Otto Groth

2. Juli 1875 bis 14. November 1965

Lexikoneintrag von Karl-Ursus Marhenke am 1. Oktober 2015

Der Journalist und Privatgelehrte hinterließ ein umfangreiches, in seinem theoretischen Gehalt unterschätztes wissenschaftliches Werk. Sein Erkenntnisinteresse richtete sich auf den medialen Vermittlungsprozess von Alltagswelt-Wissen.

Stationen

Geboren in Schlettstadt (Elsass). Vater Professor für Mineralogie. Mutter Hausfrau. 1895 Studium in München (Jura und Volkswirtschaft). Ab 1900 Journalist beim Beobachter in Stuttgart. 1904 bis 1906 leitender Redakteur der Ulmer Zeitung. 1908 Korrespondent für die Frankfurter Zeitung in Stuttgart. 1915 Promotion. Ab 1920 Korrespondent der Frankfurter Zeitung in München. 1934 Berufsverbot. 1946 bis 1948 Herausgeber der Münchner Schriften. Verheiratet mit Marie Hörlin, drei Kinder. Gestorben in München.

Publikationen

  • Politisch-wirtschaftliches Konversationslexikon. Stuttgart: Levy & Müller 1911 (Herausgeber, gemeinsam mit Henry G. Bayer).
  • Die politische Presse Württembergs. Stuttgart: Scheufele 1915 (= Dissertation).
  • Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik). 4 Bände. Mannheim, Berlin, Leipzig: Bensheimer 1928-1930.
  • Zur Historie der Zeitungswissenschaft. In: Zeitungswissenschaft 6. Jg. (1931), S. 378-383.
  • Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft. Probleme und Methoden. München: Weinmayer 1948.
  • Die unerkannte Kulturmacht. Grundlegung der Zeitungswissenschaft (Periodik). 7 Bände. Berlin: de Gruyter 1960-1972.
  • Allgemeinen Betrachtungen zur Kunstkritik. In: Publizistik 8. Jg. (1963), S. 478-488.

Groth ist Journalist und Privatgelehrter gewesen, ein Praktiker und Theoretiker. In seiner Freizeit saß er oft „schürfend in der Bibliothek“, wie sich ein junger Kollege erinnerte (Fackler 1965: 22). Bis ins hohe Alter hatte Groth „wie besessen geschrieben“ und das „alles per Hand“ (Starkulla 2004: 165-166). Akademisch blieb er ein Außenseiter, einer der „Experten aus dem nichtakademischen Bereich“ (Saxer 1995: 47).

Angeregt durch Max Webers Presse-Enquete begann Groth Anfang der 1910er-Jahre mit der Arbeit an einer Dissertation über Die politische Presse Württembergs. Er wandte darin das bis dahin kaum erprobte quantitativ inhaltsanalytische Verfahren an. Die Arbeit fand unter Zeitgenossen allerdings wenig Beachtung.

Kaum war die Dissertation 1915 veröffentlicht, begann Groth, das verfügbare Wissen über Zeitungen, Journalismus und Verlage für eine Enzyklopädie der deutschen Zeitung zu sammeln. Der erste Entwurf des Werks war fast fertig, als die turbulenten Ereignisse nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine Unterbrechung erzwangen. Groth hatte Frau und drei Kinder zu versorgen. Die Zeitung. System der Zeitungskunde (Journalistik) erschien erst ab 1928 und brachte es bis 1930 auf vier umfangreiche Bände. Fachvertreter reagierten freundlich. Es gab Kritik im Detail. Eine akademische Laufbahn eröffnete sich für den über 50-jährigen Groth mit diesem Grundlagenwerk nicht.

Ab 1934 verschärfte sich dann Groths persönliche Situation. Als Sohn einer Jüdin war er vom Schriftleitergesetz der nationalsozialistischen Reichsregierung unmittelbar betroffen und erhielt Berufsverbot. Groth sprach von einer journalistischen Hinrichtung. Seine Forschung gab er dennoch nicht auf. Unter schwierigen Bedingungen sammelte Groth weiter Material für ein neues Werk. Allerdings war die Beschaffung von Literatur nahezu unmöglich, erinnerte er sich später. Zeitungswissenschaftliche Studien aus dem Ausland und Literatur zum Stand der soziologischen und sozialpsychologischen Forschung blieben während des Zweiten Weltkrieges unzugänglich. Diesen Rückstand konnte der 70-jährige Groth nach 1945 nicht mehr umfassend aufarbeiten.

