdenken wollten“ (Prakke 1982: 8). Sein wissenschaftlicher Nachwuchs bestätigte diesen freundschaftlichen Kontakt immer wieder (vgl. weiterführend Hemels 1990, 1999/2000; Hemels/Kutsch/Schmolke 2000).

Nachdem Kommunikationswissenschaft anerkannt worden war, wurde die Sonderdozentur von Hemels 1986 eine Professur in Teilzeit für Geschichte der Presse, Propaganda und öffentlichen Meinung. Als er 1987 seine Antrittsvorlesung gehalten hatte, wurde der Lehrauftrag umbenannt in Kommunikationswissenschaft, insbesondere Kommunikationsgeschichte. Dieser Lehrstuhl im Rahmen der Kommunikationswissenschaft blieb bis zu seiner Emeritierung 2009 in Teilzeit erhalten (vgl. Hemels 2010, 2014; Kutsch/Averbeck-Lietz/Eickmans 2014).

Joan Hemels im Jahr 1991 (Quelle: Lex de Lang, Bijzondere Collecties van de Universiteit van Amsterdam, Inv.-Nr. 130.465)

McQuail übernahm nach seiner Ernennung die Leitung der Fachgruppe Massenkommunikation an der Universität Amsterdam. Der Beginn des Oberstudiums Kommunikationswissenschaft im Studienjahr 1985/86 führte gleichzeitig zu einem Fusionsprozess der erwähnten Fachgruppe und dem 1972 von Brouwer gegründeten Baschwitz-Institut für Massenpsychologie und öffentliche Meinung (Baschwitz Instituut voor Massapsychologie). Brouwer übernahm den Vorsitz der erweiterten Fachgruppe. Nach einer kurzen Übergangsphase, in der beide Gebiete im Namen der Fachgruppe vorkamen, wählte man den Eigennamen Kommunikationswissenschaft für die Einheit von Lehre, Forschung und Verwaltung. Die Studierenden konnten nach dem Propädeutikum in einer der Sozialwissenschaften oder unter bestimmten Bedingungen auch in der geisteswissenschaftlichen Fakultät in den Anfangsjahren der Kommunikationswissenschaft aus den folgenden Spezialisierungen für das Abschlussexamen wählen: Sociaal-culturele communicatie (sozial-kulturelle Kommunikation), Openbare meningsvorming (öffentliche Meinungsbildung), Mediaorganisatie (Organisation der Medien) und Communicatiegeschiedenis (Kommunikationsgeschichte; vgl. N.N. 1986).

Jan J. van Cuilenburg (Foto: privat)

Als sich Kommunikationswissenschaft im Studienjahr 1992/93 letztendlich als ein selbstständiger Studiengang mit einem eigenen Propädeutikum etablieren durfte, kam zu den bereits bestehenden Spezialisierungen Mediastudies (Medienstudien), Beleidsstudies (medienpolitische Studien) und Publieksstudies (Rezipientenforschung) noch der Bereich Informatiestudies hinzu. Die letztgenannte Spezialisierung lässt sich kaum mit dem Begriff Informationsstudien übersetzen. Es handelte sich (ganz allgemein formuliert) um Angebot und Nachfrage bezüglich Information in einem gesellschaftlichen, medialen und technologischen Kontext. Der damalige Vorsitzende der Abteilung Kommunikationswissenschaft, Jan J. van Cuilenburg (Jahrgang 1946), hielt Begriffe und Themen wie access to information, diversity in information provision, information overload, information gap und information age auch für Kommunikationswissenschaftler für wichtig (vgl. Van Cuilenburg 1998).

Die Vorliebe für Zusammensetzungen mit dem in der niederländischen Sprache als Mehrzahl von „studie“ nicht üblichen Begriff „studies“ deutet auf den beginnenden Hang zu angelsächsischen Tendenzen an niederländischen Universitäten hin, und zwar mehr als zehn Jahre, bevor ab 2002 das Bachelor- und Mastersystem übernommen wurde. Die Spezialisierung Kommunikationsgeschichte wurde zur gleichen Zeit, im Studienjahr 1992/93 also, von einer Spezialisierung wie den eben erwähnten zu einem Spezialstudiengang (vrij doctoraal) mit einem Sonderabschlussexamen verändert. Sie blieb das bis zur Einführung der Bachelor- und Masterstruktur für Kommunikationswissenschaft ab dem Studienjahr 2003/04.

Die mehrmals geänderte, aber immer unstrittene Aufteilung des Studienprogramms nach Spezialisierungen endete erst mit dem Beginn der Bachelor-Master-Struktur für Kommunikationswissenschaft. Gleichzeitig wurde 2003 das Media & Communicatie Instituut (Medien- und Kommunikationsinstitut) für die Lehre der Kommunikationswissenschaft gegründet. Damit wurden die Organisation und die Verantwortung für das Lehrangebot vom Onderwijsinstituut voor Politieke en Sociaal-Culturele Wetenschappen (Unterrichtsinstitut für politische und sozial-kulturelle Wissenschaften) der 1999 gegründeten Faculteit der Maatschappij- en Gedragswetenschappen (Fakultät der Gesellschafts- und Verhaltenswissenschaften) abgekoppelt. Die Kommunikationswissenschaft durfte sich endlich als vollständig selbstständig betrachten. Die Entwicklung zur Verselbständigung der Kommunikationswissenschaft hatte jedoch schon ihren wichtigsten Meilenstein erreicht, als ihr 1992 ein eigenes Propädeutikum zuerkannt worden war.

Schon sieben Jahre nach der Gründung wurde das Medien- und Kommunikationsinstitut aufgelöst. Das neu gebildete College Communication Science übernahm am 1. Februar 2010 seine Aufgaben für die dreijährige Bachelor-Ausbildung. Die Ausbildung zum Master in der Kommunikationswissenschaft, mit einer einjährigen Studiendauer, sowie das zweijährige Studienprogramm für den Research Master Communication Science wurde fortan von der Graduate School Communication Science angeboten.

2. Die Bedeutung von Denis McQuail für die Kommunikationswissenschaft

McQuail blieb der Universität Amsterdam bis zu seiner Emeritierung 1997 treu – insgesamt 20 Jahre. Seine Bedeutung für die Entwicklung der Kommunikationswissenschaft war weit über die Grenzen der Niederlande bekannt: Sein Ruf bekam eine europäische und sogar eine weltweite Dimension. Seine 1983 in der ersten Auflage veröffentlichte Einführung in die Kommunikationswissenschaft Mass Communication Theories. An Introduction (vgl. McQuail 1983) wurde 2000 als McQuail‘s Mass Communication Theory ein Markenname. Als dieses Standardwerk 2010 in der sechsten Auflage erschien (vgl. McQuail 20106), gab der Verlag Sage Publications bekannt, weltweit insgesamt 80.000 Exemplare verkauft zu haben. Die vor allem auf Anregung von McQuail 1986 gegründete Zeitschrift European Journal of Communication leistete einen merklichen Beitrag zur Stärkung der Kommunikationswissenschaft in Westeuropa (vgl. Blumler 2012: 1502).

Claes de Vreese (Foto: privat)