Nach Ende des Krieges beteiligte sich Groth an der Organisation von Bildungskursen für Journalisten und gab die Münchener Schriften heraus. Für die Professur an einer Universität war er inzwischen zu alt. Sein wissenschaftlicher Eifer blieb dennoch ungebrochen. Zunächst veröffentlichte er 1948 Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft, in der er verschiedene Betrachtungsweisen und Problemfindungen des Fachs kritisch auf ihre begrifflichen und dogmatischen Voraussetzungen hin durchging. In dieser ideengeschichtlich angelegten Bestandsaufnahme hatte Groth bereits eine eigenständige theoretische Begründung der Disziplin ins Auge gefasst. Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft war der Vorläufer des Opus magnum, das die theoretische Grundlage der Zeitungswissenschaft erbringen sollte. Sieben Bände umfasste es schließlich und kam dann ab 1960 unter dem Titel Die unerkannte Kulturmacht. Grundlage der Zeitungswissenschaft (Periodik) heraus, Band 6 und 7 erschienen posthum.

Otto Groth (Quelle: Publizistik 10. Jg.)

Mit diesem Werk trat Groth gegen die historisch-beschreibenden Verfahren der Zeitungswissenschaft und ihre dogmatische Verwendung von Begriffen an. Auch die einseitige Frage nach den Wirkungen der Presse auf die öffentliche Meinung stellte er zurück. Das Fach müsse sich empirisch und analytisch Klarheit sowohl über die immanente Gesetzmäßigkeit der Massenmedien als auch über die Bedürfnisse und Gewohnheiten des Publikums verschaffen, bevor man verlässliche Aussagen über Medienwirkungen machen könne. Groth suchte nach einem eigenen Forschungsansatz. Sein Erkenntnisinteresse richtete sich auf den sozialen Prozess der medialen Vermittlung von Alltagswelt-Wissen. Diesen Vermittlungsprozess umfassend zu beschreiben und zu analysieren, war Groths wissenschaftliches Anliegen. Er selbst nannte es ‚theoretische Forschung‘.

Für seine Theorie befreite Groth fachwissenschaftliche Termini wie Aktualität, Publizität, Universalität und Periodizität von normativen Konnotationen. Er klärte den wissenschaftlichen Gebrauch des Wortes ‚Periodikum‘, führte den Begriff des ‚fluktuierenden Publikums‘ ein, konstatierte den für die Vermittlung notwendigen fragmentarischen Charakter massenmedialer Inhalte und beschrieb die gesellschaftliche Reziprozität im Verlauf des Vermittlungsprozesses, in dem Mediennutzer als Personen oder Gruppen bestimmte Ziele zu erreichen suchen. Groth verlegte seine Beschreibung und Analyse des medialen Vermittlungsprozesses in einen handlungstheoretischen Zusammenhang. Handelnde Personen und Gruppen seien in eine Lebenswelt gestellt, mit der sie ununterbrochen in Beziehung stünden und zu der sie immer auch Stellung nehmen müssten. Das für die Stellungnahme notwendige Alltagswelt-Wissen werde in modernen Kulturgesellschaften hauptsächlich durch vermittelnde Massenmedien bereitgestellt. Seine theoretischen Einsichten in den medialen Vermittlungsprozess gewann Groth anhand der Inhalte und Nutzungsweisen von Zeitungen und Zeitschriften. Neue Medien wie den Rundfunk erwähnte er nur am Rande, schloss sie aber nicht grundsätzlich von der Beschreibung und Analyse des Vermittlungsprozesses aus. Damit bewegte Groth sich auf den heute noch gängigen Forschungsgebieten der Inhaltsanalyse und Mediennutzungsforschung. Allerdings wich er immer wieder von seinem rein theoretischen Forschungsvorhaben ab und schloss äußerst umfangreiche, geisteswissenschaftlich inspirierte Darstellungen zu Wesen und Funktion der Massenmedien im kulturgesellschaftlichen Ganzen und seinen Subsystemen an.