Außerdem trug die Existenz dieser „eigenen“ Fachzeitschrift dazu bei, dass junge Kommunikationswissenschaftler aus McQuails Umfeld auf Englisch zu publizieren anfingen, sodass sie leichter Anschluss an den internationalen kommunikationswissenschaftlichen Diskurs fanden. Auch wurden sie ermuntert, ihre Forschungsergebnisse auf internationalen Tagungen zu präsentieren und in international anerkannten Zeitschriften zu veröffentlichen. Dadurch geriet die Kommunikationswissenschaft an der Universität Amsterdam schon recht früh ins Blickfeld der internationalen scientific community. Auch entdeckten Studenten und Dissertanten Amsterdam in den letzten 20 Jahren immer häufiger als Studienort. So kamen unter anderem Claes de Vreese (Jahrgang 1974) aus Dänemark, seit 2005 Professor für Politische Kommunikation, und Jochen Peter (Jahrgang 1972) aus Deutschland, seit 2011 Professor für Media Entertainment, nach Amsterdam. Bekannte Kommunikationswissenschaftler aus dem Ausland waren eher als früher dazu bereit, sich dort um eine Stelle zu bewerben. Man kann dabei namentlich an die ehemaligen Professoren Holli A. Semetko (Jahrgang 1958) aus den Vereinigten Staten und Klaus Schönbach (Jahrgang 1949) aus Deutschland denken. Semetko lehrte zwischen 1995 und 2003 Kommunikationswissenschaft mit dem Forschungsschwerpunkt Publikumsforschung und öffentliche Meinungsforschung. Schönbach wurde 1998 Professor für Allgemeine Kommunikationswissenschaft. Er wechselte 2009 auf eine Professur für dasselbe Fachgebiet an der Universität Wien. Nicht nur Professoren, sondern auch ausgezeichnete senior associate und associate professors sowie viele postdoctoral fellows fanden vorübergehend oder dauerhaft ihre kommunikationswissenschaftliche Aufgabe in Amsterdam.

Holli Semetko (Foto: privat)

Durch die Erfahrung, die mit den beiden freien Studienrichtungen (Massenkommunikation in der sozialwissenschaftlichen Fakultät und Geschichte der Presse, Propaganda und öffentlichen Meinung in der geisteswissenschaftlichen Fakultät) seit 1976 bzw. 1977 gemacht wurde, konnte die Kommunikationswissenschaft dank des fruchtbaren Wirkens von McQuail ab 1985 auf eine solide, vielfältige theoretische Basis gestellt werden. McQuails Bestseller zur Einführung in die Kommunikationswissenschaft wurde ab 1983 Pflichtlektüre für alle Erstsemester der Kommunikationswissenschaft (vgl. McQuail 1983). Bemerkenswert ist, dass im Titel dieses Buches der Begriff Massenkommunikation (mass communication) das Schlüsselwort bildet. McQuail hat niemals eine Änderung seines Lehrauftrags für Massenkommunikation in (allgemeine) Kommunikationswissenschaft gewünscht, obwohl das seit Mitte der 1980er-Jahre nahegelegen hätte. Sein Lehrauftrag lautete zwar unverändert Massacommunicatie (Massenkommunikation), aber in englischsprachigen Veröffentlichungen wird McQuail fast ausnahmsweise als der erste Lehrstuhlinhaber für General Communication Science (Allgemeine Kommunikationswissenschaft) aufgeführt. Er beherrschte tatsächlich ein weites, wenn auch nicht das ganze Feld dieser Disziplin, wie man auch seinem 2002 erschienenen reader entnehmen kann (vgl. McQuail 2002). Ein Beitrag von McQuail wurde gerne als Bestandteil wichtiger Handbücher veröffentlicht (vgl. exemplarisch Downing et al. 2004).

3. Ein „Beobachter“ mit einem Gesamtüberblick im Zentrum des Fachs

McQuail charakterisierte seine selbst gewählte Position gern als die eines Beobachters im Zentrum der Disziplin mit einem Gesamtüberblick über die Kommunikationswissenschaft. Die Art und Weise, wie er die Diversität der für diese Wissenschaft relevanten Theorien und Ansätze in seiner Introduction behandelte, zeugt von seiner Fähigkeit, Entwicklungen im Fach aus der Vogelperspektive zu verfolgen und darüber kritisch zu berichten. Wer die Bibliografie von McQuail betrachtet, ist von seiner Kreativität und seiner Bestrebung beeindruckt, immer wieder neue Themen und Blickfelder zu entdecken und zu bewerten.

1986 schrieb McQuail einen später in überarbeiteter Form nachgedruckten Artikel über commercialism and communication theory (vgl. McQuail 1994). In dieser in zwei Stufen entwickelten Abhandlung über die verschiedenen Bedeutungen von Kommerz im Licht von Theorien über Kommunikation lernt man ein spezielles Interessensgebiet von McQuail kennen. In erster Linie unterscheidet er zwei Prozesse: Der erste Prozess betrifft Verschiebungen der Medienstruktur in Richtung einer marktorientierten, finanziellen Haltung. Der davon zu unterscheidende Prozess bezieht sich auf mögliche Einflüsse auf den Medieninhalt – insbesondere die Entwicklung zu einem oberflächlicheren, konformistischeren und stereotypischen Angebot von Kultur und Information.

Ein zweiter Ansatzpunkt, den McQuail wählt, ist das Unterscheiden zwischen dem ambivalenten und zweiteiligen Charakter der Massenkommunikation. Einerseits dient sie sozialen, kulturellen und politischen Zielen, andererseits aber strebt sie nach gradlinigen wirtschaftlichen Zielen für die betroffenen Medienorganisationen. Die Ausführung der sozialen und kulturellen Aufgaben von Massenmedien – die früher sowohl von Industrieunternehmen als auch von soziokulturellen Einrichtungen ausgeführt wurden – braucht nach McQuails Einschätzung aus dem Jahr 1994 nicht durch Deregulierung und Kommerzialisierung behindert zu werden. Einen wesentlichen Unterschied zwischen Rundfunkorganisationen und Printmedien sieht er nicht: Beide stehen seiner Meinung nach für eine große Diversität an kultureller Produktion. In seinen Veröffentlichungen über media performance (vgl. McQuail 1992, 2013) und accountability (vgl. McQuail 2003) setzte sich McQuail weiterhin mit dieser Thematik auseinander. Damit spielte er auf die durch technische und gesellschaftliche Entwicklungen immer wieder aufflackernde aktuelle Debatte über Medienpolitik an. In seinem Buch über Rezipientenforschung zeigte McQuail (1997) sein soziologisches Interesse: Schon 1969 publizierte er Towards a Sociology of Mass Communication.

Zur kontinentaleuropäischen Tradition der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft hatte der Brite auf dem Amsterdamer Lehrstuhl weniger Affinität als zur angelsächsischen communication science(s). Man kann es bedauern, dass er kein Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft wurde. Er konnte kaum Deutsch, und die Kommunikationswissenschaftler in Deutschland fingen erst ziemlich spät an, auf Englisch zu publizieren.

Forschungsmethoden und -techniken hatten in Amsterdam schon von jeher Beachtung gefunden, aber konnten nun besser an die von McQuail systematisierte Theorieskala angepasst werden. Dennoch gab es für Studenten, Doktoranden und Kollegen eine große Freiheit, im Hinblick auf das gewählte Thema eine geeignete Annäherung (approach) zu entdecken und diese theoretisch zu unterbauen. McQuails undogmatische Haltung förderte ein durch Liberalität gekennzeichnetes Forschungsklima, führte jedoch auch zu einer Fragmentarisierung der Forschungsprojekte und -ergebnisse. Typisch für seine liberale Einstellung ist, dass er keinen Bedarf verspürte, eine Schule zu gründen. Bis zur Gründung der anfangs für Promovenden gedachten Forschungsschule The Amsterdam School of Communication Research (ASCoR) [2] wurde die Wahl von Forschungsthemen von Professoren, anderen Dozenten und Absolventen mit einem Dissertationsvorhaben nach persönlicher Vorliebe bestimmt.