Otto B. Roegele (links) überreicht Otto Groth eine Urkunde über die Ernennung zum Ehrenmitglied der DGPuZ (Quelle: Privatarchiv Heinz Starkulla junior)

Sieht man von einigen Bezügen ab, mit denen Hans Wagner einen eigenständigen Forschungsansatz für die Zeitungswissenschaft ausweisen wollte, hat die theoretische Forschung Groths kaum Wirkung entfaltet. Der wissenschaftliche Gehalt seines Werks war durch die „oft widerspenstige Terminologie“ (Wagner 1989: 120) nur schwer zugänglich. Groths eigenwilliger Sprachgebrauch und seine oft ausufernden Darstellungen verstellten seine eigenständige Analyse des medialen Vermittlungsprozesses. Wolfgang R. Langenbucher kompilierte die aus seiner Sicht wichtigsten Passagen unter dem Leitbegriff der ‚vermittelten Mitteilung‘, erfasste damit Groths Erkenntnisinteresse an der medialen Vermittlung von Alltagsweltwissen aber nur unzureichend. So blieb das Werk Die unerkannte Kulturmacht lediglich eine „eminent historische Quelle“. Sein Potenzial als „intellektuelle Provokation“ (Langenbucher 1998: 174, 184) lag weiter brach. Andere Fachvertreter hatten Groths Theoriebildung ohnehin schon sehr früh für „wissenschaftsgeschichtlich vollkommen obsolet“ (Lerg 1977: 10) gehalten. Gelegentlich wurde und wird unterstellt, dass Groth auf eine „normativ-ontologische Zeitungswissenschaft hinaus will“ (Weischenberg 2014: 224). Weniger apologetisch kam Carsten Brosda (2008: 148) dagegen zur methodologisch Einsicht, dass Die unerkannte Kulturmacht eine „Heuristik der Vermittlung“ enthält. Groth arbeitete im Zuge seiner Theoriebildung mit Analogien, Assoziationen, Wahrscheinlichkeitskalkülen und Generalisierungen. Er versuchte, schlüssige Aussagen über den Verlauf des medialen Vermittlungsprozesses zu formulieren und zu ergründen, worin der kulturgesellschaftliche Sinn der Vermittlung von Alltagsweltwissen liegen könnte.

Literaturangaben

  • Carsten Brosda: Diskursiver Journalismus. Journalistisches Handeln zwischen kommunikativer Vernunft und mediensystemischem Zwang. Wiesbaden: VS Verlag 2008.
  • Maxim Fackler: München Perusastrasse Nr. 5. Erinnerungen an das Jahr 1930. In: Günther Kieslich/Walter J. Schütz (Red.): Festschrift für Otto Groth. Bremen: Heye 1965, S. 22-24.
  • Wolfgang R. Langebucher: Otto Groth – Vermittelte Mitteilung. Ein journalistisches Modell der Massenkommunikation. München: Fischer 1998.
  • Winfried B. Lerg: Pressegeschichte oder Kommunikationsgeschichte? In: Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. München: Verlag Dokumentation 1977, S. 9-24.
  • Ulrich Saxer: Von wissenschaftlichen Gegenständen und Disziplinen und den Kardinalssünden der Zeitungs-, Publizistik-, Medien- und Kommunikationswissenschaft. In: Beate Schneider/Kurt Reumann/Peter Schiwy (Hrsg.): Publizistik. Beiträge zur Medienentwicklung. Konstanz: UVK 1995, S. 39-55.
  • Heinz Starkulla: Es hat sich gelohnt, ein bisschen daran zu arbeiten. In: Michael Meyen/Maria Löblich (Hrsg.): 80 Jahre Zeitungs- und Kommunikationswissenschaft in München. Baustein zu einer Institutsgeschichte. Köln: Herbert von Halem 2004, S. 155-169.
  • Hans Wagner: Kommunikationswissenschaft (Zeitungswissenschaft). Das Fach. Das Studium. Die Methode. München: Publicom 1989.
  • Siegfried Weichenberg: Max Weber und die Vermessung der Medienwelt. Empirie und Ethik des Journalismus. Eine Spurenlese. Wiesbaden: Springer VS 2014.

Weiterführende Literatur

  • Karl-Ursus Marhenke: Die periodikalische Vermittlung von Wissen. Otto Groth und seine theoretische Forschung. Eine rationale Rekonstruktion. Leipzig: Unveröffentlichtes Manuskript 2008. (= Dissertation).

Weblink

Empfohlene Zitierweise

    Karl-Ursus Marhenke: Otto Groth. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015. http://blexkom.halemverlag.de/otto-groth/ ‎(Datum des Zugriffs).