Der damalige Vorsitzende der Abteilung Kommunikationswissenschaft, Van Cuilenburg, ist als founding father des schon innerhalb weniger Jahre erfolgreichen Forschungsinstituts zu betrachten. Er sah die Notwendigkeit koordinierter Forschungsprogramme für die Stärkung der Position der Kommunikationswissenschaft gegenüber den älteren Sozialwissenschaften – insbesondere Psychologie, Soziologie und Politologie – ein. Seine Erwartung erfüllte sich, durch mehr Zusammenarbeit und gezielte Fokusierung auf bestimmte Forschungsschwerpunkte mit mehr Erfolg Drittmittel für größere Projekte und für mehr Doktoranden eintreiben zu können.

Als ASCoR und das ASCoR-Forschungsprogramm im September 1997 offiziell der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, war dieses Ereignis zur gleichen Zeit Anlass für die scientific community der niederländischen und flämischen Kommunikationswissenschaftler, mit einem Symposium von McQuail Abschied zu nehmen. Die Proceedings of the ASCoR Opening Conference erschienen als erste Veröffentlichung des neuen Forschungsinstituts (vgl. Van Cuilenburg/Zwier 1998). Der Emeritus kehrte nach Großbritannien zurück, kam jedoch öfter aus verschiedenen akademischen Anlässen nach Amsterdam zurück – insbesondere bis zu seinem 70. Lebensjahr in der Rolle des Betreuers von Promovenden. Er wurde der erste Honorary Fellow of ASCoR. Es handelt sich bei diesen honorary fellows um „senior researchers with a strong international reputation“, die „temporary serve with ASCoR and work with ASCoR faculty members on research projects, publications, and PhD candidate supervision“. 2014 sind es insgesamt elf fellows, namentlich die folgenden emeritierten Professoren: Kees Brants, Fred Bronner, Cees J. Hamelink, Joan M. H. J. Hemels, Loet Leydesdorff, Denis McQuail, Jan J. van Cuilenburg und Cees van der Eijk sowie die noch außerhalb der Amsterdamer Kommunikationswissenschaft tätigen Professoren Klaus Schönbach, Holli A. Semetko und Wouter van der Brug.

Seit 2007 gibt es den ASCoR Denis McQuail Award, „offered for the best article advancing communication theory published in a peer-reviewed journal in the previous year“. Bis 2013/14 wurden W. James Potter, James Webster, Robert LaRose, Kelly M. Garrett, Christina Archetti, Michael D. Slater und Matthew A. Baum ausgezeichnet. Der als erster erwähnte Autor wird für ein Jahr The McQuail Honorary Fellow at ASCoR und er oder sie wird außerdem nach Amsterdam eingeladen, um The McQuail Lecture zu halten. Bis zum Jahr 2013/14 wurden sieben (ausländische) Wissenschaftler ausgezeichnet (Annual Report 2013: 61).

Die 2003 zum ersten Mal von einem international visiting professor at the Department of Communication Science of the University of Amsterdam gehaltene The Kurt Baschwitz Lecture, verbunden mit The Kurt Baschwitz Chair [3], geriet in den Hintergrund. Seit 2005 werden The Baschwitz Faculty Article of the Year Award und die Baschwitz Young Scholar Article of the Year Award von ASCoR verliehen. In der Entwicklung der Kommunikationswissenschaft an der Universität Amsterdam verdienen Baschwitz und McQuail dauerhaft einen Ehrenplatz.

Anmerkungen

  • 1 Es handelte sich dabei um ein als „houder van een onderwijsopdracht“ (Inhaber eines Lehrauftrags) bezeichnetes, recht seltsames Lehramt an einer Universität, womit das Gehalt, aber nicht der Titel eines Professors verbunden war.
  • 2 Im Jahr 2009 fiel das „s“ aus „Communications“ weg und wurde fortan „Communication“ geschrieben.
  • 3 Anlässlich der ersten Kurt Baschwitz Lecture, gehalten von James R. Taylor, emeritierter Professor der Universität von Montreal, erläuterte Wim Elving (2004) die Bedeutung von Baschwitz für das Studium der Massenkommunikation an der Universität Amsterdam und stellte ihn Taylor vor als „one of the world’s leading theorists in the field of organizational communication“.

Literaturangaben

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  • Jay G. Blumler: There are values at stake. In: International Journal of Communication Vol. 6 (2012), Feature, S. 1498-1506.
  • Jan van Cuilenburg: Access and Diversity in Communications and Information: Some Remarks on Communications Policy in the Information Age. In: Jan van Cuilenburg/Sandra Zwier (Hrsg.): Proceedings of the ASCoR Opening Conference 1997. Amsterdam: ASCoR 1998, S. 69-82.
  • Jan van Cuilenburg/Sandra Zwier (Hrsg.): Proceedings of the ASCoR Opening Conference 1997. Amsterdam: ASCoR 1998.
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  • Joan Hemels: De journalistieke eierdans. Over vakopleiding en massacommunicatie. Assen: Koninklijke Van Gorcum & Comp 1972.
  • Joan Hemels: Massamedia als medespelers. Toegang tot het studieveld van de massacommunicatie. Utrecht/Antwerpen: Uitgeverij Het Spectrum 1982.
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  • Joan Hemels (Hrsg.): Kwartiermakers voor communicatiegeschiedenis. Een hommage aan dr. Maarten Schneider bij gelegenheid van zijn tachtigste verjaardag. Amsterdam: Otto Cramwinckel Uitgever 1993.
  • Joan Hemels: Maarten Schneider, Keulen 31 maart 1913 – ‘s-Gravenhage 25 april 1998. In: Jaarboek van de Maatschappij der Nederlandse Letterkunde te Leiden, 1997-1998. Leiden: Maatschappij der Nederlandse Letterkunde 1999, S. 151-160.
  • Joan Hemels: Hendericus Johannes Prakke. In: Jaarboek van de Maatschappij der Nederlandse Letterkunde te Leiden 1999/2000, S. 110-128.
  • Joan Hemels: Een journalistiek geheim ontsluierd. De Dubbelmonarchie en een geval van dubbele moraal in de Eerste Wereldoorlog. Met bijdragen van Esther van Bochove, Sacha de Boer, Harmen van der Meulen, Jan de Ridder, Gisela Schöttler, Michael Schmolke en Klaus Schönbach. Met een curriculum vitae van J.M.H.J. Hemels en een bibliografie van zijn publicaties onder eindredactie van Jan van de Voort. Apeldoorn/Antwerpen: Spinhuis Uitgevers 2010.
  • Joan Hemels: Ich habe immer versucht zu vermitteln. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2014. http://blexkom.halemverlag.de/vermitteln/.
  • Joan Hemels/Arnulf Kutsch/Michael Schmolke (Hrsg.): Entgrenzungen. Erinnerungen an Henk Prakke. Mit einer Bibliografie. Assen: Koninklijke Van Gorcum 2000.
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  • Arnulf Kutsch/Stefanie Averbeck-Lietz/Heinz Eickmans (Hrsg.): Kommunikation über Grenzen. Studien deutschsprachiger Kommunikationswissenschaftler zu Ehren von Prof. Dr. Joan Hemels. Berlin: Lit 2014.
  • Gerhard Maletzke: Publizistikwissenschaft zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften. Zum Standort der Wissenschaft von der öffentlichen Kommunikation. Berlin: Volker Spiess 1967.
  • Denis McQuail: Towards a Sociology of Mass Communication. London: Macmillan 1969.
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  • Denis McQuail: McQuail‘s Mass Communication Theory. London: Sage 20106.
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  • N.N.: Communicatiewetenschap. [Broschüre der] „Subfaculteit der Algemene Politieke en Sociale Wetenschappen“. Universiteit van Amsterdam 1986.
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Empfohlene Zitierweise

  • Joan Hemels: Die Konstitutierung des Fachs in Amsterdam. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015. http://blexkom.halemverlag.de/amsterdam/ (Datum des Zugriffs).